Tag: 16. Juni 2023

24/2023: Josephine Ho, 16. Juni 1951

Josephine Hos akademische Laufbahn ist beeindruckend: Zuerst studierte sie an der National Chengchi University in Taipeh Western Language and Literature und schloss 1972 mit einem Bachelor of Art ab. Anschließend machte sie 1975 ihren Master of Science in Erziehungswissenschaft an der University of Pennsylvania, einen Doctor of Education in Linguistik an der University of Georgia 1981 und schließlich 1992 noch einen Doctor of Philosophy in Englisch an der Indiana University of Pennsylvania.

Bereits seit den 1990er Jahren – kurz, nachdem Taiwan von einem Einparteiensystem in eine Demokratie überging, siehe unten – trat Ho als Frauenrechtsaktivistin in Erscheinung. Nachdem 1989 der erste taiwanische Gerichtsprozess wegen sexueller Belästigung geführt wurde, organisierte sie im Mai 1994 die erste Demonstration gegen sexuelle Belästigung in Taiwan, die unter dem selbstbewussten Slogan lief: „Wir wollen keine Belästigung, wir wollen Orgasmen. Wenn ihr uns weiter sexuell belästigt, schneiden wir ihn mit der Schere ab!“ Sie begründete 1995 das Center for the Studies of Sexualities an der Nationalen Zentraluniversität in Taipeh, in dem zu den Themen Gender, sexuelle Aufklärung und sexuelle Selbstbestimmung, Sexarbeit und Transgeschlechtlichkeit geforscht wird; sie selbst schrieb 15 Bücher zur taiwansischen Gender- und Sexualtitätsforschung. Seit 2006 ist sie an der Universität Professorin, seit 2010 leitet sie das Forschungszentrum.

Ho gilt – neben ihrem Aktivismus auch für die Friedensbewegung, die Anti-Globalisierungsbewegung, gegen Atomkraft und für Menschenrechte – als Begründerin der taiwanischen Queer-Bewegung. Auf der Webseite ihres Forschungszentrums informiert sie über die diversen Themen der Sexualrechtsbewegung – dafür wird sie insbesondere über diese Webseite von Gegnern angegriffen. 2003 klagte eine konservativ-christliche Organisation gegen sie, weil sie angeblich über Zoophilie nicht nur informiere, sondern diese ausdrücklich befürworte. Tatsächlich enthielt die Webseite Artikel zu diesem Thema als Teil der Sexualforschung, die Seite wurde gesperrt. Ein Netzwerk aus Studierenden, Wissenschaftlerys und Aktivistys bildete sich und konnte mit Unterstützung einer internationalen Petition einen Gewinn für die Informationsfreiheit erlangen und die Aufhebung der Sperre erreichen.

Für ihren Einsatz für die Frauenrechte, aber auch die Rechte der LGBTQIA+-Bewegung war Josephine Ho eine von 1.000 Frauen, die 2005 für den Friedensnobelpreis nominiert wurden.


Um Josephine Hos Aktivismus einzuordnen, finde ich es hilfreich, auch die Geschichte Taiwans kurz darzustellen, für alle, die wie ich noch nicht so viel darüber wissen. (In der März-Ausgabe der GEO wurde die Geschichte und aktuelle Lage der Insel vor dem chinesischen Festland wie immer spannend erzählt, ich kann den Artikel sehr empfehlen. Ich habe ein Print-Abo, zugegebenermaßen.)

Die Urbevölkerung Taiwans gehört zu den austronesischen Völkern und betrieb wirtschaftlichen Austausch mit den Völkern auf den Philippinen und dem chinesischen Festland. In der europäischen Geschichte taucht Taiwan zuerst 1583 auf, als die Portugiesen die Insel entdecken, die sie (Ilha) Formosa, die Schöne (Insel), nennen. 1624 besetzen niederländische Seeleute und Händler den Süden, zwei Jahre später lassen sich spanische Händler im Norden nieder. Die niederländischen Kolonisatoren werben verstärkt Siedler vom chinesischen Festland an, was zu mehreren Immigrationswellen führt – die Nachfahren der eingewanderten Han-Chinesen bilden heute die Mehrheit der taiwanischen Bevölkerung. Die austronesische Urbevölkerung geht zu großen Teilen in dieser Bevölkerung auf, nur in einigen unzugänglichen Bergregionen bleiben indigene Völker bis ins 20. Jahrhundert davon unberührt. Die Niederländer führen in der von ihnen regierten Region die christliche Religion und das europäische Schulsystem ein. 1661 verdrängt der chinesische Kaufmann/Pirat Zhen Chenggong die Niederländer von Formosa und gründet dabei das (chinesische) Königreich Tungning – auch er holt in mehreren Wellen Festlandchinesen auf die Insel. Dieses wird 1683 vom Festland-Königreich der Qing-Dynastie besiegt und Taiwan dem Königreich als Teil einer Festland-Provinz einverleibt. Die Insel ist daraufhin 200 Jahre lang chinesisch.
Nachdem China den ersten japanisch-chinesischen Krieg 1895 verloren hatte, musste es die Penghu-Inseln zwischen Tawian und dem Festland an Japan abtreten. Daraufhin rief die Provinzregierung auf Taiwan die Republik Formosa aus; Japan musste die Insel in einem mehrmonatigen Kampf erobern. Bis 1945 blieb Taiwan japanische Kolonie, in dieser Zeit versuchte die Besatzungsmacht, den Shintoismus als Staatsideologie (und -religion) einzuführen und ‚zivilisierte‘ die restliche indigene Bevölkerung, etwa indem die noch übliche Kopfjagd abgeschafft wurde.
In einer Erhebung 1919 bestand die Bevölkerung dieser Zeit aus (ungefähr) 3 Millionen Han-Taiwanys (Nachfahren der eingewanderten Han-Chinesen), 100.000 Japanern und 120.000 indigenen Taiwanys.
Mit der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg wurde die Insel wiederum in die inzwischen eingerichtete Republik China eingegliedert; die republikanischen Truppen wurden auf Taiwan zunächst freudig begrüßt, doch stürzten die Taiwanys die Regierung der Kuomintang 1947 nach dem starkem wirtschaftlichem Niedergang (die schwelende Unzufriedenheit im Volk aufgrund der Korruption und gewaltbereiten Regierung brach sich nach einem Massaker Bahn, dessen genaues Ausmaß noch heute nicht vollständig bekannt ist). Als die Republik 1949 im Bürgerkrieg zwischen den Kuomintang (KMT) und den Kommunisten zerbrach, floh die KMT-Regierung um Chian Kai-shek nach Taiwan und richtete Taipeh als Hauptstadt der Republik China (Taiwan) ein. Mit ihnen flohen etwa 1,5 Millionen Chinesen vom Festland auf die Insel, die heute ungefähr 14% der Bevölkerung Taiwans ausmachen.
In den folgenden vierzig Jahren blieb Taiwan von der KMT als einzige Partei regiert. Erst 1987 wurde das Kriegsrecht aufgehoben, eine Oppositionspartei – die Demokratische Fortschrittspartei – wurde zu Wahlen zugelassen und regierte seitdem Jahr 2000 abwechselnd mit der KMT. Seit dem Aufbrechen des Einparteiensystems erhält auch die indigene taiwanische Sprache wieder Raum und das Bestreben, die ursprüngliche Kultur des Inselvolkes wiederzuentdecken und zu bewahren.

Dies ist selbstverständlich nur ein sehr kurz gefasster, Details sparender Überblick, die Verlinkungen können zur Vertiefung dienen.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch

Tanja – Tagebuch einer Guerillera

DE 2023, Regie: Marcel Mettelsiefen, mit Tanja Nijmeijer, Janneke Stuulen, Jineth Bedoya, Jorge Enrique Botero u.a.

Wie kommt eine junge Frau aus dem niederländischen Bürgertum, Lehrerin von Beruf, in die Ränge der FARC – der kolumbianischen Guerilla – im kolumbianischen Dschungel? Und nein, sie wurde nicht entführt.

Tanja Nijmeijer selbst schildert ihren Weg mit einer Selbstverständlichkeit, der wir uns kaum entziehen können: Sie ging nach Kolumbien, um dort Kindern aus den Armenvierteln Englisch beizubringen. Sie erfuhr vom Kampf der ehemaligen Bauernbewegung FARC, die zu einer Guerilla-Armee geworden war, um sich kriegerisch gegen die korrupte und ausbeuterische Regierung zu wehren. Und weil sie die Position der FARC für richtig hielt und den Wunsch hatte, in der Welt etwas zum Kampf für das Gute beizutragen, schloss sie sich ihnen an, als Übersetzerin, Kämpferin und später als Delegierte für die Friedensverhandlungen. Es klingt so einfach und ist doch ein so schwer nachvollziehbarer Sprung in eine völlig andere, handgreiflich politische Welt als unser die unseres europäischen Verhandlungsdiskurses.

Der Dokumentarfilm von Marcel Mettelsiefen nähert sich seiner Protagonistin zunächst aus der Sicht der kolumbianschen Presse, lässt Nijmeijer, ihre beste Freundin und ihre Mutter zu Wort kommen und stellt sowohl die politische Situation in Kolumbien, wie auch deren Akteure und die Individuen darin, einschließlich Nijmeijer, als vielschichtig und ambivalent dar. Dass sowohl die Regierung Kolumbiens wie die FARC schreckliche Verbrechen begangen hat, dass beide Seiten sich auf unlautere Koalitionen mit anderen Regierungen und Drogenhändlern einließen, ist ebenso wahr, wie dass Nijmeijer als Mitglied der FARC als Terroristin betrachtet werden kann, dass sie für ein politisches Ideal zum Kampf bereit war und dass die Veröffentlichung ihrer Tagebücher – eigentlich ein unerhörter Eingriff in ihre Privatsphäre – sie in Gefahr brachten.

Als Betrachterin blieb ich ebenso ambivalent zurück: Sympathisch fand ich sie, bewundernswert für diese Entschlusskraft; vielleicht naiv, verblendet für die Vorstellung, sie könnte sich einer solchen Armee anschließen und nicht als Beteiligte an deren Taten betrachtet werden. Ihren Wunsch, aus der kleingeistigen, friedlichen und ereignislosen Welt der niederländischen Kleinstadt auszubrechen und mehr zu tun, mehr zu erreichen als mit Worten politische Haltung zu beziehen kann ich nachfühlen. Ihre Schilderung der unreifen, chauvinistischen und auch wieder oft eintönigen Welt des Guerillacamps im Dschungel hat mich amüsiert. Dennoch bleibt ein Unverständnis, denn da ist eben die Radikalität, mit der Nijmeijer ihrem Gewissen folgte, die auf unserer Seite der Welt fehl am Platz wirkt.


All das ist sicher diskutabel, denn ich bin selbst mit diesen Gedanken noch nicht zu Ende – als Anstoß für Gedanken über Ideale, welche Mittel der Zweck heiligt, welche Verantwortung Individuen für die Handlungen eines Kollektivs tragen, ob in unserer Politik, in unserem Leben die Radikalität fehlt, dafür ist der Film sicherlich hervorragend.


WEG MIT
§218!