frauenfiguren

48/2023: Laura „Lau“ Mazirel, 29. November 1907

Geboren und zu Teilen aufgewachsen im Dorf Gennep, das im Osten and Kleve und Goch grenzt, lernte die Tochter eines Eisenbahners und einer Lehrerin von früh auf Niederländisch und Deutsch. Ihre Eltern waren Pazifisten und sie erzogen ihr einziges Kind auch mit dieser Geisteshaltung. Als Laura zehn Jahre alt war, zog die Familie nach Utrecht, wo sie nach der weiterführenden Schule ebenfalls als Lehrerin arbeitete, während sie in der Abendschule Jura und Psychologie studierte. Nachdem sie darin ihren Abschluss gemacht hatte, machte sie eine Wanderung nach Spanien (möglicherweise den Jakobsweg nach Santiago de Compostela?).(1)

Von 1930 an lebte sie in Amsterdam, wo sie zunächst als Lehrerin und Reiseleiterin arbeitete. Sie schloss sich der sozialistischen Kommune ‚Roode Kloster‚ an, engagierte sich im Sociaal Demokratischen Studentenclub (Sozialdemokratischer Studentenclub, SDSC) und in der Sociaal-Democratische Arbeiderspartij (Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP), außerdem beriet sie das Medisch Opvoedkundig Bureau (Büro für medizinische Bildung) in Rechtsfragen. Sie ging – als Gegnerin der traditionellen Ehe mit all ihren Konsequenzen für die Rechte der Ehefrau – eine ‚freie Ehe‘ mit einem Mann ein; diese ‚freie Ehe‘ schloss sie durch Bezeugung des Bündnisses vor Freunden, zwei Söhne gingen aus der Ehe hervor.

Mit 30 Jahren eröffnete sie 1937 ihr eigenes Rechtsanwaltsbüro; hier vertrat sie vor allem Klienten, die aufgrund des §248 verfolgt wurden, der homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Minderjährigen strafbar machte – als minderjährig galten zu dieser Zeit Menschen unter 21 Jahren. Der andere Teil ihrer juristischen Arbeit galt der Unterstützung von Flüchtlingen – darunter die zahlreichen Juden und Sinti*ze und Rom*nja, die vor dem faschistischen Regime aus Deutschland in die Niederlande geflohen waren. Sie half bei der Regelung von Familienangelegenheiten, und bei Problemen mit der Ausländerbehörde. Im gleichen Jahr, in dem sie ihr Büro eröffnete, wohnte sie auch einem Kongress auf der Weltausstellung in Paris bei, auf dem sie von der Theorie und der Planung der ‚Rassenhygiene‚ durch deutsche Wissenschaftler hörte und sogleich verstand, welche Folgen das für Juden und Sinti und Roma haben würde. Um sich selbst ein Bild zu machen, besuchte Mazirel ein ‚Entlausungscamp‘ für Rom*nja in Deutschland und fotografierte die Zustände dort. Als sie in die Niederlande zurückkehrte, versuchte sie, die Behörden und jüdischen Institutionen davor zu warnen, persönliche Angaben wie Religion und Interessen behördlich registrieren zu lassen, weil sie verstand, dass dies die staatliche Verfolgung aufgrund dieser Angaben erleichtern würde. Ihre Warnung fanden jedoch kein Gehör.

Nachdem im Mai 1940 Deutschland die Niederlande besetzte, war Laura Mazirel im Widerstand aktiv. Ihr Rechtsanwaltsbüro blieb weiterhin Anlaufstelle für Homosexuelle und Flüchtlinge und diente als Tarnung für die Weiterleitung von Informationen, die Kontaktaufnahme und die Organisation von Unterkünften von Menschen im Widerstand. Mazirel schloss sich den ‚Vrije Groepen Amsterdam‚ an; unter der Identität der Säuglingsschwester Noortje Wijnands war sie im Untergrund aktiv, während sie als Anwältin Laura Mazirel – die sehr gut Deutsch sprach – in Kontakt kam mit hochrangigen deutschen Militärs wie Ferdinand aus der Fünten. Aufgrunddessen wusste sie, was mit den Deportierten geschehen würde. Sie brachte Juden bei sich unter und gab jedes Jahr ein Neugeborenes einer jüdischen Familie bei den Behörden als ein eigenes an. Auch gehörte sie zur Gruppe um Walter Süskind, die Kinder aus der Hollandsche Schouwburg rettete, und sie soll noch auf den Gleisen des Bahnhofes oder aus bereits abgefahrenen Zügen Kinder aus den Waggons geholt haben. Ihr jüdischer Ehemann und ihre zwei Söhne – nach den deutschen ‚Rassengesetzen‘ ebenfalls Juden – mussten 1942 untertauchen.(1)

Im Folgejahr war Mazirel an dem Anschlag auf das Einwohnermeldeamt Amsterdam beteiligt, bei dem zahlreiche Personendaten zerstört und entwendet werden konnten. Die deutschen Besatzer hatten 1941 Personalausweise mit Bild und Fingerabdruck eingeführt, und dies erleichterte, wie Mazirel bereits früh geahnt hatte, die Verfolgung, Aushebung und Deportation von Juden, Sinti*ze und Rom*nja, Homosexuellen und anderen im Faschismus unerwünschten Personen. Mazirel wollte bei dem Anschlag vor Ort sein, doch Gerrit van der Veen hielt sie für nicht glaubwürdig in einer Polizeiuniform – die Verkleidung, mit der sich die Gruppe Einlass in der Behörde verschaffte. Außerdem fand er, sie könne als Anwältin noch andere, wichtigere Aufgaben für den Widerstand erfüllen. Die Aktion war ein großer Erfolg: Das Zentralregister für ganz Amsterdam war in der ehemaligen Konzerthalle des Amsterdamer Zoos Artis untergebracht; die Widerständler*innen konnten eindringen und Feuer in der Kartothek legen. Die – hauptsächlich niederländisch besetzte – Feuerwehr trug anschließend ebenfalls zum Erfolg des Einsatzes bei, indem sie sich Zeit ließ mit dem Eintreffen und dann auch noch wesentlich mehr Wasser als nötig einsetzte. Was an Dokumenten nicht verbrannte, erlitt so einen Wasserschaden. 800.000 Karteikarten zu Amsterdamer Bürgern wurden zerstört, außerdem konnte die Gruppe 600 Blankoausweise zum Fälschen entwenden sowie 50.000 Gulden. Der Erfolg des Anschlags diente der Stärkung des Widerstands ebenso, wie er die Erfassung und somit Deportation von Verfolgten massiv erschwerte.

Elf der Beteiligten konnten in den kommenden Monaten aufgrund von Verrat verhaftet werden, sie wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Eine der Widerständler*innen, Frieda Belinfante, konnte der Verfolgung entkommen, indem sie sich als Mann verkleidete. Gerrit van der Veen wurde im nächsten Jahr ebenfalls aufgegriffen, verurteilt und hingerichtet. Mazirel besuchte ihn am Tag vor seinem Tod, er soll zu ihr gesagt haben, sie möge der Welt erzählen, dass Homosexuelle ebenso mutig sein können wie alle anderen. Ihre Antwort darauf: „Als Frau weiß ich, dass das Geschlechts nichts mit Mut zu tun hat.“(1)

1944 wurde auch Laura Mazirel von den Deutschen verhaftet. Sie wurde zwar nach sechs Wochen wieder auf freien Fuß gesetzt, weil ihre Akte verschwunden war und somit unklar, was ihr vorgeworfen wurde. Doch sie erlitt in dieser Zeit Misshandlungen, die den Rest ihres Lebens Folgen für ihre Gesundheit haben sollten.

Nach dem Krieg setzte Mazirel ihre Arbeit als Rechtsanwältin in Fragen zu Einbürgerung und Namensänderung fort. Sie trat für die Rechte der LGBTQIA+Community ein und kämpfte für das Recht auf Abtreibung. Sie wurde Mitglied der Partij van de Arbeid, trat dort aufgrund der Haltung zu den ‚Polizeiaktionen‘ in Indonesien jedoch wieder aus. Mit Robert Hartog, den sie im Untergrund während des Zweiten Weltkriegs kennengelernt hatte, ging sie eine notarielle Ehe und bekam einen Sohn von ihm. Mitte der 1950er Jahre zwang ihr Gesundheitszustand sie dazu, ihren Beruf aufzugeben; die Familie zog nach Frankreich aufs Land. Sie trat 1957 noch, kurz nach deren Gründung, der Pacifistisch Socialistische Partij bei. 1973 kam ihr jüngster Sohn bei einem Autounfall ums Leben, sechs Monate später starb Laura Mazirel, kurz vor ihrem 67. Geburtstag.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) Resources Huygens, Vrouwenlexicon

47/2023: Erica Malunguinho, 20. November 1981

Die Region Brasiliens, in der Erica Malunguinho geboren wurde und aufwuchs, ist geprägt von der Kultur aus Afrika nach Südamerika verschleppter Sklaven. In Recife, Hauptstadt der Provinz Pernambuco im Nordosten des Landes, machen PoC einen Großteil der Bevölkerung aus; Água Fria, der Stadtteil, in dem Malunguinhos Familie lebte, ist eine vornehmlich von Schwarzen bewohnte Nachbarschaft. Ihre Mutter war gebildet und arbeitete als Krankenpflegerin, sie sorgte auch für Ericas gute Ausbildung. Die Musik und Ästhetik des Jurema Sagrada* hatte starken Einfluss auf Malunguinhos künstlerische Entwicklung. Gleichzeitig erlebte sie nicht nur Rassismus, sondern auch Colorismus – hierarische Abwertung innerhalb der Schwarzen Gemeinschaft aufgrund dunklerer Haut.


*Jurema ist eine in Brasilien heimische Akazienart, die in diesem Kult als heilig (‚sagrada‚) gilt; der Baum liefert mit Holz und Blättern Baumaterialien, und Getränke, Aufgüsse und Salben aus seinen Bestandteilen werden für rituelle Handlungen verwendet. Die Religion vereint den Naturglauben der indigenen brasilianischen Bevölkerung mit der afrikanischen Religion der Yoruba sowie dem Katholizismus.


Nach der weiterführenden Schule ging Malunguinho nach São Paulo. Die räumliche Veränderung und das Studium der Kunstgeschichte und der Ästhetik gehörten zu einer Befreiung, bei der sie auch ihre Genderidentität erkannte und akzeptierte. Sie begann ihre Transition und wählte ihren Namen: ‚Malungo‘ ist ein Bantu-Wort, das eine*n Reisegefährt*in bezeichnet, ‚-inho‚ ist die portugiesische Verniedlichungsform.

Bereits während ihres Studiums bezog Malunguinho ein Studio im Stadtbezirk Campos Eliseos, von dem aus sie als Künstlerin in vielen Kunstformen tätig ist; im Laufe der Zeit baute sie ihr Studio zu dem Kulturzentrum ‚Aparelha Luzia‚* aus, in dem vornehmlich Schwarze Kunst, Unterhaltung und Politik zusammenkommen. Es dient als safe space für von Diskriminierung Betroffene, sowohl aufgrund der Hautfarbe wie auch der Orientierung und Identität – ein Knotenpunkt für Bildung, Austausch und gegenseitige Unterstützung, frei zugänglich für alle.


*Aparelho waren Zellen des zivilen Widerstand gegen die Militärdiktatur von 1964 bis in die 1980er Jahre; Malunguinhos Kulturzentrum versteht sich als ein solches Zentrum des zivilen Widerstands mit einer weiblichen Basis, weshalb es ‚aparelha‘ heißt. Luzia ist der Name eines der ältesten Skelette, die audf dem Kontinent gefunden wurden, ein Fossil der frühesten Einwohner Südamerikas. Den Brand des Nationalmuseums 2018 überstand zumindest der Schädel und einige Teile ihrer weiteren Überreste.(1)

Malunguinho bezeichnet das ‚Aparelha Luzia‚ auch als ein ‚quilombo‚: Dies waren, zum Teil wehrhafte, Siedlungen geflohener Sklaven in Brasilien, in denen sich eben solche Kulturen wie die der Jurema Sagrada entwickeln konnten. Malunguinho nimmt damit Bezug auf die Fähigkeit und den Willen der maroons, ihre eigene Gesellschaft nach ihrer Tradition und ihren Vorstellungen aufzubauen.


Es war die Ermordung der Politikerin Marielle Franco, die Erica Malunguinho dazu bewegte, sich aktiv politisch zu betätigen. Für die Partido Socialismo e Liberdade (Partei für Sozialismus und Freiheit) trat sie 2018, unterstützt vom Kollektiv des ‚Aparelha Luzia‚, für die Parlamentswahlen für den Bundesstaat São Paulo an und gewann einen Platz, am gleichen Tag, an dem Jair Bolsonaro zum Präsidenten des Landes gewählt wurde. (1) Sie war die erste trans* Frau, die in Brasilien in ein Parlament gewählt wurde. Ihr politisches Programm richtet sich vor allem gegen Rassismus und die Diskriminierung von Menschen in der LGBTQIA+Gemeinschaft, außerdem hat sie es sich zum Ziel gesetzt, Obdachlosigkeit zu bekämpfen, Opfern von sexueller Gewalt eine bessere Versorgung in Krankenhäusern zu ermöglichen und den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu erleichtern. Malunguinho möchte dem Publikum in ihrem quilombo auch verdeutlichen, dass das Private politisch ist und dass die Bevölkerung die Politik mitgestalten kann.(1)

Rosa-Luxemburg-Stiftung: Interview mit Erica Malunguinho „Queer sein in Brasilien ist ein Akt der Rebellion“

Quelle Biografie: Wiki englisch
außerdem:
(1) The Nation

46/2023: Ursula Eggli, 16. November 1944

Ursula Egglis Eltern waren einfache Leute im kleinen Schweizer Ort Dachsen, der Vater Arbeiter, die Mutter Kinderschneiderin und Näherin. Ursula kam als ältestes von drei Geschwistern auf die Welt; nachdem sie sich mit dem Laufenlernen schwer tat, benötigte es verschiedene Ärzte, bis die Diagnose Spinale Muskelatrophie (‚Muskelschwund‘) erfolgte. Ihr Leben auf dem Dorf blieb zunächst jedoch relativ idyllisch: Sie wurde von Nachbarskindern und ihrem Bruder Daniel im Kinderwagen geschoben, wenn sie allein war, las sie und dachte sich Geschichten aus. Sie ging auch – als einziges Mädchen unter 24 Jungen – für drei Jahre in die Dorfschule.

Mit neun Jahren jedoch kam sie in ein Heim für behinderte Kinder; ihr zweiter Bruder, Christoph, war ebenfalls mit Muskelatrophie zur Welt gekommen, was die diabeteskranke Mutter belastete; die Dorfschule sah sich ebenfalls von den Anforderungen überlastet. Im Heim beendete Eggli die Schule, danach kehrte sie zunächst nach Dachsen zurück.(1)

Anfang der 1970er Jahre gründete sie mit behinderten und nicht-behinderten Freund*innen eine WG. 1977 veröffentlichte Eggli ihr erstes Buch, ‚Herz im Korsett‘, in dem sie im Tagebuchstil aus dem WG-Leben erzählt. Darin brach sie das Tabu, über sexuelle Bedürfnisse und sexuelles Erleben behinderter Menschen, insbesondere Frauen, zu sprechen.

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung trat Ursula Eggli mit ihren Freund*innen im Dokumentarfilm ‚Behinderte Liebe‘ auf, der ebenfalls die Schwierigkeit schildert, ein ’normales‘ Beziehungs- und Liebesleben zu führen, denen Menschen mit Behinderung gegenüberstehen.

In den 1980er Jahren schrieb Eggli weitere Texte, etwa in der von ihr gegründeten Zeitschrift ‚Puls‘, und Bücher, die jedoch nicht an den Erfolg ihres ersten Buches anschließen. Sie war als Aktivistin für Behindertenrechte und Frauenrechte politisch tätig, hielt Vorträge und leistete soziale Arbeit, etwa Begleitung und Betreuung von Feriencamps für Kinder mit Behinderung.

Sie verliebte sich zum ersten Mal in eine Frau und lebte mehrere Jahre mit dieser Partnerin zusammen; so griff sie in den 1990er Jahren in ihrem politischen Aktivismus auch Homosexuellenrechte auf, auch hier insbesondere Rechte behinderter Homosexueller. Mehrfach nahm sie an den Gesprächen der Homosexuellenbewegung an der Akademie Waldschlösschen in Göttingen teil.(1)

2005 war sie Vizepräsidentin des Schweizer Netzwerk behinderter Frauen ‚Avanti donne‚.

Sie starb am 2. Mai 2008 mit 64 Jahren.

Im Archiv der Behindertenbewegung ist ihr Märchenbuch Freakgeschichten für Kinder und Erwachsene als PDF zum Download zu finden.


Quelle Biografie: Wiki deutsch
außerdem:
(1) Archiv Behindertenbewegung




45/2023: Susie Orbach, 6. November 1946

Der Vater von Susie Orbach war ein britisch-jüdischer Politiker der Labour Party und aktiv im Jüdischen Weltkongress, ihre Mutter, eine amerikanische Jüdin, unterrichtete während des Zweiten Weltkriegs geflüchtete Deutsche in Englisch und arbeitete später als Lehrerin.

Susie wuchs in der Nähe von London auf. In ihrer Ausbildung benötigte sie einige Anläufe, bis sie ihre Berufung fand: Zunächst erhielt sie ein Stipendium für die North London Collegiate School, wurde jedoch mit 15 Jahren von der Schule gewiesen. Trotzdem konnte sie später an der School of Slavonic Studies russische Geschichte studieren; im Jahr vor ihrem Abschluss brach sie das Studium ab, ebenso ein Jurastudium in New York. Erst am Richmond College of Staten Island fand sie in den Women’s Studies ihr eigentliches Interesse. Sie machte 1972 mit 26 Jahren dort ihren Bachelor mit dem höchsten Grad, ein Masterabschluss in Sozialfürsorge folgte zwei Jahre später an der Stony Brook University.

Orbach kehrte nach London zurück und gründete 1976 gemeinsam mit Luise Eichenbaum das Women’s Therapy Centre in London, dem fünf Jahre später gleiches Zentrum in New York folgen sollte.

1978 brachte Susie Orbach ihr Buch ‚Fat Is A Feminist Issue‚ heraus, in dem sie die Diätkultur und deren Wurzeln im Kapitalismus analysierte und kritisierte, 1982 folgte ein zweiter Teil des Buches. In den 1990er Jahren machte Orbach eine psychoanalytische Weiterbildung bei Anne-Marie Sandler; sie wurde außerdem dafür bekannt, dass sie Diana, Prinzessin von Wales, für ihre Essstörung behandelte. Ihren Doktortitel in Psychoanalyse machte schloss sie jedoch erst 2001 mit 55 Jahren ab.

2004 beriet sie Unilever und deren Werbeagentur zur Werbung für Dove – die sich auf die Fahnen schrieb, ihre Kundinnen nicht mehr mit unrealistischen Schönheitsidealen unter Druck zu setzen. Der Clip dazu gewann einen Preis in Cannes; Unilever setzt bei Dove-Werbung heute weiterhin auf Authentizität und Verantwortlichkeit im Umgang mit Frauenbildern in den Medien. (Selbstverständlich medienwirksam und mit dem Ziel, Produkte zu verkaufen.)

Orbach ist Vorsitzende des Verein AnyBody (vormals Endangered Bodies) und berät unter anderem das britische Gleichstellungsministerium zum Thema Körperbild. Sie schreibt seit zehn Jahren regelmäßig für The Guardian und brachte 2009 ein weiteres bahnbrechendes Buch heraus namens ‚Bodies‚, in dem sie sich mit dem stark wandelnden Körperbild des Internetzeitalters auseinandersetzt.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) Süddeutsche Zeitung

44/2023: Miriam van der Have, 1. November 1958

Mit 19 Jahren erhielt Miriam van der Have die Diagnose der Androgenresistenz (AOS): Sie hatte eine Vagina und in der Pubertät Brüste entwickelt, doch sie hatte keinen Uterus, ihre Gonaden waren lageveränderte Hoden und ihre Karyotyp XY. Die Gonaden wurden ihr wegen des erhöhten Krebsrisikos entfernt, doch bei der Operation wurde sie Opfer einer Verstümmelung: Ihr wurde vorher gesagt, ‚etwas an ihrer Vagina‘ müsse gemacht werden – als sie aufwachte, war ihr die Klitorisspitze (CN Bilder) entfernt worden.(1)

Van der Have machte einen Doktor in Mathematik und arbeitete als Journalistin. Sie lebte mit ihrer Frau und zwei Kindern und dem Geheimnis ihrer Geschlechtsidentität, als sie 2003 das Coming Out der trans* Frau Kelly van der Veer sah, die dort durch Big Brother bekannt ist.(2) Sie beschloss, sich ebenfalls öffentlich zu outen und trat in der TV-Dokumentation ‚Vinger aan der Pols‚ auf, obwohl ihr Ärzte jahrelang eingeredet hatten, dass sie bei einem Coming Out persönliche, berufliche und gesellschaftliche Verluste erleiden würde.(1)

Sie gründete 2013 mit zwei Freundinnen die Stiftung NNID für sexuelle Diversität, zwei Jahre später war sie an der Gründung der OII Europe (Link Englisch) beteiligt, seit 2016 hat sie das Sekretariat Intersex des Dachverbandes ILGA (International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association) inne. Sie brachte 2016 auch einen eigenen Dokumentarfilm über Frauen mit AOS heraus.

Eine ihrer politischen Forderungen ist es, ‚Geschlechtscharakteristika‘ als Merkmal in die niederländischen Gelchbehandlungsgesetze einzufügren, sodass inter* Personen nicht aufgrund ihrer Identität diskriminiert werden dürfen. Intergeschlechtlichkeit sollte nicht als eine Erkrankung oder medizinische Abnormalität behandelt werden – zumal der Termines verschiedene Formen umfasst und nicht alle Sachlagen tatsächlich medizinische Versorgung nötig machen. Stattdessen sieht van der Have Intergeschlechtlichkeit als eine Variation der menschlichen Geschlechter, die sich vor allem durch die gelebte Erfahrung auszeichnet, die Menschen haben, deren Körper nicht in die binären Vorstellungen von Männern und Frauen passt. Schon 2014 forderte van der Have deswegen das Hinzufügen des ‚I‘ zur Bezeichnung der LGBT-Gemeinschaft.(4)


Quelle Biografie: Wiki niederländisch | englisch
außerdem:
(1) Humanstisch Verbond
(2) Huffington Post
(3) Vice
(4) Het Parool

43/2023: Leyla Hussein, 27. Oktober 1980

Geboren als Kind gut ausgebildeter Eltern, lebte Leyla Hussein relativ privilegiert in ihrem Geburtsland Somalia. Dennoch wurde sie mit sieben Jahren Opfer der traditionellen Genitalverstümmelung.

Als sie zwölf Jahre alt war, emigrierte die Familie in das Vereinigte Königreich, wobei sie ihren gehobenen Lebensstandard aufgeben und in der neuen Heimat unter wesentlich schlechteren Umständen leben mussten.(1)

Während ihrer Schwangerschaft erlitt sie immer wieder Ohnmachtsanfälle bei vaginalen Untersuchungen, doch weder ihre Hebamme noch ihre Frauenärzty sprach sie auf die Narben der Exzision (CN gewaltvoller Umgang mit Genitalien, Bilder) an. Erst nach der Geburt fragte eine Krankenpflegerin sie, ob sie eventuell FGM erlitten hatte, und äußerte die Vermutung, dass ihre ‚Ohnmachtsanfälle‘ Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund dieses Erlebnisses seien. Mit der Erkenntnis dieser Realität begann Husseins Aktivismus.(2)

Sie machte ihr Diplom in Psychologie an der Thames Valley University. 2010 gründete sie die gemeinnützige Organisation Daughters of Eve (Link Englisch), die die FGM-Problematik in der (britischen) Gesellschaft sichtbarer machte, betroffenen Mädchen und Frauen Unterstützung bot und sich für das weltweite Verbot der weiblichen Genitalverstümmlung einsetzte. Drei Jahre später bewirkte sie mit dem Dokumentarfilm The Cruel Cut ein weitreichendes Bewusstsein in der britischen Bevölkerung für FGM, das auch zu Gesetzesveränderungen führte. Die Dokumentation erhielt im Folgejahr eine BAFTA-Nominierung.

Ebenfalls 2013 rief Hussein das Dahlia-Projekt ins Leben, das eine Hotline für Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung anbot sowie Gruppen- und Einzeltherapien. Außerdem vermittelt das Projekt Betroffene an Kliniken, die wiederherstellende Operationen anbieten.

Leyla Hussein war 2018 auch eine der Protagonistinnen des Dokumentarfilms #FemalePleasure. Sie gehört zu den Begründerinnen des Projekts The Girl Generation, das in zehn afrikanischen Ländern aktiv ist und sich zum Ziel gesetzt hat, FGM innerhalb einer Generation vollständig abzuschaffen. In Somalia ist Hussein eine der Leiterinnen von Hawa’s Haven, einer Organisation, die sich für mehr Bewusstsein für geschlechterspezifische Gewalt einsetzt.

Für ihre Arbeit wurde Hussein 2019 mit einem OBE ausgezeichnet. 2020 wurde sie Rektorin der University of St. Andrews – als dritte Frau in der Geschichte der Hochschule und als erste Woman of Colour.

Sie schreibt außerdem seit zehn Jahren regelmäßig für unterschiedliche Magazin wie etwa die Cosmopolitan, im Guardian oder die Huffington Post, wie etwa diese sehr nachvollziehbare Erklärung, warum ihre Arbeit sich auf die weibliche Genitalverstümmelung konzentriert – statt auch die männliche Beschneidung zu thematisieren.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) The Guardian: Letter to my daughter
(2) Global Citizen


42/2023: Gertrude Sandmann, 16. Oktober 1893

Über Gertrude Sandmanns Kindheit ist nicht viel zu finden; geboren in Berlin, muss ihr Vater zumindest recht wohlhabend gewesen sein, da sie später von seinem Erbe leben konnte. Als sie alt genug für ein Kunststudium war, ließ die Akademie der Künste in Berlin noch keine Frauen zu, also machte Sandmann einen Zeichen- und Malkurs beim Verein der Berliner Künstlerinnen, bei dem schon Käthe Kollwitz und Paula Modersohn-Becker gelernt hatten und zu diesem Zeitpunkt auch unterrichteten. 1917 ging sie für eine weitere Kunstausbildung nach München, zwei Jahre später jedoch konnte sie an die Akademie der Künste in Berlin wechseln – diese hatte inzwischen Käthe Kollwitz als Professorin eingestellt, womit auch das Studium für Frauen möglich wurde. Mit Kollwitz und ihrer Familie sollte Sandmann eine langjährige Freundschaft verbinden.(1)

1923 erhielt Gertrude Sandmann ihre erste Einzelausstellung in Berlin. Sie arbeitete während der 1920er Jahre wie viele Künstlerinnen als Illustratorin für Modezeitschriften, außerdem nahm sie an verschiedenen Gruppenausstellungen teil, wurde Mitglied im Reichsverband bildender Künstler und der GEDOK (Gemeinschaft deutscher und oesterreichischer Künstlerinnen und Kunstfreundinnen). Das Erbe ihres Vaters ermöglichte ihr ein eigenes Atelier in Berlin und verschiedene Reisen und Studienaufenthalte im Ausland. Die finanzielle Freiheit bedeutete auch, dass sie offen homosexuell leben konnte. Dass die jüdische Gemeinschaft diese Orientierung als verwerflich und ‚widernatürlich‘ ablehnt, führte zu ihrer Lossagung von der Religion.(1)

Wie viele säkulare Juden wurde sie mit der Machterlangung der Nationalsozialisten dennoch für ihre jüdische Herkunft verfolgt. In den frühen 1930er Jahren wurde sie deswegen vom Reichsverband ausgeschlossenn, von 1934 (oder 1935) an unterlag sie dem Berufsverbot. Ein Auslandsvisum ließ Sandmann verfallen, weil sie zum Einen nicht im Ausland leben und zum Anderen ihre Mutter nicht alleine lassen wollte. Als diese kurz darauf verstarb, war ihr Visum ungültig. Mit Hilfe ihrer Lebensgefährtin Hedwig Koslowski, genannt Johnny, konnte sie untertauchen und längere Zeit unbemerkt bleiben. Am 21. November 1942 jedoch musste sie noch weiter gehen: Sie schrieb einen Abschiedsbrief, um die Gestapo zu täuschen, ließ all ihr Habe zurück und täuschte den Selbstmord vor. Sie überlebte die folgenden zwei Jahre in einem Unterschlupf bei der Familie Großmann, wo sie weiterhin zeichnete und malte. Koslowski und die Familie Großmann wurden später von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern anerkannt.

Nach dem Krieg nahm Gertrude Sandmann noch an wenigen Ausstellungen teil, im Jahr 1949 an der Grafischen Ausstellung im Schöneberger Rathaus und der Weihnachtsausstellung im Schloss Charlottenburg. Später jedoch ist nur noch ihre Teilnahme an der Großen Berliner Kunstausstellung 1958 bekannt sowie eine Einzelausstellung in Düsseldorf im Jahr 1974. In diesem Jahr war Sandmann auch an der Gründung der Gruppe L 74 – für Lesbos 1974 – beteiligt, der ersten lesbischen Künstlerinnengruppe der Nachkriegszeit.(2) Eine ihrer Zeichnungen war jahrelang das Titelbild der Vereinszeitung UKZ (‚Unsere Kleine Zeitung‘). Sie unterstützte auch andere lesbische Organisationen und die erste reine Frauengalerie ‚Andere Zeichen‘.

Gertrude Sandmann lebte bis zu ihrem Lebensende am 6. Januar 1981 in Berlin, viele Jahre davon mit ihrer Lebensgefährting Tamara Streck.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) Fembio
(2) Berlinische Galerie

41/2023: Maddie Blaustein, 9. Oktober 1960

Maddie Blaustein kam in New York als eines von fünf Kindern zur Welt. Sie begann ihre Karriere 1980 als Redakteurin und Autorin bei Marvel Comics, 1990 schribe sie Comics für DC Comics (wer sich nicht so richtig auskennt mit Comic-Verlagen: das ist ein bisschen so wie Coca-Cola und Pepsi oder Adidas und Puma).

1994 wurde sie Production Manager und Autorin bei Milestone Media (Link Englisch), einer Tochterfirma von DC, gegründet von einer Gruppe afro-amerikanischer Comickünstler, die die Unterrepräsentation von Minderheiten in Comics beheben wollten. Hier produzierte sie, manchmal mit ihrem Partner Yves Fezzani unter dem Namen „Adam & Yves“ verzeichnet, eigene Comics, unter anderem eine limitierte Reihe namens Deathwish, in der Marisa Rahm die Hauptrolle spielt, die erste trans* Heldin in einem ‚Mainstream‘-Comic. Sie schrieb hier bald unter dem Namen ‚Addie‘ Blaustein. Von Milestone Media ging Blaustein zu Weekly World News, einer Art Satiremagazin.

Von (ca.) 2004 an war Maddie Blaustein die Stimme von Meowth/Mauzi in der animierten Pokémon-Serie, neben verschiedenen anderen Charakteren. Sie war eine Voiceover-Künstlerin, betrachtete diese Arbeit jedoch nur als eine Nebentätigkeit.(1)

Ebenfalls ab 2004 war sie als Kendra Bancroft in Second Life aktiv; insbesondere in der Democratic Republic of Neualtenburg (Link Englisch) war sie am Aufbau sowohl der virtuellen Gebäude wie auch der demokratischen Regierung beteiligt.

Maddie Blaustein starb 48-jährig nach einer kurzen Krankheit im Schlaf.


An Maddie Blaustein zeigt sich, wie wichtig die Suche nach richtigen Quellen ist. Meine erste Recherche findet immer auf Wikipedia statt; nachdem ich mich für eine Frau der Woche entschieden habe, suche ich über die Links von Wikipedia und über eine Suchmaschine weitere, tiefgehendere oder genauere Information sowie gerne Video, eigene Texte der Protagonistin etc.
Maddie Blaustein ist auf Wikipedia als inter* und trans*gender Person aufgeführt, wenn ich allerdings die Quellen durchforste, finde ich dafür keinerlei Beweise: Eine Stelle(2) behauptet es ohne Quellenangabe, eine(3) verlinkt auf einen Eintrag, in dem die verschiedenen Vornamen-Variationen von Maddie Blaustein gelistet werden – aber nichts zu einer körperlichen Grundlage für die Behauptung. In einem Q&A (das sich leider nicht verlinken lässt) bezeichnet sich Maddie selbst als trans* Frau – die Aussage, sie sei inter* lässt sich in keiner Weise verifizieren.
Da inter* Personen in der Liste stark unterrepräsentiert sind, fiel meine Wahl auf Blaustein, auch wenn ich herzlich wenig von dem verstehe, was sie in ihrer Laufbahn gemacht hat – das hat mich ja sonst auch noch nie aufgehalten. Mir ging es um die Repräsentation von inter* Menschen, die nun nach der tieferen Recherche doch nicht stattfindet. Vielleicht ein ehrlicher Fehler an irgendeiner Stelle (looking at you Wikipedia), aber Intergeschlechtlichkeit (körperliche, biologische und/oder chromosomale Merkmale sind nicht übereinstimmend) ist etwas anderes als Transgeschlechtlichkeit (körperliche, biologische und /oder chromosomale Merkmale weisen auf eine binär-geschlechtliche Zuordnung hin, die Identität – kognitiv – stimmt damit jedoch nicht überein).
Ohne ordentliche Quellenangabe werde ich Maddie Blaustein nicht als inter* verschlagworten. Für eine neue Recherche fehlen mir gerade die Ressourcen. So ist das manchmal.


Quelle Biografie: Wiki englisch
außerdem:
(1) IMDb
(2) TV Tropes
(3) Trans Resource

Eren

Filmposter: EREN in Großbuchstaben über einem Portrait von Eren Keskin, im Pop-Art-Stil entfremdet, mit gelbem Lidschatten, grünen Ohrringen und roten Lippen, die aus dem ansonsten sepiafarbenen Bild herausstechen. Eren Keskin trägt ein schwarze Neckholder-Oberteil.
D 2023, Regie: Maria Binder, mit Eren Keskin, Fatma Sevgi Keskin, Leman Yurtsever

Bei der Recherche für die Kurzrezension in der Stadt Revue musste ich nachschlagen, als was ich die Türkei treffend und korrekt bezeichnen kann. Wikipedia sagt: „In den Politikwissenschaften wurde das politische System der Türkei oft auch als „defekte Demokratie“ und als „hybrides Regime“ summiert.“ Das heißt, die Türkei hat alle Bausteine einer Demokratie, funktioniert jedoch nicht in der Tat als solche. Menschen werden für ihre Meinungsäußerungen etwa zur Frage der Kurden und zum Völkermord an den Armeniern verhaftet und in den Gefängnissen gefoltert, Frauen in Haft vergewaltigt.

Maria Binder, die Regisseurin, erzählt in den ersten wenigen Minuten zu Bildern aus der damaligen Zeit, wie sie Eren Keskin vor zwanzig Jahren kennenlernte, als ‚Anwältin einer Freundin, die von türkischen Soldaten ermordet wurde‘. Sie beschreibt Keskin als eine, die ’nach dem unsichtbar Gemachten [gräbt], nach dem, was verschwiegen, verfälscht, vernichtet wird‘. Der ganze Rest des Filmes zeigt Keskin heute in ihrem Alltag als Anwältin, als Menschrechtsaktivistin, als Freundin und Tochter, gänzlich ohne weiteren Kommentar. Eren Keskin ist Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD und wurde für ihren Einsatz für die kurdische und armenische Bevölkerung selbst inhaftiert und in der Haft gefoltert. Als Anwältin setzt sie sich insbesondere für Frauen und queere Menschen ein, die von Sicherheitsbehörden gefoltert wurden. Die kurzen Einblicke in ihre Fälle, die der Film bietet, genügen, um die Notwendigkeit ihrer Arbeit zu erkennen.

Eren Keskin (rechts) mit ihrer Mutter (links) im Gespräch

Allein aus der Intimität der Bilder – wie weit Binder Keskin auch in ihren privaten Momenten begleiten darf – wird klar, wie nah sich die Frauen stehen. Doch unangemessene Lobhudelei bleibt aus, dafür ist Keskins Leben zu intensiv, zu spannungsreich und zu gefährlich. Der türkische Staat hat Anklagen gegen sie im zweistelligen Bereich, besonders für die ‚Beleidigung des Türkentums‚, für die sie bei Verurteilung viele Jahre in Haft gehen müsste. Dennoch spricht sie furchtlos und ohne Rückhalt ihre Kritik am Staat aus. In anderen Szenen sehen wir sie weich und liebevoll mit ihrer Mutter reden, über ihre Familie und die verschwiegene Tatsache, dass sie Kurden sind, über Politik und Frauenrechte. Sie weint über den Tod ihres Kollegen und Freundes Tahir Elçi und erzählt von der Gewalt – durch ‚Unbekannte‘ oder den Staat – die sie seit Jahren begleitet. Mit ihrer Kollegin und Freundin Leman besucht sie ehemalige armenische Dörfer und bespricht, wie die Kanzlei weiterarbeiten kann, wenn sie tatsächlich verhaftet würde und ins Gefängnis müsste.

EREN ist kein Film, der die Fakten – die er liefert – in den Vordergrund stellt, sondern das Gefühl. Wie es ist, als Frau, als Kurdin, als politisch aktive Person in der Türkei zu leben. Der Satz, der mir angesichts Eren Keskins Familien- und Lebensgeschichte durch den Kopf ging, war: Das Private ist politisch. Eren Keskins Leben ist durch die Politik der Türkei geprägt, und ihr ganzes Leben ist dem politischen Kampf für mehr Gerechtigkeit und Demokratie gewidmet.


2019 habe ich übrigens auch einen kurzen Beitrag über Eren Keskin geschrieben.


40/2023: Anna Euphemia Morgan, 7. Oktober 1874

CW: historische, rassistische englische Begriffe

Es war eine Missionsstation der Herrnhuter Brüdergemeinde, auf der Anna Euphemia Bowden als Tochter zweier australischer Indigener – Nathan und Margaret Bowden – zur Welt kam, im Nordwesten des Bundesstaates Victoria. Mit elf Jahren begann sie, als Hausmädchen zu arbeiten; mit zwanzig siedelte sie in den nördlicheren Bundesstaat New South Wales um, nach Cummeragunja. Den Bewohnern der Siedlung waren von der australischen Regierung 1888 Landstücke zugeteilt worden, sodass sie sich selbst versorgen konnten. Anna Euphemia heiratete 1899, mit 25 Jahren, Caleb Morgan, der 12ha Land besaß; das Paar bekam drei Kinder zusammen.

1907 rief das Aboriginal Protection Board von New South Wales diese Landzuteilung zurück und zog die Profite der nun ehemaligen indigenen Landbesitzer ein. Das APB ist unter anderem auch dafür bekannt geworden, indigene Kinder, aber auch und vor allem Kinder aus weißen und indigenen Verbindungen aus ihren Familien zu reißen und sie zur ‚Assimilation‚ in weiße Familie oder in christliche, weiße Heime und Missionsstationen zu versetzen. Diese Maßnahme, die von 1909 bis 1969 andauerte und zehn bis dreißig Prozent aller indigener Kinder Australiens betraf, wurde 1997 als ‚Gestohlene Generation‘ bekannt. Am 26. Mai 1998 wurde erstmals der australische National Sorry Day begangen, 2007 wurde erstmals einem Australier eine Entschädigung für das Erlittene zugesprochen.

Gegen den Landraub durch das APB protestierte Caleb Morgan, was ihn in den Augen der kolonialen Regierung zum Agitator machte; außerdem galten alle, die nicht ihr Land verließen, als unbefugte Eindringlinge.(2) Anna Morgan floh mit ihrem Mann und ihren Kindern und ließ dabei das meiste ihres Besitzes zurück. Als sie einige Monate später ihr Hab und Gut holen wollten, wurde Caleb festgenommen und verbrachte zwei Wochen im Gefängnis. Die Familie zog anschließend nach Wagga Wagga, wo Caleb Anstellung auf einer Farm fand.

Zwanzig Jahre später, inzwischen 53 Jahre alt, kehrte das Ehepaar Morgan nach Victoria zurück, drei Jahre später beantragten sie Unterstützung beim APB, wurden jedoch abgewiesen aufgrund ihres Status als ‚half-castes‘. Sie stellten daraufhin Antrag auf eine Rente von der Kolonialregierung, dem Commonwealth, und wurden wiederum abgewiesen – weil sie Aborigines waren.

Daraufhin begann Anna Euphemia Morgan, politisch aktiv zu werden. Sie schrieb einen Artikel, ‚Under The Black Flag‚, über ihr Leben, das von den Einschränkungen durch die Kolonialregierung geprägt war, und forderte Gerechtigkeit und Gleichberechtigung für die indigenen Australier. Bei einer Radiostation in Melbourne durfte sie regelmäßig Geschichten erzählen, die ihre Großmutter ihr als Kind erzählt hatte; so erlangte sie eine gewisse Bekanntheit und konnte für ihre politischen Ziele mehr Aufmerksamkeit erregen.

1933 gründete sie gemeinsam mit ihrem Mann Caleb sowie Margaret Tucker und William Cooper die Australian Aborigines League, als deren Delegierte sie im Januar 1935 das australische Innenministerium besuchte. Sie brachte dort ihre Forderung nach Bildung für vor allem die indigenen Frauen Australiens vor: „If we get the same education as the white girl, we could stand alongside white people.“ – „Wenn wir die gleiche Bildung bekommen wie die weißen Mädchen, können wir neben den weißen Leuten bestehen.“(1,3) Im selben Monat noch nahm sie an einer Versammlung des International Committee on Women’s Day teil.

Am 1. August 1935 starb sie an einer Niereninfektion.


Quelle Biografie: Wiki englisch
außerdem:
(1) Indigenous Australia
(2) AustLit: Discover Australian Stories
(3) Australian Dictionary of Biography

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