Schlagwort: runder geburtstag

51/2019: Mutsumi Aoki, 16. Dezember 1959

Geboren in Saitama in Japan, lebt Mutsumi Aoki heute in Düsseldorf. Sie entwirft Skulpturen aus natürlichen Materialien wie Papier, Moos, Algen und Sand. Ein kleines Juwel moderner Kunst zum Jahresabschluss.

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50/2019: Toshiko Akiyoshi, 12. Dezember 1929

Toshiko Akiyoshis japanische Familie lebte in der Mandschurei, als sie auf die Welt kam, und kehrte erst nach dem Zweiten Weltkrieg nach Japan zurück. Akiyoshi erlernte das Klavierspiel mit sieben Jahren und unterhielt mit 16 Jahren amerikanische G.I.s in Beppu. Die Platten von Teddy Wilson begründeten ihre Liebe zum Jazz, das Improvisieren brachte sie sich durch Zuhören selbst bei. Mit 23 Jahren spielte sie in ihrer eigenen Band, durch die der amerikanische Jazz-Pianist Oscar Peterson auf sie aufmerksam wurde. Dieser empfahl sie seinem Produzenten und 1953 erschien ihre erste Platte, Toshiko’s Piano.

Sie studierte von 1955 bis 1959 mit einem Stipendium am Berkeley College of Music, spielte in verschiedenen Bands und trat 1956 auf dem Newport Jazz Festival auf. Als sie das Studium abgeschlossen hatte, heiratete sie ihren Musikerkollegen Charlie Mariano, die Ehe hielt bis 1967. Die beiden spielten gemeinsam in verschiedenen Formierungen, in den frühen 1960er Jahren lebten und tourten sie in Japan.

Nach einer Tätigkeit bei einem Radiosender in New York ging sie 1972 mit ihrem zweiten Ehemann Lew Tabackin nach Los Angeles. Dort gründeten die beiden eine Big Band, für die Akiyoshi bestehende Stücke arrangierte und eigene komponierte. Ihr erstes Album im Jahr 1974 hieß Kogun, in etwa „Ein-Mann-Armee“ auf Japanisch, wozu Akiyoshi inspiriert wurde von der Geschichte des japanischen Soldaten, der im Dschungel verloren ging und für 30 Jahre nicht erfuhr, dass der Krieg beendet wurde.

Sie befasste sich mit traditioneller japanischer Musik und deren Instrumenten und ließ diese in ihre Kompositionen einfließen. Mit ihrer Big Band konnte sie keine Plattenverträge, sie spielte jedoch in diversen kleineren Formationen und veröffentlichte auch als Solokünstlerin.

Sie schrieb 1999 eine Suite zum Jahrestag des Abwurfs der Atombombe über Hiroshima. Der buddhistische Mönch Kyudo Nakagawa war mit der Bitte darum an sie herangetreten und hatte ihr einige Bilder von den direkten Nachwirkungen der Bombe gezeigt. Akiyoshi war zunächst erschüttert und wusste nicht, wie sie Musik schreiben sollte, die diesem Grauen gerecht würde. Dann sah sie das Bild einer jungen Frau, die aus einem Bombenschutzbunker herauskam und ein verhaltenes Lächeln zeigte, und verstand, dass es bei der Feierlichkeit zum Jahrestag und in ihrer Komposition um Hoffnung gehen sollte. Am 6. August 2001 wurde die Suite uraufgeführt, 2002 erschien sie als Album.

In einem Interview mit Toshiko Akiyoshi und Lew Tabackin bei Jazz.com (englisch) gibt Akiyoshi selbst Einblicke in ihre Biografie.

49/2019: Elfriede Lohse-Wächtler, 4. Dezember 1899

Elfriede Lohse-Wächtler kam in Dresden auf die Welt, sie wurde eigentlich auf den Namen Anna Frieda getauft, den Namen Elfriede wählte sie später selbst. Mit 16 Jahren zog sie aus dem Elternhaus aus und begann ihre dreijährige Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Dresden, zuerst im Fachbereich Mode, nach dem ersten Jahr wechselte sie jedoch in den Fachbereich Angewandte Graphik und nahm zusätzliche Zeichen- und Malkurse.

Sie wurde Mitglied der Dresdner Sezessions Gruppe 1919 und arbeitete als freie Künstlerin. Sie heiratete einen Maler und Opernsänger, mit dem es sie schließlich bis 1926 nach Hamburg verschlug. Auch dort wurde sie Teil mehrerer Künstlervereinigungen und sie war an verschiedenen Ausstellungen der Neuen Sachlichkeit beteiligt.

Ihre Ehe war unglücklich und der Verdienst als Künstlerin gering; unter den schwierigen Lebensumständen erlitt Lohse-Wächtler mit 30 Jahren einen Nervenzusammenbruch, mit dem sie in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg (heute Schön Klinik Hamburg Eilbek) eingeliefert wurde. Dort blieb sie zwei Monate, in ihrer Zeit dort zeichnete sie die Friedrichsberger Köpfe, eine Werkserie mit sechzig Bildern, darunter Selbstportraits und Portraits von anderen Patienten.

Als sie die Krise überwunden hatte, trennte sie sich endgültg von ihrem Mann und erreichte ihren Schaffenshöhepunkt. Sie malte Selbstbildnisse und Eindrücke ihrer Umgebung, der Hamburger Hafengegend mit ihrem Milieu.

Doch leben konnte sie von ihrer Kunst noch immer nicht und sie fand auch keinen sozialen Anschluss, weshalb sie 1931 zu ihren Eltern nach Dresden zurückkehrte. Ihre psychische Gesundheit verbesserte sich dadurch aber nicht, im Gegenteil: Im Folgejahr ließ ihr Vater sie in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Arnsdorf einweisen, wo sie mit Schizophrenie diagnostiziert wurde. Sie blieb die folgenden drei Jahre als Künstlerin tätig, doch 1935 beendeten die politischen Umstände ihre Karriere. Nachdem die Scheidung von ihrem Ehemann abgeschlossen war, wurde sie wegen „unheilbarer Geisteskrankheit“ für unmündig erklärt.

Im Jahr zuvor war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft getreten, das neben anderen die Eugenik des Nationalsozialismus gesetzlich legitimierte. Lohse-Wächtler verweigerte die Einwilligung zu ihrer Sterilisation, woraufhin ihr zunächst verboten wurde, die Pflegeanstalt zu verlassen. Im Dezember 1935 unterzog man sie auf Anweisung der Erbgesundheitsgerichte einer Zwangsterilisation. Mit diesem Eingriff in ihre Selbstbestimmung verlor Lohse-Wächtler völlig ihre kreative Energie, sie malte kein weiteres Bild mehr. Fünf Jahre lebte sie noch in der Pflegeanstalt in Arnsdorf, 1940 wurde sie dann, mit zahlreichen anderen Patienten dort, in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein deportiert.

Schon 1939 hatte der nationalsozialistische Staat die Vorbereitungen begonnen, die Ermordung psychisch Kranker – und der Menschen, die zu dieser Zeit als solche diagnostiziert wurden – zu planen. Unter solchen Euphemismen wie Aktion Gnadentod errichtete das medizinische System, unter Leitung des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti, eine Mordmaschinerie, in der insgesamt 200.000 Menschen getötet wurden. Heute ist die systematische Tötung von 70.000 Patienten von Heil- und Pflegeanstalten, in den Jahren 1940/41 unter dem Namen Aktion T4 bekannt, da sich die Zentraldienststelle der Aktion in der Tiergartenstraße 4 in Berlin befand.

Die Opfer von Aktion T4 wurden in ihren heimischen Einrichtungen erfasst und auf den Transport vorbereitet, von dort wurden sie mit Bussen zu Zwischenanstalten transportiert. Diese Zwischenstationen dienten der Verschleierung, denn nur bis dort durften Begleitpersonen mitreisen, außerdem waren sie eine Art Schleuse, um eine „Überlastung“ der Tötungsanstalten zu verhindern. Von dort aus fuhren die Patienten alleine weiter zur „Aufnahme“ in der letzten Station. Dort wurde ihnen ihre Kleidung genommen, sie wurden statistisch mit Größe und Gewicht erfasst und Ärzten vorgeführt, die sie auf gesundheitliche Merkmale hin untersuchten, etwa Narben vorangegangener Operation. Dies diente ebenfalls der Verschleierung des Massenmordes, denn bei dieser Untersuchung fanden die Ärzte Hinweise auf Erkrankungen, die als Todesursache vorgegeben werden konnten. Anschließend wurden die Opfer in Gruppen um die 30 Personen in die Gaskammern geführt, in denen Brauseköpfe weiterhin vortäuschten, dass sie für einen Aufenthalt gereinigt werden sollten. Über die Brauseköpfe wurde dann Kohlenmonoxid eingelassen.

Elfriede Lohse-Wächtler war eine von über 14.500 Menschen, die in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein ermordet wurde. Als offizielle Todesursache wurde „Lungenentzündung mit Herzmuskelschwäche“ eingetragen.

Ihre Kunst galt den Nationalsozialisten – wenig überraschend – als „entartete Kunst„, viele ihrer Werke wurden in beschlagnahmt und vernichtet. In den 1990ern erfuhr ihre Kunst eine erneute Anerkennung, 1997 drehte Heide Blum einen Dokumentarfilm über die Künstlerin. Im Sächsischen Krankenhaus in Arnsdorf wurde ihr zu Ehren eine Stele errichtet, auf dem ehemaligen Krankenhausgelände in Hamburg, in dem sie sich aufgehalten hatte, wurde 2004 ein Rosengarten mit einem Gedenkstein für sie errichtet.

48/2019: Emma Morano, 29. November 1899

Emma Morano wurde als ältestes von acht Kindern kurz vor dem Ende des 19. Jahrhunderts in einem Dorf in Piemont geboren.

Mit 19 Jahren litt sie an Anämie und ihr Arzt empfahl ihr, jeden Tag zwei Eier zu essen – roh oder gekocht. Daran hielt sie sich zeit ihres Lebens. Als sie 26 war, heiratete sie, ihr einziges Kind kam elf Jahre später auf die Welt und starb in den ersten Monaten. Ihr Ehemann schlug sie und sie warf ihn ein weiteres Jahr später hinaus.

Morano arbeitete in einer Jutefabrik und später in der Küche eines katholischen Internats, bis sie sich mit 75 Jahren zur Ruhe setzte.

Als am 12. Mai 2016 die US-Amerikanerin Susannah Mushatt Jones starb, wurde Emma Morano die älteste noch lebende Person der Welt und die letzte noch lebende Person, die nachweislich vor Beginn des 20. Jahrhunderts geboren wurde.

Sie war eine von den 15 Personen, die das 116. Lebensjahr erreichten, und zum Zeitpunkt ihres Todes am 15. April 2017 eine von 6, die das 117. Lebensjahr erreichten. Danach war Violet Brown aus Jamaika die älteste Person der Welt, seither abgelöst von mehreren Frauen aus Japan, USA, Frankreich und den Niederlanden.

Wie so oft liegt auch bei Emma Morano das Geheimnis eines langen Lebens nicht unbedingt in einer sehr gesunden Ernährung oder einem anderweitig übermäßig vorsichtigen Lebenswandel. Laut eines Artikels in USA Today, anlässlich es Todes von Mushatt Jones, gehörten rohe Eier weiterhin in die an Obst und Gemüse arme, sehr repetetive Diät von Morano. Ihr Arzt vermutet wenig überraschend eine genetische Komponente – viele der Frauen in Moranos Familie waren sehr langlebig, eine ihrer Schwestern wurde 102. Höchstens ihr sehr regelmäßiger Tagesablauf ließe sich anführen, sie ging jeden Tag vor 19:00 ins Bett und stand am nächsten Morgen vor 6:00 auf. Das und: Sie lebte nach der Trennung von ihrem Ehemann 79 Jahre lang allein.

47/2019: Marianne Breslauer, 20. November 1909

Marianne Breslauer begann mit 18 Jahren ihre Ausbildung als Fotografin an der Photographischen Lehranstalt Lettehaus, weil sie zwei Jahre zuvor eine Ausstellung der Riess besucht hatte und sich seither für diese neue Kunstrichtung begeisterte. Mit 20 schloss sie diese Ausbildung mit einer Gesellenprüfung (bzw. Gehilfenprüfung) ab; sie nahm im selben Jahr mit ihren Bildern an einer Ausstellung in Stuttgart teil und ging anschließend nach Paris.

Dort entwickelte sie sich von den festen handwerklichen Regeln der Portraitfotografie, die sie in ihrer Ausbildung erlernt hatte, weiter hin zu den innovativen Ideen des Neuen Sehens, auch der Impressionismus nahm Einfluss auf ihre Bilder. Über eine Freundin wurde sie kurzfristig Schülerin von Man Ray, doch der riet ihr, mit ihren Fähigkeiten ihren eigenen Weg, unabhängig von ihm, zu gehen.

Bei einer Anstellung in einem Berliner Fotoatelier erlernte sie die Entwicklung und Negativvergrößerung, bis in die 1930er Jahre konnte Breslauer ihre Bilder erfolgreich an diverse Zeitungen und Magazine verkaufen. 1931 erschloss sie sich mit einer Reise nach Palästina auch das Gebiet der Reisereportage, etwa mit Annemarie Schwarzenbach über die spanischen Pyrenäen. Doch Breslauers jüdische Herkunft wurde bei Veröffentlichungen in Deutschland zum Problem. Sie weigerte sich, ihre Bilder unter einem Pseudonym erscheinen zu lassen und ging 1933 schließlich, ohne festen Wohnsitz, ins Ausland. Erst 1936 ließ sie sich mit ihrem Ehemann, dem Kunsthändler Walter Feilchenfeldt, in Amsterdam nieder, die Fotografie gab sie auf zugunsten des Geschäfts, das sie mit ihrem Mann betrieb. Die beiden befanden sich mit ihrem neugeborenen ersten Sohn in der Schweiz, als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, und sie blieben dort in verhältnismäßiger Sicherheit. 1944 bekamen sie einen zweiten Sohn, nach Kriegsende gründeten sie ein Kunsthandelsunternehmen. Als Walter senior 1953 starb, übernahm Marianne Breslauer Feilchenfeldt das Geschäft zunächst alleine, sie wurde die erste Frau, die sich erfolgreich in dem (natürlich) männerdominierten Metier behauptete. Später stieg ihr ältester Sohn mit in das Unternehmen ein.

In den 1980er Jahren wurden Breslauers Arbeiten von der Kunstszene wiederentdeckt. Nachdem sie 2001 starb, ging ihr Nachlass an die Fotostiftung Schweiz; auf deren Seite findet sich auch eine ausführliche Biografie mit einigen Bildern. Zur Ausstellung Marianne Breslauer – Unbeachtete Momente, die die Berlinische Galerie 2010 zeigte, schrieb die Jüdische Allgemeine einen Bericht mit kritischer Perspektive.

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46/2019: Wendy Carlos, 14. November 1939

Wendy Carlos wurde in eine Arbeiterfamilie mit musikalischem Talent geboren, ihre Mutter spielte Klavier und sang, ein Onkel spielte Posaune. Wendy selbst lernte das Klavierspiel und kompinierte mit sechs Jahren ihr erstes Stück. Gleichzeitig interessierte sie sich für die frühe Informatik, mit vierzehn gewann sie ein Stipendium, indem sie eigenhändig einen Computer baute. Mit 23 machte sie einen ersten Abschluß in Physik und Musik an der Brown University und ging anschließend and die Columbia University, wo sie ihren Master in Komposition machte. Während des Studiums schrieb sie bereits die Musik für einige Studentenfilme und assistierte Leonard Bernstein während eines Abends für elektronische Musik in der David Geffen Hall. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitete sie in einem Tonstudio.

In dieser Zeit traf sie zwei Menschen, mit denen sie erfolgreich zusammenarbeiten sollte. Robert Moog hatte sich bereits mehrere Jahre mit Thereminen und elektronischer Klangerstellung befasst (Höhepunkt seines Lebens soll es gewesen sein, das Theremin von Clara Rockmore reparieren zu dürfen). Moog hatte mit der Konstruktion seines Synthesizers begonnen, Wendy Carlos assistierte ihm und machte ihm hilfreiche Vorschläge. Sie komponierte Werbejingles und nahm Soundeffekte auf der Moog auf, für eine Veröffentlichung, in der sie die technischen Möglichkeiten des neuartigen Instruments vorstellte, wurde sie zu großen Teilen in Materialien von Moog entlohnt.

Für einen Einblick in die Geschichte und technische Komplexität des Moog Synthesizers empfehle ich das unten geteilte Video (Englisch).

Die andere langjährige Freundschaft und musikalische Partnerschaft, die Wendy Carlos während ihrer Zeit an der Columbia University begründete, war die zu Rachel Elkind. Die beiden teilten eine Wohnung, ein Studio und Geschäftsräume und arbeiteten gemeinsam an Carlos‘ Musik, bis Elkind 1980 mit ihrem Mann nach Frankreich zog. Elkind war die Stimme, die Carlos für ihre Arbeiten in ihrem Vocoder verfremdete; Carlos war stets der Ansicht, dass Elkinds Beitrag zu ihrer Musik unterschätzt wurde.

Bereits 1967 entstand die Idee, Kompositionen von Johann Sebastian Bach auf einem Synthesizer zu spielen. Dank eines Labels, das eine Verkaufskampagne unter dem Slogan „Bach to Rock“ gestartet hatte, ohne Bach in seinem Programm zu führen, kamen Carlos und Elkind mit dieser Idee zu einem Vertrag, der bis in die 1980er laufen sollte. Die Umsetzung war mit großer Mühe verbunden, da ein Moog Synthesizer stets nur einen Ton zur Zeit spielen konnte – wer erstens die Kompositionen von Bach und zweitens die Technik der Moog Synthesizer kennt (siehe Video oben), bekommt einen Begriff davon, was diese Aufgabe bedeutete. Als das Album Switched-on Bach schließlich 1968 auf den Markt kam, wurde es ein unerwarteter Erfolg. Es hielt sich auf Platz Eins der klassischen Alben in den Vereinigten Staaten von Januar 1969 bis Januas 1972. 1970 gewann es einen Grammy Award, vor allem aber rückte es den Synthesizer als ernstzunehmendes Instrument in ein neues Licht. Der Erfolg des Albums ermöglichte Carlos den Umzug in Elkinds Appartment in New York City.

Nach dem Bach-Album erhielt Carlos zwei Angebote für Filmmusik, eines davon 1971 der Soundtrack zu Stanley Kubricks Uhrwerk Orange. Aus dieser Arbeit gingen zwei Alben hervor, das Soundtrack-Album zum Film sowie eine Veröffentlichung Carlos‘ mit von ihr komponierten Stücken, die nicht im Film verwendet wurden. 1980 arbeitete Carlos wieder mit Kubrick zusammen, für die Musik zu Shining. Obwohl Carlos hierfür einige Stücke komponierte, nutzte Kubrick nur zwei, die Carlos und Elkind zugeordnet werden können.

Nachdem Elkind nach Frankreich gegangen war, schloß sich Carlos wiederum privat und beruflich mit einer Frau zusammen, Annemarie Franklin. Mit ihr gemeinsam entstand zwischen 1980 und 1982 der Soundtrack zu Tron. Im Anschluss an diese dritte Arbeit mit großen Unternehmen ging Carlos einen Vertrag mit einem kleinen Musiklabel ein, um eigene Projekte zu verfolgen. Schon zwischen den publikumsträchtigen Arbeiten am Film hatte sie verschiedene klassische Werke als elektronische Interpretation veröffentlicht, unter anderem basierend auf Bachs Wohltemperiertem Klavier. In den 1980er Jahren experimentierte Carlos nun selbst mit Intonation, Oktaven und Stimmungen, was in in vier mikrotonalen Tonleitern resultierte, die Carlos Harmonisch, Alpha, Beta und Gamma nannte. Diese verwendete sie auf ihrem Album mit eigenen Kompositionen, The Beauty in the Beast.

Eine ziemlich atemlose, aber faszinierende Erläuterung dieses musiktheoretischen Aspekts von Wendy Carlos‘ Werk liefert das folgende Video.

1988 schuf Carlos eine Parodie von Prokofjews Peter und der Wolf in Zusammenarbeit mit Weird Al Yankovic. Auch in den 1990er Jahre und bis heute blieb Carlos in der elektronischen Musik tätig, schrieb Filmmusiken und veröffentlichte weitere Alben.

Bei ihrer Geburt wurde Wendy Carlos aufgrund der Physiognomie das männliche Geschlecht zugewiesen (AMAB) und sie wurde Walter genannt (diesen alten Namen, der das zugewiesende Geschlecht ausweist, bezeichnen trans*Personen als dead name). Schon mit sechs Jahren empfand sie diese Zuschreibung als fehlerhaft. Als sie als junger Mensch nach New York kam, hörte sie zum ersten Mal von transgender*Identität, 1968 begann sie nach einer Therapie bei Harry Benjamin mit Hormongaben zur Geschlechtsumwandlung. Doch noch bis in die 1970er Jahre litt sie unter Geschlechtsdysphorie, trat nicht gerne öffentlich auf und versuchte ihre weiblichen Merkmale bei großen Veranstaltungen zu kaschieren. Der kommerzielle Erfolg von Switched-on Bach erlaubte ihr die kostspielige chirurgische Geschlechtsangleichung. Ende der 1970 machte Carlos ihre trans*Identität in Interviews im Fernsehen und dem Playboy bekannt. Sie stellte fest, dass die Reaktion der Öffentlichkeit weniger negativ ausfiel als befürchtet, bishin zur Gleichgültigkeit – ihr „Versteckspiel“ habe sich als monströse Zeitverschwendung herausgestellt, bemerkte sie 1985 (Quelle: Wikipedia).

Wie auch die oben geteilten Clips kommentiert auch das zeitgenössische Video des BBC Two von 1989 ihre trans*Identität in keiner Weise. So einfach kann es sein.

Ihr Privileg als erfolgreiche weiße Künstlerin spielt bei dieser Erfahrung mit Sicherheit eine Rolle. Gewalttaten gegen trans Personen, insbesondere schwarze trans Frauen, werden noch immer zu häufig begangen und noch immer zu häufig werden die Opfer medial falsch gegendert und die Transphobie als Motiv verschwiegen. Dazu führt die Human Rights Campaign eine jährliche Liste und auch bei uns nehmen Gewalttaten gegen Queerfolk zu. In der Gesellschaft ist weder das Verständnis noch die Akzeptanz von trans Identität so angekommen, wie es wünschenswert wäre. Gerade saß etwa Diana O. – vom Gesetz offiziell als Frau anerkannt – bis Anfang November in einem Männergefängnis ein. Sie wurde wegen Verdachtes auf Drogenbesitz festgenommen, ihre Papier weisen sie als Frau aus, doch weil sie (noch) keine geschlechtsangleichende Operation des Unterleibs hat durchführen lassen, wurde sie in U-Haft in der Männerabteilung festgehalten.

Es war ein schöner Zufall, dass ich Wendy Carlos als Musikerin, die auch meine Kindheit mit beeinflusst hat (Switched-on Bach stand im elterlichen Plattenregal und gehörte zu meinen Favoriten), gerade während der Transgender Awareness Week vorstellen konnte. Ihr Werk als Künstlerin steht im Vordergrund, doch ist ein willkommener Anlass, auf die Tatsache hinzuweisen, dass trans Identität keine Modeerscheinung der heutigen Jugend ist, sondern zur Geschichte der Menschheit – und zur Kunstgeschichte – gehört.

45/2019: Barbara Liskov, 7. November 1939

Barbara Liskov, geboren in Los Angeles, studierte an der University of California, Berkeley Mathematik als Haupt- und Physik als Nebenfach (als eine von zwei Frauen im Jahrgang). Mit ihrem frisch erworbenen Bachelor-Grad bewarb sie sich 1961 an der gleichen Universität sowie in Princeton für ein vertiefendes Studium (graduate) in Mathematik. Princeton akzeptierte zu dieser Zeit noch keine weiblichen Studentinnen, in Berkeley hätte sie das Studium fortführen können, doch – wie sie im Video unten sagt – fühlte sie sich noch nicht bereit dafür, und entschied sich stattdessen dafür, sich eine Stelle zu suchen. Obwohl sie „nicht einmal wusste, dass es Computer gab“, wurde sie als Programmiererin eingestellt – da es in diesen frühen Zeiten der Comput-er noch keine Programmierer mit abgeschlossenem Studium gab, wurde jede:r, di_er das geringste Interesse oder Talent zeigte, für diese Tätigkeit eingestellt.

Sie wurde damit beauftragt, ein Programm in FORTRAN zu schreiben, was sie erfolgreich ausführte. Im Laufe eines weiteren Projekts beschloss sie, in diesem Bereich ihr Studium weiterzuführen. In ihren eigenen Worten (s.u.): „Ich stellte fest, dass ich einen Bereich gefunden hatte, der mir wirklich gefiel, und in dem ich wirklich gut war. (…) Ich hatte mir alles selbst beigebracht und obwohl ich sehr schnell lernte, dachte ich, ich könnte noch viel schneller lernen.“

Sie ging nach Stanford und war eine von wenigen, die dort in Studienfach der IT in diesem Jahr zugelassen wurden. Sie schrieb ihre Doktorarbeit dort über die Endspiel-Phase in Schach-Computerspielen. Nach Erlangen ihres Doktortitels schritt sie im Bereich der Informatik stetig weiter voran, war an der Entwicklung mehrerer Progrmmiersprachen beteiligt (CLU und Argus) und arbeitete an „objekt-orientierten Programmierungen“. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Jeannette Wing formulierte sie 1987 das nach ihr benannte Liskovsche Substitutionsprinzip. Das Kreis-Ellipse-Problem erläutert lebensnah(er), was genau die Problemstellung und die Lösung sind.

2008 erhielt Liskov für ihre Arbeit in diesem Bereich den Turing Award, sie erhielt außerdem 2004 die John-von-Neumann-Medaille und 2018 den Computer Pioneer Award. Sie erhielt den Ehrendoktortitel der ETH Zürich und ist Mitglied der National Academy of Engineering, Sciences und Arts and Sciences.

Im TED-Talk, den ich hier unten eingebettet habe, erzählt sie sehr anschaulich von ihrer eigenen beruflichen Entwicklung und der der Technik, nicht ohne den einen oder anderen Hinweis auf das Sexismus-Problem in ihrer Branche und der Welt im Ganzen.

44/2019: Lois McMaster Bujold, 2. November 1949

Die Science-Fiction- und Fantasy-Autorin Lois McMaster Bujold hält den Rekord, den Hugo Award für den besten Roman viermal gewonnen zu haben, und zieht damit gleich mit ihrem Kollegen Robert A. Heinlein.

Besonders bekannt ist ihre inzwischen 19-teilige Reihe, die Vorkosigan-Saga, in der allein drei Bücher mit der Hugo Award ausgezeichnet wurden. Diese Science-Fiction-Saga spinnt Bujold um den kleinwüchsigen interstellaren Spion und Söldner Mike Vorkosigan. Die Romane schrieb Bujold nicht in chronologischer Reihenfolge, noch wurden sie in der Abfolge veröffentlicht, in der sie geschrieben wurden. Vielmehr schuf Bujold eine ganze Welt um die Vorgeschichte und Entwicklung des Helden, in der sie sich mit Liebe und Beziehung, aber auch der möglichen Technik und Wissenschaft einer interstellaren Zukunft in 1000 Jahren auseinandersetzt.

Der zweite Teil ihrer Fantasy-Trilogie Curse of Chalion, Paladin der Seelen, gewann neben dem vierten Hugo Award auch noch den Nebula Award und den Locus Award – diese letzteren beiden Preise gewann auch ihr Kurzroman innerhalb der Vorkosigan-Saga Die Berge der Trauer.

42/2019: Anita O’Day, 18. Oktober 1919

Aufgrund vorsehbarer (Herbstferien) und unvorhergesehener Ereignisse (gegebenenfalls später mehr) diese Woche nur etwas Musik von Anita O’Day. Biografie bitte bei Wikipedia lesen, Hörproben unten!

Anita O’Day: Fly me to the moon
Anita O’Day: Honeysuckle Rose
Anita O’Day beim Newport Jazz Festival 1958

41/2019: Carolee Schneemann, 12. Oktober 1939

Die New Yorker Künstlerin Carolee Schneemann setzte sich schon im College mit der unterschiedlichen wechselseitigen Wahrnehmung des männlichen und weiblichen Körpers auseinander. Vor allem die unterschiedliche Wertung der weiblichen Eigenwahrnehmung und -betrachtung durchzieht als Thema ihre Werke: Wie der weibliche Körper als Objekt (männlicher) künstlerischer Betrachtung geschätzt, aber als Subjekt der (weiblichen) künstlerischen Wahrnehmung verpönt ist – diese Diskrepanz begegnete ihr in ihrer Ausbildung und wurde zu einem Thema ihres Schaffens. (In diesem Artikel vom Observer wird dieser Sexismus der Kunst anhand eines Memes sehr schön dargestellt; die darin erwähnte Analyse von John Berger – Ways of Seeing, Episode 2 – habe ich auch gefunden und empfehle die Sichtung!)

„Eine Malerin, die Leinwand verlassen habe, um den Raum der Gegenwart und gelebte Zeit zu aktivieren“ (Quelle: Wikipedia) nannte Schneemann sich selbst. Der Wikipedia-Eintrag ist ausführlich und lädt zu einer weiteren Beschäftigung mit ihrer Kunst (und der ihrer Kollaborateure und Beeinflusser) ein. Ich möchte mich auf nur vier Werke beschränken, die mich persönlich besonders interessieren oder berühren.

Fuses (explizit) ist eine filmische Collage, in der Schneemann Bilder ihrer selbst und ihres damaligen Partners James Tenney nackt und bei sexuellen Handlungen, in nicht-chronologischem Schnitt und mit künstlerischer, analoger Bildbearbeitung – immer wieder erscheint auch ihre Katze wie ein neutraler Beobachter des Gezeigten. Angestoßen zur filmischen Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper in der Kunst und beim Sex wurde Schneemann von Stan Brakhage und dessen Window Water Baby Moving (explizit), welcher künstlerisch bearbeitet eine Geburt zeigt. Mit Fuses setzte sich Schneemann mit der Frage auseinander, ob die Darstellung des eigenen sexuellen Aktes sich von Prongraphie und klassischer Kunst unterscheidet. Obwohl das Video nicht ausgesprochen „pornographisch“ ist, wurden ihr Zügellosigkeit und narzisstischer Exhibitionismus vorgeworfen. Schneemann selbst merkte an, dass die künstlerische Bearbeitung für viele Betrachter hinter dem expliziten sexuellen Inhalt zurücktritt.

Ein Malerei-Happening, bei dem sich Schneemann in ein Geschirr hängte, um sie umgebende Wände mit Wachsmalstiften zu bemalen, ist Up to and Including Her Limits. Auch hier die Beschäftigung mit den Begrenzungen und Beschränkungen des weiblichen Körpers in der Kunst.

Von Interior Scroll gab es zwei Ausgaben. Eine erste fand auf einer Kunstausstellung namens Women Here and Now statt, zu Ehren des Jahres der Frau der Vereinten Nationen 1975. Schneemann stand unbekleidet bis auf ein Tuch und eine Schürze auf einem Tisch und las aus ihrem Buch Cézanne, she was a great painter, während sie wechselnde Posen einnahm, wie sie in Übungsklassen zum Aktzeichnen üblich sind. Nachdem sie die Schürze ausgezogen hatte, zog sie eine fortlaufende Papierrolle aus ihrer Vagina, von der sie einen Text vorlas, der aus einem ihrer Experimentalfilme stammte. Sie wiederholte diese Performance zwei Jahre später auf einem Filmfestival, zu dem Brakhage sie eingeladen hatte, namens The Erotic Woman. Aus Protest gegen diesen eingrenzenden Titel verlas dieses Mal von der Papierrolle eine Unterhaltung mit einem ungenannt bleibenden Filmkritiker (welchen sie später als die Filmkritikerin Annette Michelson enttarnte), in welcher sie für ihre „weibliche“ Kunst kritisiert wird. Sie wollte mit dieser Performance „die unsichtbare, marginalisierte und zutiefst unterdrückte Geschichte der Vulva [physikalisieren], diese mächtige Quelle des orgasmischen Vergnügens, der Geburten, der Transformation, der Mesntruation, der Mutterschaft, um zu zeigen, dass sie kein toter, unsichtbarer Ort ist“. (Quelle: Hyperallergic.com, Forty Years of Carolee Schneemann’s „Interior Scroll“)

Eine Variation dieser Veräußerung des vaginalen Inneren ist übrigens Casey Jenkins‘ Casting Of My Womb.

Mit einem jüngeren Werk stieß Schneemann wiederum auf Sensibilität: Die Bilder von Terminal Velocity entstanden wenige Monate nach dem 11. September 2001. Schneemann scannte Zeitungsfotos von neun Menschen, die aus dem World Trade Center in den Tod sprangen, und zoomte mit digitaler Technik soweit in die Bilder, dass diese als Individuen in einer verzweifelten Situation begreifbar wurden. Kritik erntete sie dafür aufgrund der Möglichkeit, dass diese Personen auf den Bildern von ihren Angehörigen erkannt werden könnten und damit Leid verursacht würde.

Carolee Schneemann starb am 6. März dieses Jahres. Deutschlandfunk Kultur führte anlässlich ihres Todes ein Interview mit Sabine Breitwieser, die Schneemanns Kunst 2015 für das Museum der Moderne in Salzburg kuratierte.

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