Kategorie: Aktivistin

52/2023: Marjan Sax, 26. Dezember 1947

Wer in Düsseldorf und Umgebung lebt und dort ab und zu einkauft, dem ist das Carsch-Haus ein Begriff, ein Kaufhaus im Baustil des Neo-Klassizismus, das einen gesamten Block umfasste. Das Gebäude hat eine bewegte Geschichte: es wurde im Krieg stark beschädigt, beherbergte nach dem Krieg Institute der Reeducation, um dann später nach einem Umzug – das Gebäude wurde eingerissen, die Fassade an einem ortsversetzten ähnlichen Gebäude befestigt – wieder lange Zeit ein Kaufhaus zu sein (der eigentliche Ort des ehemaligen Carsch-Hauses ist heute nur noch ein kleiner Platz mit einem Ausstieg aus einem Parkhaus, wenn ich mich nicht täusche). Seinen Namen erhielt das Haus vom jüdischen Inhaber des Textil-Einzelhändlerunternehmens Carsch & Co., Paul Carsch. Dieser war mit Herren- und Knaben-Konfektionskleidung erfolgreich und reich geworden – aufgrund der Maßnahmen der Arisierung unter den Nationalsozialisten musste er 1933 allerdings zwangsweise sein Unternehmen an seinen Prokuristen verkaufen. Eine monatliche Rente für Carsch und seine Familie wurde zwar vereinbart, doch der Betrag, den er für sein Unternehmen erhielt, bleib (selbstverständlich) weit unter Wert. Paul und Bella Carsch konnten mit ihren beiden Kindern Walter und Else rechtzeitig nach Amsterdam auswandern und überlebten dort den Zweiten Weltkrieg in einem Versteck. Paul Carsch erhielt nie eine Entschädigung für den erlittenen Verlust.

Walter Carsch floh von Amsterdam aus weiter in die USA, Else Carsch heiratete in Amsterdam den ehemaligen Viehhändler Josef Sax, ebenfalls vor den Nazis geflohener Jude. 1947 kam ihre gemeinsame Tochter Marjan zur Welt.

Marjan Sax studierte Politik und engagierte sich während des Studiums stark in der Feminismus-Bewegung. Sie war beteiligt an der 1969 gegründeten Dolle Mina, ein Organistation für den Kampf für Frauenrechte, benannt nach Wilhelmina Drucker, außerdem an der Gründung des Vrouwenhuis in Amsterdam 1973, einem Ort für Frauen-Gesprächs- und Aktionsgruppen, der Vereinigung Wij Vrouwen Eisen (Wir Frauen fordern) 1974, die sich für das Recht auf Abtreibung einsetzte, des Saarein, dem ältesten noch bestehenden Frauen-Cafés in Amsterdam, sowie der Abteilung für Frauenforschung an der Universität von Amsterdam. 1976 leitete Sax – ungeplant – die Besetzung der Abtreibungsklinik Bloemenhove durch Wij Vrouwen Eisen, die dazu führte, das die geplante Schließung abgewendet wurde; diese Aktion gilt als mitentscheidend bei der Änderung der niederländischen Gesetzeslage hinsichtlich der Legalität und Verfügbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen. Ein kleiner autobiografischer Rückblick darauf findet sich auf dieser Seite:

Marjan Sax‘ Vater war bereits 1973 verstorben und hatte ihr als Alleinerbin 2,5 Millionen Gulden hinterlassen, die er nach dem Krieg im Metallhandel gewonnen hatte. Sie ließ das Geld zunächst auf dem Konto ruhen, da sie mit dieser Summer nichts anzufangen wusste und Vermögen in den politischen Kreisen, in denen sie sich bewegte, als ‚gauche‚ betrachtet wurde.(1) Sie arbeitete 1977 bis 1981 als Teamleiterin an einer Hochschule, 1982 war sie Mitbegründerin des Lesbisch Archief Amsterdam, heute in der Stiftung Internationales Homo/Lesbisches Informationszentrum und Archiv (IHLIA) integriert.

Ebenfalls 1982 fand Sax schließlich die richtige Verwendung für das geerbte Vermögen: Sie rief Mama Cash (Link Englisch) ins Leben, eine Stiftung zur Unterstützung und Förderung von feministischen Projekten, in der sie bis 2003 verschiedene leitende Funktionen einnahm. Die Stiftung gibt bis heute Fördergelder an Projekte und Aktivismusgruppen des Feminismus.

Nach der Gründung von Mama Cash arbeitete Sax von 1983 bis 1986 bei der Stichtig Vrouwen en Media (Stiftung Frauen und Medien) in der Erforschung der Situation von Journalistinnen bei niederländischen Tageszeitungen. Von 1985 war sie auch am Roze Draad (Rosa Draht) beteiligt, einer Unterstützerbewegung des Sexarbeiter*innen-Vereins De Rode Draad (Der Rote Draad), der 2012 für bankrott erklärt und aufgelöst werden musste. Außerdem unterstützte sie bei Vrouwen Tegen Uitzetting (Frauen gegen Ausweisung) weiblich Asylsuchende, und noch heute ist sie Mitgleid im Ehrenrat der jüdischen, israelkritischen Stiftung Een Ander Joods Geluid (Eine andere jüdische Stimme).


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem: (1) Mama Cash

51/2023: Gila Goldstein, 18. Dezember 1947

Grabstein von Gila Goldstein, by Danny-w – Own work, CC BY-SA 3.0

Gila Goldstein kam in Turin, Italien, auf die Welt, immigrierte in früher Kindheit mit ihrer Familie nach Israel und wuchs in Haifa auf. Mit 13 Jahren verstand sie, dass sie trans* war, und begann in ihrer weiblichen Identität unter dem Namen Gila zu leben. Sie musste survival sex praktizieren – sexuelle Handlungen gegen Unterkunft, Verpflegung und Sicherheit –, überlebte auf diese Weise jedoch, bis sie 1965, mit 18 Jahren, eine geschlechtsangleichende Operation in Belgien vornehmen lassen konnte – sie war damit die erste israelische trans* Frau, die diese Operation hatte durchführen lassen, doch bereits die zweite israelische Frau, die offen trans* lebte, nach Rina Natan (Link Englisch).

Goldstein blieb in Europa und trat als (Strip-Tease-)Tänzerin auf. Erst Mitte der 1970er Jahre kehrte sie nach Israel zurück, wo sie ebenfalls als Tänzerin arbeitete, unter anderem in der Bar 51. Amos Guttman, ein schwuler israelischer Regisseur, basierte die Figur der Stripperin Apolonia Goldstein in seinem Film ‚Bar 51‚ auf Gila.

1975 war Goldstein an der Gründung der Agudah – damals noch unter dem Namen ‚Gesellschaft für den Schutz persönlicher Rechte‘ – der nationalen Organisation der LGBTQIA+Community Israels. Für ihre Arbeit im Kampf für die Rechte queerer Menschen sollte sie 2003 einen Preis gewinnen.

In den 1990er Jahren begann Goldstein ihre Karriere als Sängerin, so war sie im Club Allenby 58 fest engagiert und nahm auch einige Platten auf; zum Jahrtausendwechsel fing sie auch mit der Schauspielerei an und gewann 2005 für ihre Rolle in ‚Yeladim Tovim (Good Boys)‚ eine Auszeichnung als beste Nebendarstellerin beim Miami LGBT Film Festival. Fünf Jahre später erschien ein Dokumentarfilm über sie selbst: ‚That’s Gila, that’s me‚.

The Gila Project‚, eine israelische Organisation zur Unterstützung von trans* Jugendlichen, die 2011 gegründet wurde, ist nach ihr benannt; 2015 führte Goldstein die Tel Aviv Pride Parade an. Zwei Jahre später verstarb sie 70-jährig nach einem Schlaganfall, die Meldungen zu ihrem Tod bezeichneten sie teilweise mit dem männlichen Namen ‚Ilan Ronen‘ – nicht ihr deadname, sondern ein erfundener Name, den Gila sich für bürokratische Probleme ausgedacht und in den Ausweis eingetragen hatte. Ihre Familie stellte jedoch sicher, dass ihr richtiger Name – Gila Goldstein – auf ihrem Grabstein stand.

Am 4. Juni dieses Jahre widmete Google ihr ein Doodle für Zugriffe aus Israel, um an ihren bahnbrechenden Aktivismus für die LGBTQIA+Community in Israel zu erinnern.


Quelle Biografie: Wiki englisch

50/2023: Lucia Sánchez Saornil, 13. Dezember 1895

Geboren in eine Madrider Arbeiterfamilie mit einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester, verlor Lucia Sánchez Saornil früh die Mutter und den Bruder und wurde vom verwitweten Vater großgezogen.(1) Sie war lyrische Autodidaktin, deren Gedichte – unter dem männlichem Pseudonym Luciano de San-Saor – in Magazinen des Futurismus veröffentlicht wurden; das Pseudonym war nicht nur ein für Frauen der Zeit übliches Instrument, um überhaupt ernst genommen zu werden, es ermöglichte Sánchez Saornil auch eine erotische Explizität, insbesondere, da sie über sexuelle Begegnungen mit Frauen schrieb.

Mit 21 Jahren begann sie beim Arbeitgeber ihres Vater, der Telefónica, als Telefonistin zu arbeiten; parallel besuchte sie die Real Academia de Bellas Artes de San Fernando zu einem Studium der Malerei. In den kommenden Jahren trat sie jedoch mehr und mehr mit ihren Texten in die Öffentlichkeit, als Lyrikerin aus dem Umkreis des Ultarismus, doch auch mit politischen Texten, in denen sie die Positionen des Anarchosyndikalismus vertrat. Kurz, nachdem die Zweite Spanische Republik 1931 ausgerufen worden war, beteiligte sich Sánchez Saornil, schon nicht mehr bei Telefónica beschäftigt, an einer Streikaktion gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber teil. Auf diesem Weg kam sie in Kontakt mit der Confederación Nacional de Trabajo (CNT), einem Zusammenschluss anarchosyndikalistischer Gewerkschaften Spaniens, für die sie in den kommenden Jahren als Redaktionssekretärin(1) arbeitete. Innerhalb der politischen Arbeit für die CNT begann sie sich immer mehr dafür einzusetzen, dass die gesellschaftlichen Umwälzungen zugunsten der Arbeiterklasse gleichzeitig die Gleichberechtigung der Frauen mit sich bringen müssten; den wichtigsten Weg dahin sah sie in der Bildung der Frau, aber auch in der Bewusstmachung der Thematik innerhalb der – männlich dominierten – politischen Arbeit. In Barcelona versuchte sie, bei einigen Gewerkschaften Ressourcen für eine Organisation für die Frauenbildung zu gewinnen, ohne Erfolg, woraufhin si enach Madrid zurückkehrte.

In ihrer Heimatstadt lernte sie die Jurastudentin Mercedes Comaposada kennen. Die beiden Frauen wurden 1933 als ‚Lehrerinnen‘ zu einer Versammlung des CNT eingeladen, um die Genossen für die Probleme der Frauen innerhalb des Arbeiterkampfes zu sensibilisieren und ihre Forderung nach Gleichberechtigung zu erläutern. Sie stießen hier auf taube Ohren – die meisten Männer hatten, bei aller politische Progressivität, eine sehr traditionelle Vorstellung von der Rolle der Frau oder empfanden die gesonderte Aufmerksamkeit für die weibliche Unterdrückung als energiezehrende ‚Aufspaltung‘. Sánchez Saornil und Comaposada begannen daraufhin, über die Gründung einer eigenen Organisation nachzudenken; Sánchez Saornil, die zu dieser Zeit für eine Bahngewerkschaft arbeitete, trug dafür eine Liste der anarchosyndikalistischen Frauengruppen ganz Spaniens zusammen und nahm Korrespondenz zu ihnen auf. Sie erhielten Rückmeldungen von überallher – mit ähnlichen Frustrationen – und so entwickelte sich bis 1935 aus ihren Briefwechseln die Basis für eine landesweite Frauenbewegung. Gleichzeitig veröffentlichte Sánchez Saornil vermehrt Artikel, in denen sie die Gleichberechtigungsforderung thematisierte; dabei schreckte sie auch vor einem öffentlcihen Schlagabtausch mit dem Generalsekretär des CNT zurück, der der Meinung war, zunächst müsse der Klassenkampf gewonnen werden, bevor man sich der geschlechtsspezifischen Problematik zuwenden könnte. Gemeinsam mit der Medizinerin Amparo Poch y Gascón schließlich riefen Sánchez Saornil und Comaposada 1936, wenige Monate vor dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges die Mujeres Libres (Freie Frauen) ins Leben. Die Organisation verschrieb sich der Forderung nach Frauenbildung in der Arbeiterklasse, der Ermöglichung von Ausbildung in der Industrie für Frauen, sowie der Bewußtseinsförderung der Unterdrückung der Frau im besonderen. Frauen seien innerhalb des politischen Kampfes von ihrer dreifachen Versklavung zu befreien: Durch Unwissenheit, Sexismus und Ausbeutung.

Schon in der CNT wie auch bei den Mujeres Libres galt Sánchez Saornil als scharfsinnige, gut organisierte ‚politische Brandstifterin‘ und ausgezeichnete Rednerin. Als der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, war Sánchez Saornil an der Verteidigung beteiligt und verlegte ihre Tätigkeit auf die Kriegsberichterstattung. Sie setzte ihre Lyrik als Instrument der Agitprop ein und erregte damit international Aufmerksamkeit; so wurde die US-amerikanische Friedensaktivistin Emma Goldman durch Sánchez Saornil dazu bewegt, die internationale Unterstützung der Spanischen Republik gegen die Franquisten zu organisieren.

Nachdem Madrid gefallen war, folgte sie der republikanischen Regierung nach Valencia und arbeitete dort in den folgenden Jahren als Redakteurin der anarchistischen Presse sowie als Generalsekretärin der Solidaridad Internacional Antifascista (SIA, ‚Internationale Antifaschistische Solidarität‘), für die sie regelmäßig die Front besuchte. Zu dieser Zeit lernte sie auch ihre Lebensgefährtin América Barroso kennen. Die Mujeres Libres bestanden inzwischen aus etwa 20.000 Frauen, die auf der Seite der Republik im Bürgerkrieg kämpften; von ihren politischen Genossen erhielt die Organisation jedoch wenig Unterstützung, selbst, als sie sich offiziell als nationaler Verbund formierten. Zur gleichen Zeit lehnte jedoch Sánchez Saornil selbst auch den Zusammenschluss zum Beispiel mit anderen, kommunistischen Frauenorganisationen ab, mit der Begründung, dass nur in politischer Einigkeit – nicht durch ‚weibliche‘ Einigkeit – die menschliche Diversität abgebildet werden könne.

Als die Franquisten 1939 den Bürgerkrieg gewonnen hatten, floh Sánchez Saornil mit Barroso zunächst nach Frankreich, wo sie noch immer im Auftrag des SIA spanische Kriegsflüchtlinge unterstützte. Als Anarchistin war sie nach dem Fall der französischen Regierung in Paris im Westfeldzug der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt und entging nur knapp dem Konzentrationslager. Anfang der 1940er Jahre kehrte sie mit ihrer Lebensgefährtin heimlich nach Spanien zurück – da sie nie fotografiert worden war und zumeist unter Pseudonym veröffentlicht hatte, konnte sie unerkannt bleiben. Die Mujeres Libres hatten sich unter dem faschistischen Franco-Regime aufgelöst, ihre Genossinnen verschwiegen bis dessen Ende nach Möglichkeit ihre Zugehörigkeit. Sánchez Saornil konnte sich einen geringen Lebensunterhalt mit Bildbearbeitung verdienen, später jedoch, nachdem sie in Madrid erkannt worden war und fliehen musste(1), war sie in Valencia vom Wohlwollen der Familie ihrer Lebensgefährtin abhängig – auch diese lesbische Beziehung musste selbstverständlich geheim bleiben.

Am Ende ihres Lebens pflegte sie ihre Schwester, die an einer chronischen Erkrankung litt; drei Monate nach deren Tod verstarb auch Lucía Sánchez Saornil, am 2. Juni 1970 mit 75 Jahren an Lungenkrebs. América Barroso ließ eine Zeile aus einem ihrer Gedichte auf ihren Grabstein meißeln: „Aber…ist es wahr? Ist alle Hoffnung tot?”(1)

Dass wir noch heute im Feminismus nicht weiter sind als vor 90 Jahren – dass noch immer der Kampf um Gleichberechtigung der Frau, insbesondere der Mutter, daran krankt, dass vor der politischen Arbeit noch stets die Care-Arbeit kommt, die ihr niemand abnimmt und die ihre Energie auffrisst, beweist dieser Artikel von 1935 aus Lucía Sánchez Saornils Feder: The Woman Question in Our Ranks.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) Anarchismus.at

49/2023: Mao Hengfeng, 9. Dezember 1961

CN: Zwangsabbruch, später Abbruch

Die Ein-Kind-Politik, die China 1980 landesweit einführte, wurde aufgrund von mangelnder Infrastruktur zwar niemals vollständig durchgesetzt, insbesondere auf dem Land. Wo sie durchgesetzt wurde, führte sie zu großem Leid.

Mao Hengfeng hatte bereits Zwillinge, als sie 1988 zum zweiten Mal schwanger wurde. Ihr Arbeitgeber entließ sie daraufhin – denn zu den Maßnahmen gehörte auch, dass Nachbarschaften oder Betriebe eine Geburtenquote zugeteilt bekamen, deren Überschreitung kollektiv bestraft wurde. Hengfeng weigerte sich, eine Zwangsabtreibung vornehmen zu lassen, und wurde dafür in ein Ankang eingewiesen, eine psychiatrische Anstalt, in der jedoch auch immer wieder politisch Verfolgte als ‚psychisch krank‘ inhaftiert werden. Das Kind kam im Februar 1989 auf die Welt, im März erhielt Hengfeng die Nachricht, dass sie ihre Stelle verloren hätte, weil sie 16 Tage lang ‚unbefugten Urlaub‘ genommen habe – dies bezeichnete die Zeit im Ankang und im Wochenbett. Hengfeng legte Berufung ein und durfte zunächst tatsächlich in ihre Arbeit zurückkehren.

Ihr Arbeitgeber legte jedoch ebenfalls Berufung ein. Bei dem Gerichtstermin war Mao Hengfeng inzwischen im 7. Monat ihrer dritten Schwangerschaft; die Richterin stellte ihr in Aussicht, zu ihren Gunsten zu entscheiden, sollte Hengfeng diese – gegen die staatliche Maßgabe verstoßende – Schwangerschaft abbrechen. Hengfeng entschied sich dafür, doch dennoch wurde der Berufung ihres Arbeitgebers stattgegeben.

Zwischen 1990 und 2004 reichte Hengfeng immer wieder Petitionen ein, in denen sie Entschädigung und Wiedergutmachung forderte nicht nur für die unrechtmäßige Entlassung oder den Schwangerschaftsabbruch, den sie unter Druck hatte vornehmen lassen, sondern auch für die Verweigerung von Menschenrechten wie der Meinungsfreiheit durch den chinesischen Staat. Ihre Petitionen blieben allerdings nicht nur ohne Erfolg, sondenr wurden gänzlich ignoriert. Aus dem Aktivismus für die selbst erlittenen Ungerechtigkeiten entwickelte Hengfeng einen politischen Aktivismus auch für andere, die unrechtmäßig in Ankangs oder in ‚RTL‚-Lagern inhaftiert waren – Haftanstalten zur ‚Umerziehung durch Arbeit‚, in denen Kleinkriminelle ohne einen Gerichtsbeschluss bis zu vier Jahre lang festgehalten werden konnten.

Bis 2011 wurde Mao Hengfeng immer wieder unter Polizeiüberwachung oder Hausarrest gestellt oder in ‚RTL‚-Lager verbracht, etwa für die Unterstützung anderer Petitionseinreichenden oder ‚Bittsteller‘. Nachdem sie in einem Hausarrest in einer staatlichen Wohnung zwei Lampen zerstört hatte, wurde sie wegen ‚vorsätzlicher Zerstörung von Eigentum‘ zu zweieinhalb Jahren Haft im Frauengefängnis in Shanghai verurteilt. Hier erlitt sie Misshandlungen und wurde 70 Tage lang in Einzelhaft gehalten –selbst in China sind höchstens 15 Tage Isolation gesetzlich erlaubt.

Für ihren Protest und die Unterstützung von Liu Xiaobo kam Hengfeng schließlich 2010 ein weiteres Mal in ein ‚RTL‚-Lager. Hier wurde sie gefoltert, erlitt Zwangsernährung, während ihr gleichzeitig die Lebensmittel, die ihre Familie ihr zusandte, vorenthalten wurden; andere Insassinnen wurden aufgefordert, sie zu überwachen und zu schlagen, wenn sie ihre Zelle verließ. Sie verbrachte Zeit in einem Gefängniskrankenhaus, wo auch festgestellt wurde, dass die Misshandlungen bei ihr Blutungen im Gehirn verursacht hatten. Am 28. Juli 2011 wurde sie ohne die Benachrichtigung ihrer Familienangehörigen in einem Rollstuhl vor ihre Wohnung gestellt, unfähig, sich bemerkbar zu machen oder sich auch nur aufzurichten. Nachdem sie schließlich gefunden wurde, versuchte ihre Familie sie am folgenden Tag in ein Krankenhaus zu bringen, doch die Polizei verhindete dies: Es fanden zu dieser Zeit die 14. Schwimmweltmeisterschaften in Shanghai statt und ‚Menschen wie sie‘ dürften in dieser Zeit nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden. Erst nach der Meisterschaft könnte sie sich wieder frei bewegen; wahrscheinlich jedoch steht sie bis heute unter Überwachung durch die Polizei.


Dass eine Regulierung der Familienplanung durch den Staat ein unrechtmäßiger Eingriff ist, der insbesondere für Menschen mit Uterus, aber auch die Kinder, die darunter gezeugt, gar geboren werden, schreckliche Konsequenzen hat – und es macht wenig Unterschied, ob es um eine Senkung oder eine Steigerung der Geburtenrate geht – steht völlig außer Frage. In einer patriarchalen Gesellschaft, wie es auch China ist, hat eine solche Geburtenregulierung jedoch noch andere, gesamtgesellschaftliche Folgen. Da auch in China die Erblinie über die männliche Nachkommenschaft verläuft, wurden – selbstverständlich – Schwangerschaften mit weiblich gelesenen Embryos häufiger angebrochen als mit männlich gelesenen Embryos. Nicht nur verzeichnet China nun mit den inzwischen erwachsenen Generationen ein Phänomen namens ‚kleiner Kaiser‘ – von sämtlichen Verwandten verwöhnte Einzelkinder mit wenig Sozialkompetenz – sondern ein übermäßiges Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern: Bis 2009 war das Verhältnis von männlich gelesenen Kindern zu weiblich gelesenen Kindern 120:100 (statt einer statistisch wahrscheinlichen 1:1-Rate). Die vornehmlich männlichen ‚kleinen Kaiser‘ haben daher wesentlich schlechtere Chancen, eine Partnerin zu finden, schon alleine, weil es so wenige zu finden gibt – die Geburtenrate bleibt somit langfristig niedrig und das lässt sich nicht mehr verändern.

Neben der Tatsache, dass Schwangerschaften generell, aber insbesondere mit weiblich gelesenen Embryos bis ins 3. Trimester noch ‚abgebrochen‘ wurden – und in diesem Fall halte ich den Begriff der Kindstötung im Mutterleib bei ansonsten lebensfähigem Embryo für angebracht – ist auch der Fakt erschreckend, dass weiblich gelesene Kinder, die auf die Welt kamen, aus dem gleichen Grund oft in Kinderheimen vor dem Staat versteckt wurden, in denen sie meist grausam vernachlässigt wurden. Die chinesische Ein-Kind-Politik war also für alle Menschen mit Uterus eine absolute, misogyne Katastrophe.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch

48/2023: Laura „Lau“ Mazirel, 29. November 1907

Geboren und zu Teilen aufgewachsen im Dorf Gennep, das im Osten and Kleve und Goch grenzt, lernte die Tochter eines Eisenbahners und einer Lehrerin von früh auf Niederländisch und Deutsch. Ihre Eltern waren Pazifisten und sie erzogen ihr einziges Kind auch mit dieser Geisteshaltung. Als Laura zehn Jahre alt war, zog die Familie nach Utrecht, wo sie nach der weiterführenden Schule ebenfalls als Lehrerin arbeitete, während sie in der Abendschule Jura und Psychologie studierte. Nachdem sie darin ihren Abschluss gemacht hatte, machte sie eine Wanderung nach Spanien (möglicherweise den Jakobsweg nach Santiago de Compostela?).(1)

Von 1930 an lebte sie in Amsterdam, wo sie zunächst als Lehrerin und Reiseleiterin arbeitete. Sie schloss sich der sozialistischen Kommune ‚Roode Kloster‚ an, engagierte sich im Sociaal Demokratischen Studentenclub (Sozialdemokratischer Studentenclub, SDSC) und in der Sociaal-Democratische Arbeiderspartij (Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP), außerdem beriet sie das Medisch Opvoedkundig Bureau (Büro für medizinische Bildung) in Rechtsfragen. Sie ging – als Gegnerin der traditionellen Ehe mit all ihren Konsequenzen für die Rechte der Ehefrau – eine ‚freie Ehe‘ mit einem Mann ein; diese ‚freie Ehe‘ schloss sie durch Bezeugung des Bündnisses vor Freunden, zwei Söhne gingen aus der Ehe hervor.

Mit 30 Jahren eröffnete sie 1937 ihr eigenes Rechtsanwaltsbüro; hier vertrat sie vor allem Klienten, die aufgrund des §248 verfolgt wurden, der homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Minderjährigen strafbar machte – als minderjährig galten zu dieser Zeit Menschen unter 21 Jahren. Der andere Teil ihrer juristischen Arbeit galt der Unterstützung von Flüchtlingen – darunter die zahlreichen Juden und Sinti*ze und Rom*nja, die vor dem faschistischen Regime aus Deutschland in die Niederlande geflohen waren. Sie half bei der Regelung von Familienangelegenheiten, und bei Problemen mit der Ausländerbehörde. Im gleichen Jahr, in dem sie ihr Büro eröffnete, wohnte sie auch einem Kongress auf der Weltausstellung in Paris bei, auf dem sie von der Theorie und der Planung der ‚Rassenhygiene‚ durch deutsche Wissenschaftler hörte und sogleich verstand, welche Folgen das für Juden und Sinti und Roma haben würde. Um sich selbst ein Bild zu machen, besuchte Mazirel ein ‚Entlausungscamp‘ für Rom*nja in Deutschland und fotografierte die Zustände dort. Als sie in die Niederlande zurückkehrte, versuchte sie, die Behörden und jüdischen Institutionen davor zu warnen, persönliche Angaben wie Religion und Interessen behördlich registrieren zu lassen, weil sie verstand, dass dies die staatliche Verfolgung aufgrund dieser Angaben erleichtern würde. Ihre Warnung fanden jedoch kein Gehör.

Nachdem im Mai 1940 Deutschland die Niederlande besetzte, war Laura Mazirel im Widerstand aktiv. Ihr Rechtsanwaltsbüro blieb weiterhin Anlaufstelle für Homosexuelle und Flüchtlinge und diente als Tarnung für die Weiterleitung von Informationen, die Kontaktaufnahme und die Organisation von Unterkünften von Menschen im Widerstand. Mazirel schloss sich den ‚Vrije Groepen Amsterdam‚ an; unter der Identität der Säuglingsschwester Noortje Wijnands war sie im Untergrund aktiv, während sie als Anwältin Laura Mazirel – die sehr gut Deutsch sprach – in Kontakt kam mit hochrangigen deutschen Militärs wie Ferdinand aus der Fünten. Aufgrunddessen wusste sie, was mit den Deportierten geschehen würde. Sie brachte Juden bei sich unter und gab jedes Jahr ein Neugeborenes einer jüdischen Familie bei den Behörden als ein eigenes an. Auch gehörte sie zur Gruppe um Walter Süskind, die Kinder aus der Hollandsche Schouwburg rettete, und sie soll noch auf den Gleisen des Bahnhofes oder aus bereits abgefahrenen Zügen Kinder aus den Waggons geholt haben. Ihr jüdischer Ehemann und ihre zwei Söhne – nach den deutschen ‚Rassengesetzen‘ ebenfalls Juden – mussten 1942 untertauchen.(1)

Im Folgejahr war Mazirel an dem Anschlag auf das Einwohnermeldeamt Amsterdam beteiligt, bei dem zahlreiche Personendaten zerstört und entwendet werden konnten. Die deutschen Besatzer hatten 1941 Personalausweise mit Bild und Fingerabdruck eingeführt, und dies erleichterte, wie Mazirel bereits früh geahnt hatte, die Verfolgung, Aushebung und Deportation von Juden, Sinti*ze und Rom*nja, Homosexuellen und anderen im Faschismus unerwünschten Personen. Mazirel wollte bei dem Anschlag vor Ort sein, doch Gerrit van der Veen hielt sie für nicht glaubwürdig in einer Polizeiuniform – die Verkleidung, mit der sich die Gruppe Einlass in der Behörde verschaffte. Außerdem fand er, sie könne als Anwältin noch andere, wichtigere Aufgaben für den Widerstand erfüllen. Die Aktion war ein großer Erfolg: Das Zentralregister für ganz Amsterdam war in der ehemaligen Konzerthalle des Amsterdamer Zoos Artis untergebracht; die Widerständler*innen konnten eindringen und Feuer in der Kartothek legen. Die – hauptsächlich niederländisch besetzte – Feuerwehr trug anschließend ebenfalls zum Erfolg des Einsatzes bei, indem sie sich Zeit ließ mit dem Eintreffen und dann auch noch wesentlich mehr Wasser als nötig einsetzte. Was an Dokumenten nicht verbrannte, erlitt so einen Wasserschaden. 800.000 Karteikarten zu Amsterdamer Bürgern wurden zerstört, außerdem konnte die Gruppe 600 Blankoausweise zum Fälschen entwenden sowie 50.000 Gulden. Der Erfolg des Anschlags diente der Stärkung des Widerstands ebenso, wie er die Erfassung und somit Deportation von Verfolgten massiv erschwerte.

Elf der Beteiligten konnten in den kommenden Monaten aufgrund von Verrat verhaftet werden, sie wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Eine der Widerständler*innen, Frieda Belinfante, konnte der Verfolgung entkommen, indem sie sich als Mann verkleidete. Gerrit van der Veen wurde im nächsten Jahr ebenfalls aufgegriffen, verurteilt und hingerichtet. Mazirel besuchte ihn am Tag vor seinem Tod, er soll zu ihr gesagt haben, sie möge der Welt erzählen, dass Homosexuelle ebenso mutig sein können wie alle anderen. Ihre Antwort darauf: „Als Frau weiß ich, dass das Geschlechts nichts mit Mut zu tun hat.“(1)

1944 wurde auch Laura Mazirel von den Deutschen verhaftet. Sie wurde zwar nach sechs Wochen wieder auf freien Fuß gesetzt, weil ihre Akte verschwunden war und somit unklar, was ihr vorgeworfen wurde. Doch sie erlitt in dieser Zeit Misshandlungen, die den Rest ihres Lebens Folgen für ihre Gesundheit haben sollten.

Nach dem Krieg setzte Mazirel ihre Arbeit als Rechtsanwältin in Fragen zu Einbürgerung und Namensänderung fort. Sie trat für die Rechte der LGBTQIA+Community ein und kämpfte für das Recht auf Abtreibung. Sie wurde Mitglied der Partij van de Arbeid, trat dort aufgrund der Haltung zu den ‚Polizeiaktionen‘ in Indonesien jedoch wieder aus. Mit Robert Hartog, den sie im Untergrund während des Zweiten Weltkriegs kennengelernt hatte, ging sie eine notarielle Ehe und bekam einen Sohn von ihm. Mitte der 1950er Jahre zwang ihr Gesundheitszustand sie dazu, ihren Beruf aufzugeben; die Familie zog nach Frankreich aufs Land. Sie trat 1957 noch, kurz nach deren Gründung, der Pacifistisch Socialistische Partij bei. 1973 kam ihr jüngster Sohn bei einem Autounfall ums Leben, sechs Monate später starb Laura Mazirel, kurz vor ihrem 67. Geburtstag.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) Resources Huygens, Vrouwenlexicon

47/2023: Erica Malunguinho, 20. November 1981

Die Region Brasiliens, in der Erica Malunguinho geboren wurde und aufwuchs, ist geprägt von der Kultur aus Afrika nach Südamerika verschleppter Sklaven. In Recife, Hauptstadt der Provinz Pernambuco im Nordosten des Landes, machen PoC einen Großteil der Bevölkerung aus; Água Fria, der Stadtteil, in dem Malunguinhos Familie lebte, ist eine vornehmlich von Schwarzen bewohnte Nachbarschaft. Ihre Mutter war gebildet und arbeitete als Krankenpflegerin, sie sorgte auch für Ericas gute Ausbildung. Die Musik und Ästhetik des Jurema Sagrada* hatte starken Einfluss auf Malunguinhos künstlerische Entwicklung. Gleichzeitig erlebte sie nicht nur Rassismus, sondern auch Colorismus – hierarische Abwertung innerhalb der Schwarzen Gemeinschaft aufgrund dunklerer Haut.


*Jurema ist eine in Brasilien heimische Akazienart, die in diesem Kult als heilig (‚sagrada‚) gilt; der Baum liefert mit Holz und Blättern Baumaterialien, und Getränke, Aufgüsse und Salben aus seinen Bestandteilen werden für rituelle Handlungen verwendet. Die Religion vereint den Naturglauben der indigenen brasilianischen Bevölkerung mit der afrikanischen Religion der Yoruba sowie dem Katholizismus.


Nach der weiterführenden Schule ging Malunguinho nach São Paulo. Die räumliche Veränderung und das Studium der Kunstgeschichte und der Ästhetik gehörten zu einer Befreiung, bei der sie auch ihre Genderidentität erkannte und akzeptierte. Sie begann ihre Transition und wählte ihren Namen: ‚Malungo‘ ist ein Bantu-Wort, das eine*n Reisegefährt*in bezeichnet, ‚-inho‚ ist die portugiesische Verniedlichungsform.

Bereits während ihres Studiums bezog Malunguinho ein Studio im Stadtbezirk Campos Eliseos, von dem aus sie als Künstlerin in vielen Kunstformen tätig ist; im Laufe der Zeit baute sie ihr Studio zu dem Kulturzentrum ‚Aparelha Luzia‚* aus, in dem vornehmlich Schwarze Kunst, Unterhaltung und Politik zusammenkommen. Es dient als safe space für von Diskriminierung Betroffene, sowohl aufgrund der Hautfarbe wie auch der Orientierung und Identität – ein Knotenpunkt für Bildung, Austausch und gegenseitige Unterstützung, frei zugänglich für alle.


*Aparelho waren Zellen des zivilen Widerstand gegen die Militärdiktatur von 1964 bis in die 1980er Jahre; Malunguinhos Kulturzentrum versteht sich als ein solches Zentrum des zivilen Widerstands mit einer weiblichen Basis, weshalb es ‚aparelha‘ heißt. Luzia ist der Name eines der ältesten Skelette, die audf dem Kontinent gefunden wurden, ein Fossil der frühesten Einwohner Südamerikas. Den Brand des Nationalmuseums 2018 überstand zumindest der Schädel und einige Teile ihrer weiteren Überreste.(1)

Malunguinho bezeichnet das ‚Aparelha Luzia‚ auch als ein ‚quilombo‚: Dies waren, zum Teil wehrhafte, Siedlungen geflohener Sklaven in Brasilien, in denen sich eben solche Kulturen wie die der Jurema Sagrada entwickeln konnten. Malunguinho nimmt damit Bezug auf die Fähigkeit und den Willen der maroons, ihre eigene Gesellschaft nach ihrer Tradition und ihren Vorstellungen aufzubauen.


Es war die Ermordung der Politikerin Marielle Franco, die Erica Malunguinho dazu bewegte, sich aktiv politisch zu betätigen. Für die Partido Socialismo e Liberdade (Partei für Sozialismus und Freiheit) trat sie 2018, unterstützt vom Kollektiv des ‚Aparelha Luzia‚, für die Parlamentswahlen für den Bundesstaat São Paulo an und gewann einen Platz, am gleichen Tag, an dem Jair Bolsonaro zum Präsidenten des Landes gewählt wurde. (1) Sie war die erste trans* Frau, die in Brasilien in ein Parlament gewählt wurde. Ihr politisches Programm richtet sich vor allem gegen Rassismus und die Diskriminierung von Menschen in der LGBTQIA+Gemeinschaft, außerdem hat sie es sich zum Ziel gesetzt, Obdachlosigkeit zu bekämpfen, Opfern von sexueller Gewalt eine bessere Versorgung in Krankenhäusern zu ermöglichen und den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu erleichtern. Malunguinho möchte dem Publikum in ihrem quilombo auch verdeutlichen, dass das Private politisch ist und dass die Bevölkerung die Politik mitgestalten kann.(1)

Rosa-Luxemburg-Stiftung: Interview mit Erica Malunguinho „Queer sein in Brasilien ist ein Akt der Rebellion“

Quelle Biografie: Wiki englisch
außerdem:
(1) The Nation

46/2023: Ursula Eggli, 16. November 1944

Ursula Egglis Eltern waren einfache Leute im kleinen Schweizer Ort Dachsen, der Vater Arbeiter, die Mutter Kinderschneiderin und Näherin. Ursula kam als ältestes von drei Geschwistern auf die Welt; nachdem sie sich mit dem Laufenlernen schwer tat, benötigte es verschiedene Ärzte, bis die Diagnose Spinale Muskelatrophie (‚Muskelschwund‘) erfolgte. Ihr Leben auf dem Dorf blieb zunächst jedoch relativ idyllisch: Sie wurde von Nachbarskindern und ihrem Bruder Daniel im Kinderwagen geschoben, wenn sie allein war, las sie und dachte sich Geschichten aus. Sie ging auch – als einziges Mädchen unter 24 Jungen – für drei Jahre in die Dorfschule.

Mit neun Jahren jedoch kam sie in ein Heim für behinderte Kinder; ihr zweiter Bruder, Christoph, war ebenfalls mit Muskelatrophie zur Welt gekommen, was die diabeteskranke Mutter belastete; die Dorfschule sah sich ebenfalls von den Anforderungen überlastet. Im Heim beendete Eggli die Schule, danach kehrte sie zunächst nach Dachsen zurück.(1)

Anfang der 1970er Jahre gründete sie mit behinderten und nicht-behinderten Freund*innen eine WG. 1977 veröffentlichte Eggli ihr erstes Buch, ‚Herz im Korsett‘, in dem sie im Tagebuchstil aus dem WG-Leben erzählt. Darin brach sie das Tabu, über sexuelle Bedürfnisse und sexuelles Erleben behinderter Menschen, insbesondere Frauen, zu sprechen.

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung trat Ursula Eggli mit ihren Freund*innen im Dokumentarfilm ‚Behinderte Liebe‘ auf, der ebenfalls die Schwierigkeit schildert, ein ’normales‘ Beziehungs- und Liebesleben zu führen, denen Menschen mit Behinderung gegenüberstehen.

In den 1980er Jahren schrieb Eggli weitere Texte, etwa in der von ihr gegründeten Zeitschrift ‚Puls‘, und Bücher, die jedoch nicht an den Erfolg ihres ersten Buches anschließen. Sie war als Aktivistin für Behindertenrechte und Frauenrechte politisch tätig, hielt Vorträge und leistete soziale Arbeit, etwa Begleitung und Betreuung von Feriencamps für Kinder mit Behinderung.

Sie verliebte sich zum ersten Mal in eine Frau und lebte mehrere Jahre mit dieser Partnerin zusammen; so griff sie in den 1990er Jahren in ihrem politischen Aktivismus auch Homosexuellenrechte auf, auch hier insbesondere Rechte behinderter Homosexueller. Mehrfach nahm sie an den Gesprächen der Homosexuellenbewegung an der Akademie Waldschlösschen in Göttingen teil.(1)

2005 war sie Vizepräsidentin des Schweizer Netzwerk behinderter Frauen ‚Avanti donne‚.

Sie starb am 2. Mai 2008 mit 64 Jahren.

Im Archiv der Behindertenbewegung ist ihr Märchenbuch Freakgeschichten für Kinder und Erwachsene als PDF zum Download zu finden.


Quelle Biografie: Wiki deutsch
außerdem:
(1) Archiv Behindertenbewegung




45/2023: Susie Orbach, 6. November 1946

Der Vater von Susie Orbach war ein britisch-jüdischer Politiker der Labour Party und aktiv im Jüdischen Weltkongress, ihre Mutter, eine amerikanische Jüdin, unterrichtete während des Zweiten Weltkriegs geflüchtete Deutsche in Englisch und arbeitete später als Lehrerin.

Susie wuchs in der Nähe von London auf. In ihrer Ausbildung benötigte sie einige Anläufe, bis sie ihre Berufung fand: Zunächst erhielt sie ein Stipendium für die North London Collegiate School, wurde jedoch mit 15 Jahren von der Schule gewiesen. Trotzdem konnte sie später an der School of Slavonic Studies russische Geschichte studieren; im Jahr vor ihrem Abschluss brach sie das Studium ab, ebenso ein Jurastudium in New York. Erst am Richmond College of Staten Island fand sie in den Women’s Studies ihr eigentliches Interesse. Sie machte 1972 mit 26 Jahren dort ihren Bachelor mit dem höchsten Grad, ein Masterabschluss in Sozialfürsorge folgte zwei Jahre später an der Stony Brook University.

Orbach kehrte nach London zurück und gründete 1976 gemeinsam mit Luise Eichenbaum das Women’s Therapy Centre in London, dem fünf Jahre später gleiches Zentrum in New York folgen sollte.

1978 brachte Susie Orbach ihr Buch ‚Fat Is A Feminist Issue‚ heraus, in dem sie die Diätkultur und deren Wurzeln im Kapitalismus analysierte und kritisierte, 1982 folgte ein zweiter Teil des Buches. In den 1990er Jahren machte Orbach eine psychoanalytische Weiterbildung bei Anne-Marie Sandler; sie wurde außerdem dafür bekannt, dass sie Diana, Prinzessin von Wales, für ihre Essstörung behandelte. Ihren Doktortitel in Psychoanalyse machte schloss sie jedoch erst 2001 mit 55 Jahren ab.

2004 beriet sie Unilever und deren Werbeagentur zur Werbung für Dove – die sich auf die Fahnen schrieb, ihre Kundinnen nicht mehr mit unrealistischen Schönheitsidealen unter Druck zu setzen. Der Clip dazu gewann einen Preis in Cannes; Unilever setzt bei Dove-Werbung heute weiterhin auf Authentizität und Verantwortlichkeit im Umgang mit Frauenbildern in den Medien. (Selbstverständlich medienwirksam und mit dem Ziel, Produkte zu verkaufen.)

Orbach ist Vorsitzende des Verein AnyBody (vormals Endangered Bodies) und berät unter anderem das britische Gleichstellungsministerium zum Thema Körperbild. Sie schreibt seit zehn Jahren regelmäßig für The Guardian und brachte 2009 ein weiteres bahnbrechendes Buch heraus namens ‚Bodies‚, in dem sie sich mit dem stark wandelnden Körperbild des Internetzeitalters auseinandersetzt.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) Süddeutsche Zeitung

44/2023: Miriam van der Have, 1. November 1958

Mit 19 Jahren erhielt Miriam van der Have die Diagnose der Androgenresistenz (AOS): Sie hatte eine Vagina und in der Pubertät Brüste entwickelt, doch sie hatte keinen Uterus, ihre Gonaden waren lageveränderte Hoden und ihre Karyotyp XY. Die Gonaden wurden ihr wegen des erhöhten Krebsrisikos entfernt, doch bei der Operation wurde sie Opfer einer Verstümmelung: Ihr wurde vorher gesagt, ‚etwas an ihrer Vagina‘ müsse gemacht werden – als sie aufwachte, war ihr die Klitorisspitze (CN Bilder) entfernt worden.(1)

Van der Have machte einen Doktor in Mathematik und arbeitete als Journalistin. Sie lebte mit ihrer Frau und zwei Kindern und dem Geheimnis ihrer Geschlechtsidentität, als sie 2003 das Coming Out der trans* Frau Kelly van der Veer sah, die dort durch Big Brother bekannt ist.(2) Sie beschloss, sich ebenfalls öffentlich zu outen und trat in der TV-Dokumentation ‚Vinger aan der Pols‚ auf, obwohl ihr Ärzte jahrelang eingeredet hatten, dass sie bei einem Coming Out persönliche, berufliche und gesellschaftliche Verluste erleiden würde.(1)

Sie gründete 2013 mit zwei Freundinnen die Stiftung NNID für sexuelle Diversität, zwei Jahre später war sie an der Gründung der OII Europe (Link Englisch) beteiligt, seit 2016 hat sie das Sekretariat Intersex des Dachverbandes ILGA (International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association) inne. Sie brachte 2016 auch einen eigenen Dokumentarfilm über Frauen mit AOS heraus.

Eine ihrer politischen Forderungen ist es, ‚Geschlechtscharakteristika‘ als Merkmal in die niederländischen Gelchbehandlungsgesetze einzufügren, sodass inter* Personen nicht aufgrund ihrer Identität diskriminiert werden dürfen. Intergeschlechtlichkeit sollte nicht als eine Erkrankung oder medizinische Abnormalität behandelt werden – zumal der Termines verschiedene Formen umfasst und nicht alle Sachlagen tatsächlich medizinische Versorgung nötig machen. Stattdessen sieht van der Have Intergeschlechtlichkeit als eine Variation der menschlichen Geschlechter, die sich vor allem durch die gelebte Erfahrung auszeichnet, die Menschen haben, deren Körper nicht in die binären Vorstellungen von Männern und Frauen passt. Schon 2014 forderte van der Have deswegen das Hinzufügen des ‚I‘ zur Bezeichnung der LGBT-Gemeinschaft.(4)


Quelle Biografie: Wiki niederländisch | englisch
außerdem:
(1) Humanstisch Verbond
(2) Huffington Post
(3) Vice
(4) Het Parool

43/2023: Leyla Hussein, 27. Oktober 1980

Geboren als Kind gut ausgebildeter Eltern, lebte Leyla Hussein relativ privilegiert in ihrem Geburtsland Somalia. Dennoch wurde sie mit sieben Jahren Opfer der traditionellen Genitalverstümmelung.

Als sie zwölf Jahre alt war, emigrierte die Familie in das Vereinigte Königreich, wobei sie ihren gehobenen Lebensstandard aufgeben und in der neuen Heimat unter wesentlich schlechteren Umständen leben mussten.(1)

Während ihrer Schwangerschaft erlitt sie immer wieder Ohnmachtsanfälle bei vaginalen Untersuchungen, doch weder ihre Hebamme noch ihre Frauenärzty sprach sie auf die Narben der Exzision (CN gewaltvoller Umgang mit Genitalien, Bilder) an. Erst nach der Geburt fragte eine Krankenpflegerin sie, ob sie eventuell FGM erlitten hatte, und äußerte die Vermutung, dass ihre ‚Ohnmachtsanfälle‘ Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund dieses Erlebnisses seien. Mit der Erkenntnis dieser Realität begann Husseins Aktivismus.(2)

Sie machte ihr Diplom in Psychologie an der Thames Valley University. 2010 gründete sie die gemeinnützige Organisation Daughters of Eve (Link Englisch), die die FGM-Problematik in der (britischen) Gesellschaft sichtbarer machte, betroffenen Mädchen und Frauen Unterstützung bot und sich für das weltweite Verbot der weiblichen Genitalverstümmlung einsetzte. Drei Jahre später bewirkte sie mit dem Dokumentarfilm The Cruel Cut ein weitreichendes Bewusstsein in der britischen Bevölkerung für FGM, das auch zu Gesetzesveränderungen führte. Die Dokumentation erhielt im Folgejahr eine BAFTA-Nominierung.

Ebenfalls 2013 rief Hussein das Dahlia-Projekt ins Leben, das eine Hotline für Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung anbot sowie Gruppen- und Einzeltherapien. Außerdem vermittelt das Projekt Betroffene an Kliniken, die wiederherstellende Operationen anbieten.

Leyla Hussein war 2018 auch eine der Protagonistinnen des Dokumentarfilms #FemalePleasure. Sie gehört zu den Begründerinnen des Projekts The Girl Generation, das in zehn afrikanischen Ländern aktiv ist und sich zum Ziel gesetzt hat, FGM innerhalb einer Generation vollständig abzuschaffen. In Somalia ist Hussein eine der Leiterinnen von Hawa’s Haven, einer Organisation, die sich für mehr Bewusstsein für geschlechterspezifische Gewalt einsetzt.

Für ihre Arbeit wurde Hussein 2019 mit einem OBE ausgezeichnet. 2020 wurde sie Rektorin der University of St. Andrews – als dritte Frau in der Geschichte der Hochschule und als erste Woman of Colour.

Sie schreibt außerdem seit zehn Jahren regelmäßig für unterschiedliche Magazin wie etwa die Cosmopolitan, im Guardian oder die Huffington Post, wie etwa diese sehr nachvollziehbare Erklärung, warum ihre Arbeit sich auf die weibliche Genitalverstümmelung konzentriert – statt auch die männliche Beschneidung zu thematisieren.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) The Guardian: Letter to my daughter
(2) Global Citizen


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