Kategorie: Geschichte

KW 15/2013: Anne Sullivan Macy, 14. April 1866

Anne Sullivan Macy

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Anne Sullivan Macy hatte in ihrer Kindheit und Jugend einiges durchzustehen, und doch führte einer der Schicksalsschläge – die Erblindung durch Trachom – auch zu ihren menschlichen und beruflichen Erfolgen. Durch den Besuch einer Blindenschule erlernte sie das Fingeralphabet – das Buchstabieren in die Hände -, welches sie wiederum als erste erfolgreiche Lehrerin Helen Keller zu vermitteln in der Lage war.

Als Frau, die Helen Kellers Leben grundlegend veränderte – weil sie die Barriere zu dem taubstummen und blinden Kind durchbrach, das aufgrund sensorischer Deprivation zu Wutausbrüchen neigte und keine einfache Schülerin war – blieb sie stets im Schatten der später erfolgreichen Autorin und wissenschaftlichen Sensation. Sie war damit nicht unglücklich, aber das ist kein Grund, ihr nicht als die Grenzgängerin, die Helen Kellers Karriere möglich machte, die Ehre zu erweisen.

Ihre Beschreibung des Moments, in dem Helen Keller verstand, was die Lehrerin ihr in die Handfläche tippte – die ihr mithin Worte gab und damit den Austausch mit der Welt ermöglichte – treibt mir immer wieder Tränen in die Augen. Einen schöneren Text über die Lebensnotwendigkeit der Kommunikation für ein menschenwürdiges Dasein gibt es kaum.
Einen schönen Text zu ihr gibt es auch noch bei den History Chicks, die ich gleich mal in meine Blogroll aufnehme.

Bild: By unknown; User Hans Dunkelberg der Jüngere on de.wikipedia, Public Domain

KW 5/2013: zwei Prostituierte

Rosemarie Nitribitt, 1. Februar 1933

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So richtig meine Aufmerksamkeit gewonnen hat Rosemarie Nitribitt eigentlich durch eine skurrile, traurige Nachricht, die jetzt 6 Jahre zurückliegt: Damals war es eine Randnotiz im Radio (glaube ich), dass nach 50 Jahren, eingelegt in einem Glas im Kriminalmuseum Frankfurt, nun endlich der Kopf der Nitribitt dem Grab ihres restlichen Körpers auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof zugeführt wird. Ich fand das ein ziemliches Unding und es schien mir repräsentativ für die Verachtung bei gleichzeitiger maximaler Ausbeutung der Frau; dieser im Speziellen und der Frau an sich im Allgemeinen.

„Die Nitribitt“ kann wohl gelten als ein typisches Beispiel für das Ergebnis einer schwierigen Kindheit, mit der nicht ungewöhnlichen Richtungsgebung des sexuellen Missbrauchs in der Jugend, etwas, das manchmal nicht besonders liebevoll als damaged goods bezeichnet wird. Was mich an ihr allerdings beeindruckt, ist die Souveränität, die sie dem widersprechend an den Tag zu legen schien, das offensichtliche Wohlgefühl in ihrer (nackten) Haut, das auf den entsprechenden Bildern von ihr zu sehen ist (vielleicht ist es auch nur gespielt, aber selbst ihre nackten Posen sehen so lässig aus, das ich nicht an Aufgesetztheit glaube). Dazu passt auch die „Schamlosigkeit“, die sie mit ihrer aggressiven Freierwerbung zur Schau trug, und das generelle „Denkt doch, was ihr wollt“, als das ich ihre Wahl des Beförderungsmittels verstehe.

Dass ihr Leben dennoch nicht glamourös war und sie sich nach einer bürgerlichen Existenz sehnte, macht sie zwar zu einer traurigen Heldin, aber nicht weniger sympathisch.

Zum 50. Jahrestag des Leichenfundes in ihrer Frankfurter Wohnung schrieb Die Welt einen Rückblick. Ebenso erinnert sich ein Journalist der Süddeutschen an den Fall, mit Fotostrecke. Aus der Zeit noch vor der Auslieferung ihres Kopfes an ihre Begräbnisstätte stammt der Artikel auf Spiegel Online.

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Nell Gwyn, 2. Februar 1650
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Ein anderes, älteres Paradebeispiel für den Ratschlag If you’ve got it, flaunt it! ist pretty witty Nell. Eine der ersten weiblichen Schauspielerinnen, ebenso wie die Nitribitt wohl mit zu frühen und unfreiwilligen sexuellen Erfahrungen, aber ungebrochen und forsch.

Die Schauspielerei trat sie nur an in der Hoffnung, wohlhabendere Freier aufzutun als in der Kneipe, in der sie arbeitete; dabei stellte sich wohl heraus, dass sie durchaus auch dafür Talent hatte. Ihr Ziel hat sie allerdings nicht aus den Augen verloren und es zur beliebtesten und prominentesten Mätresse Karl des II. geschafft.

Was sie beim englischen Volk – und bei mir – so gut ankommen ließ und lässt, ist ihr Selbstverständnis. Sie blieb wohl Zeit ihres Lebens bodenständig, schätzte jeden Luxus als solchen – ohne sich daran als gegeben zu gewöhnen – und versuchte nicht, aus sich etwas „Besseres“ zu machen als eine Mätresse. Dass sie sehr wohl für ihren vom König gezeugten Sohn eine sichere Zukunft einklagte, verdeutlicht, dass es sich bei ihr nicht um Minderwertigkeitskomplexe oder Demut handelt, wenn sie sich selbst Hure nannte, sondern reinen Realismus.

Eine liebevolle Reiteration zu Nells Leben findet sich auf The Honest Courtesan (ein interessantes Blog, ganz allgemein).

Bild: Von Peter Lely, Gemeinfrei

Achso, beide Damen als Grenzgängerinnen zu sehen, das muss ich wohl nicht erklären. Prostitution ist ja üblicherweise das Gebiet, in dem sich Oberschicht und Unterwelt eine Grenze teilen…

KW 2/2013: Maria Mandl, 10. Januar 1912

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Und hinein ins neue Jahr mit neuem Themengebiet mit einer Frau, vor der ich letztes Jahr zurückgeschreckt bin. Nicht, weil ich nicht über sie schreiben wollen würde: weil ich nicht weiß, wie man über so jemanden schreiben kann, ohne zugleich zu banalisieren und effekthascherisch zu wirken oder gar zu sein.

Aber als Grenzgängerin zählt sie: Sie überschritt moralische und ethische Grenzen, sie überschreitet mit ihrer Lebensgeschichte und -weise auch die Grenzen des Verstehens.

Das ist der Balanceakt:
Einerseits, ja, empfinden wir Gräueltaten, wie die in Konzentrationslagern des Dritten Reichs geschehen, von Frauen ausgeübt als noch unfassbarer als die der Männer. Ich persönlich kann es nicht begreifen, nicht nachvollziehen, nicht nur, wie man auch nur hohles, williges Instrument sein kann, das sich mit den menschenverachtenden Befehlen des Regimes füllen und dafür verwenden lässt – schlimm genug: Nein, wie man sogar diese Instrumentalisierung als Möglichkeit des Auslebens eigener Allmachtsbedürfnisse suchen kann und sie in eigenen Taten individuell interpretieren, damit Respekt bei den Befehlshabern erheischen und immer nur weitere Gelegenheiten schaffen, Gott, Tod und Teufel in Personalunion zu sein.

Andererseits, wie soll ich sagen, sind auch Frauen „nur Menschen“. Sollte ein Mensch weniger zu Bösem fähig sein, weil er zum Beispiel doppel-X-Chromosome hat? Das wäre ja schwarzer Feminismus: Wir sind nicht „die bessere Hälfte“, in keiner Weise. Mitgefangen, mitgehangen: Wenn wir Menschen wie alle anderen (= die Männer) sein wollen, dann muss auch wahr sein, dass wir vernichtend aggressiv, pervers, krank und verführt sein können. Warum auch nicht.

Warum auch nicht? Wahrscheinlich, weil wir Mütter sind oder zumindest sein können. Und Mütter lieben, pflegen, sorgen, trösten. Aber da tut sich doch der Schatten einer Ahnung auf: Ja, da kann ich doch vielleicht ein bisschen verstehen, wie jemand in den Umständen einer grässlichen Neu-Ordnung der Welt auf die andere Seite des Menschseins fällt und in der „Normalität“ von systematischer Menschenvernichtung nicht nur sein Auskommen in stumpfer Ignoranz findet. Da kann ich vielleicht doch sogar ein bisschen nachfühlen, wie man in den Rausch geraten kann, Herr über Leben und Tod zu sein. Denn das ist das auch: Mutter-Sein.

Wer mag, der folge mir noch. Es kommt ein winziges Lebewesen aus mir heraus auf die Welt und ist abhängig von mir, von meiner Fürsorge, von meinem Körper. Wenn ich liebe und pflege, dann lebt es (und wenn nicht, dann nicht). Und es bleibt lange, sehr lange, in seinem physischen wie psychischen Wohlbefinden in dieser Abhängigkeit. Stillen ist ein Rausch, rein körperlich gesehen. Aber zu fühlen, wie ein tobendes Geschrei zu leisem Schniefen und schließlich wieder zu Lachen wird, dank meines Streichelns und Schaukelns und Murmelns: das ist MACHT. Und auch diese Macht kann korrumpiert werden. (Jimmy Kimmels Halloween- und Sommer-Scherze „Behauptet, ihr hättet alle Süßigkeiten gegessen“ oder „Tut so, als seien die Sommerferien schon wieder vorbei“ sind Zeichen dafür: Wie gerne Eltern ihren Kindern auch mal negative Gefühle machen, einfach nur, weil sie es können.) (Ich will damit nicht sagen, dass Jimmy Kimmel einer KZ-Oberaufseherin gleichzusetzen ist. Aber ich habe einfach nie verstanden, wie man als Eltern so fies sein kann, auch nur im Scherz.)

Ich glaube, deshalb empfinden wir Frauen, die solche Verbrechen begehen, als so abartig: Weil die Erinnerung an diese Abhängigkeit und die Sehnsucht nach dem Wohlwollen der Mutter in uns lebendig geblieben ist. In Wirklichkeit aber ist dieses Verhalten vielleicht doch nur die Schattenseite der Mutter, also kein Widerspruch.

Was in keiner Weise entschuldigen kann, dass ein Mensch nicht davor zurückschreckt, solche Taten zu vollbringen.

Bild: Von Unknown, probably an U.S. Army soldier, Gemeinfrei

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§218!