D 2023, Regie: Maria Binder, mit Eren Keskin, Fatma Sevgi Keskin, Leman Yurtsever
Bei der Recherche für die Kurzrezension in der Stadt Revue musste ich nachschlagen, als was ich die Türkei treffend und korrekt bezeichnen kann. Wikipedia sagt: „In den Politikwissenschaften wurde das politische System der Türkei oft auch als „defekte Demokratie“ und als „hybrides Regime“ summiert.“ Das heißt, die Türkei hat alle Bausteine einer Demokratie, funktioniert jedoch nicht in der Tat als solche. Menschen werden für ihre Meinungsäußerungen etwa zur Frage der Kurden und zum Völkermord an den Armeniern verhaftet und in den Gefängnissen gefoltert, Frauen in Haft vergewaltigt.
Maria Binder, die Regisseurin, erzählt in den ersten wenigen Minuten zu Bildern aus der damaligen Zeit, wie sie Eren Keskin vor zwanzig Jahren kennenlernte, als ‚Anwältin einer Freundin, die von türkischen Soldaten ermordet wurde‘. Sie beschreibt Keskin als eine, die ’nach dem unsichtbar Gemachten [gräbt], nach dem, was verschwiegen, verfälscht, vernichtet wird‘. Der ganze Rest des Filmes zeigt Keskin heute in ihrem Alltag als Anwältin, als Menschrechtsaktivistin, als Freundin und Tochter, gänzlich ohne weiteren Kommentar. Eren Keskin ist Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD und wurde für ihren Einsatz für die kurdische und armenische Bevölkerung selbst inhaftiert und in der Haft gefoltert. Als Anwältin setzt sie sich insbesondere für Frauen und queere Menschen ein, die von Sicherheitsbehörden gefoltert wurden. Die kurzen Einblicke in ihre Fälle, die der Film bietet, genügen, um die Notwendigkeit ihrer Arbeit zu erkennen.
Allein aus der Intimität der Bilder – wie weit Binder Keskin auch in ihren privaten Momenten begleiten darf – wird klar, wie nah sich die Frauen stehen. Doch unangemessene Lobhudelei bleibt aus, dafür ist Keskins Leben zu intensiv, zu spannungsreich und zu gefährlich. Der türkische Staat hat Anklagen gegen sie im zweistelligen Bereich, besonders für die ‚Beleidigung des Türkentums‚, für die sie bei Verurteilung viele Jahre in Haft gehen müsste. Dennoch spricht sie furchtlos und ohne Rückhalt ihre Kritik am Staat aus. In anderen Szenen sehen wir sie weich und liebevoll mit ihrer Mutter reden, über ihre Familie und die verschwiegene Tatsache, dass sie Kurden sind, über Politik und Frauenrechte. Sie weint über den Tod ihres Kollegen und Freundes Tahir Elçi und erzählt von der Gewalt – durch ‚Unbekannte‘ oder den Staat – die sie seit Jahren begleitet. Mit ihrer Kollegin und Freundin Leman besucht sie ehemalige armenische Dörfer und bespricht, wie die Kanzlei weiterarbeiten kann, wenn sie tatsächlich verhaftet würde und ins Gefängnis müsste.
EREN ist kein Film, der die Fakten – die er liefert – in den Vordergrund stellt, sondern das Gefühl. Wie es ist, als Frau, als Kurdin, als politisch aktive Person in der Türkei zu leben. Der Satz, der mir angesichts Eren Keskins Familien- und Lebensgeschichte durch den Kopf ging, war: Das Private ist politisch. Eren Keskins Leben ist durch die Politik der Türkei geprägt, und ihr ganzes Leben ist dem politischen Kampf für mehr Gerechtigkeit und Demokratie gewidmet.
2019 habe ich übrigens auch einen kurzen Beitrag über Eren Keskin geschrieben.