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„It’s a beautiful glass“

Vor 6 Jahren war ich kurz vor Ende meiner Arbeitslosigkeit – aka ALG I lief aus – und mitten in einer Weiterbildung (Social Media Management), die für mich durchaus hilfreich war, aber nicht dabei, eine Festanstellung zu finden. Gerade hatte ein Video auf Facebook mich sehr berührt und mich dazu bewegt, mich mit meinen Depressionstriggern zu befassen: Wieviel von meinem Selbsthass daran lag, dass ich mich an Vorstellungen maß, wie mein Leben ‚hätte aussehen sollen‘, nach meinem privilegierten Hintergrund, meiner Bildung und meiner Arbeitserfahrung zu schließen. Im Vergleich zu dem, was ich gedacht hatte, wie mein Leben mit Ende 30 aussehen würde, war mein Glas beständig halb leer.

In einem der Module der Weiterbildung sollten wir eine Tondatei erstellen, und mir waren entweder genau an dem Tag oder nur sehr kurz davor die folgenden Dinge passiert. Den Text habe ich noch (dank FB Erinnerungen), die Tondatei wohl nicht mehr. Mir gefällt der Text immer noch und die Erinnerung ist an die Situation sehr lebendig.

It’s a beautiful glass

Last weekend my glass was half empty. I managed to ruin my washing machine – on my 10th wedding anniversary, nonetheless – by washing a nursing pillow. The pillow was torn and spilled its polystyrene contents in my washing machine. Now there’s a body of blueish water with polystyrene pearls swimming in it and the pump makes angry working noises but can’t reach the water because the tube is clogged. I spent 90 minutes on Sunday washing out a heap of smelly, polystyrene covered laundry in the tub.

My glass is half empty a lot of the time right now. I’m an unemployed academic with two children which makes me unhireable, basically. We’re not poor but there’s no room for extravaganza. I go to school 40 hours a week and have the kids, a relationship and my own mental health to care for the rest of the time. This is for context because a broken washing machine kind of feels like the devil taking a shit on the biggest heap right now. I don’t have money to spare for a new washing machine and I have heaps and heaps of laundry that are going nowhere.

This morning my glass was half empty. On my way to the doctor’s to pick up a certificate, I called the repair service for the washing machine to get someone to fix it. First they always point out how guarantee only covers damage that wasn’t caused by misuse – which makes me angry even though I know it’s just policy. Second, the first appointment offered to me was on the day of a test I have to take at school. The next appointment I could get was 8 days from today – 8 days of washing my laundry at my mother-in-law’s.

My glass was half empty until I was on my way back to school. Suddenly, the way was blocked by two fire trucks, police and paramedics. I see smoke coming from the sidestreet. I’m not one for spectatorship so I just wanted to move around the firetruck, not be in the professional’s way and get back to school. Then I see her standing there: a woman, covered with a blanket, holding her toddler and sobbing uncontrollably. All alone. My reflex sets in and I approach her with the stupidest question: „Is there anything I can do?“ She just sobs so I hug her.

I hug her while the firemen keep asking her whether there’s any other people in the flat, or the flat above, are there any other children. I hug her while a guy shows up with a cat, scorched black but alive, and she cries that she thinks it’s her cat but she can’t recognise it. I hug her while she starts worrying that she will be blamed, but she was asleep and woke up to her living room in flames. I hug her and her toddler when she asks the toddler if he did it and the poor child says „Yes.“ I hug her when she can’t remember her mother’s mobile phone number, and cries that her phone is up in flames, and she has no insurance. I hug her until the paramedics start taking care of her. I carry her child along while she is being taken to the paramedic truck on a stretcher.

I don’t know how often I repeat these words: „It will be okay. You are alive. Your child is alive. Even your cat is alive.“ Before I step out of the truck, she looks at me and maybe she actually heard those words.

I don’t know whether my glass is half empty or half full. But suddenly I know that, yes, it’s a beautiful glass.

Ich schaue heute immer noch, wenn ich an dem Haus vorbeikomme, danach und frage mich, was aus der Frau und ihrem Kind geworden ist. Und ob sie sich vielleicht an mich erinnert.

Der Clip, aus dem der Titel und der Gedanke stammt:

Post Skriptum

Zwei Kinder wurden geboren, kurz nacheinander. Erst ein Junge, dann ein Mädchen.
Sie wurden gefüttert, gekleidet, gebildet, geprägt.
Sie lernten sich kennen und verliebten sich.
Zu Beginn fanden sie sich unbeschreiblich und waren entzückt von ihren Ähnlichkeiten, liebten das Eigene im Anderen und erkannten sich als ungetrübtes Spiegelbild. Sie waren das, was sie seit langem gesucht hatten.
Bald kamen sie sich näher und sahen sich deutlicher, fanden Unterschiede, die sie erfreuten. Sie ergänzten sich und fanden sich wunderbar.
Sie liebten sich und lebten zusammen, ließen sich ein auf die Andersartigkeiten, schlossen Kompromisse. Sie wollten das Gleiche.
Dann entwickelten sie sich weiter, brauchten Raum für die eigene Persönlichkeit und nahmen Veränderungen am anderen wahr. Sie waren enttäuscht und stritten sich.
Dabei machten sie sich Vorwürfe, verletzten sich und schwiegen. Sie wussten nicht mehr, was sie sagen sollten.
Später waren sie kalt und gefühllos, verhielten sich abweisend und fanden sich unerträglich. Sie waren sich fremd und hielten es nicht mehr miteinander aus.
Schließlich trennten sie sich und weinten, wollten Genugtuung oder wenigstens Erklärung, wollten sich nie wieder sehen und alles vergessen.
Irgendwann vergaben sie sich, fanden andere, die sie lieben konnten, gingen ihrer eigenen Wege und lebten ein besseres Leben ohne einander. Sie waren froh, dass es so gekommen war.
Sie schrieben sich Briefe, in denen sie in Worte zu fassen versuchten, was sie fühlten und dachten, was sie bewegte, was sie wünschten und tun wollten.
Liebesbriefe, am Anfang. Die Zeilen waren voller Begierde, Beschreibungen von Körpern und Akten der Hingabe, die Worte sollten die Sehnsucht, die Wollust beschreiben und die Ewigkeit beschwören.
Streitbriefe, Versöhnungsbriefe später, die erklären sollten, Standpunkte darlegen und Verständnis schaffen. Versuche, sich selbst zu bewahren, Suche nach Nähe und Gemeinsamkeit.
Am Ende Trennungsbriefe, in denen die Worte wie Waffen aufeinander gerichtet wurden, die Beweise führten für Fehlverhalten, Respektlosigkeiten und bewusste Verletzungen. Die Zeilen wehrten die eigene Schuld ab, wiesen sie zurück, dem anderen zu.
Sie lasen die Briefe – auch dann noch, als sie keine mehr schrieben – die alten wie die neuen, immer wieder.
Sie las in seinen Briefen. Las von dem Wunsch, bei ihr zu bleiben, und verstand, dass er davon sprach, nicht immer bei ihr zu sein. Die Worte vom Moment, der sich wie eine Ewigkeit anfühlt, sagten ihr, dass die Ewigkeit im nächsten Moment vorüber sein kann. Die Sehnsucht zu genießen hieß, seine Freiheit zu brauchen; seine Freiheit zu brauchen hieß, sich von ihr entfernen zu wollen.
Er las in ihren Briefen. Das Versprechen, ihn für immer zu lieben, erzählte ihm von dem Versuch, ihn für immer festzuhalten. Ihre gemeinsame Zukunft, die sie beschrieb, bedeutete ihm Erwartungen, die sie an ihn stellte. Seine Schwächen auch zu schätzen hieß, auf sein Lernen zu vertrauen; auf sein Lernen zu vertrauen hieß, ihn anders zu wollen als er war.
Beide starben, Jahre später.
Ihre Briefe endeten verstaut, verstaubt, vergessen. Das Papier, auf dem sie geschrieben waren, wurde gelb und brüchig, die Tinte blich aus.
Was die Worte nicht fassen konnten, verging.
Düsseldorf, 2005

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