frauenfiguren

Das war’s

Portrait der Bloggerin an ihrem Arbeitsplatz in der Ecke ihrer Küche.

Das war 2023. Es war für mich mit diesem Blog kein leichtes Jahr.

Nachdem ich 2020 mit den Wissenschaftlerinnen – und der Entscheidung, auf (damals noch) Twitter mit frauenfiguren aufzutreten, wenn auch nicht mit einem designierten Account – viel mehr Aufmerksamkeit bekommen hatte, eine Ahnung dessen, was möglich wäre, wenn ich dieses Blog und meine Zeit anders managen würde/könnte, war es sehr nötig, aber auch sehr schmerzhaft, 2021 und 2022 zu pausieren. Neben dem dringenden Wunsch, in wirklich irgendeiner Form einen eigenen Lohnverdienst zu generieren, während ich gleichzeitig zwei Schulkinder zum Teil vollständig zu beschulen und unterhalten hatte, blieb schlicht keine Kraft für die Arbeit, die ich in dieses Blog im erfolgreichsten Jahr gesteckt hatte.

In dieses vergangene Jahr bin ich mit einer Mischung aus Zweifel und Entschlossenheit – oder Verbissenheit – gestartet: Ich hatte mir die Aktivistys des Intersektionalen Feminismus Ende 2020 nun mal vorgenommen, nicht nur, weil ich mich mit diesem Blog positionieren wollte (aber auch). Ich hatte gehofft, dass das Thema auf Instagram (und Twitter) vielleicht Aufmerksamkeit gewinnen könnte. Leider bin ich mit frauenfiguren auf Instagram zu spät gestartet, und ganz sicher auch mit der falschen Ressourcenverteilung. Die Zeit, die ich in frauenfiguren stecken kann, steckte ich in dieses Blog, in dieses inzwischen offensichtlich veraltete Format, das mir (auch alter Person) bisher einfach am meisten lag. Die Rechnung dieser Ressourcenverteilung war in diesem Jahr: Viel Arbeit, Energie und Leidenschaft ging in Recherche und Texterstellung hier, weniger Arbeit, Energie und Leidenschaft in die Sozialen Medien, und das Ergebnis waren für mein Gefühl fast immer unverhältnismäßig wenig Reaktionen, Wahrnehmung und damit gefühlter Anerkennung für die Arbeit, die ich ja nun, aber eben an der ’falschen’ Stelle, geleistet hatte. Mehr, regelmäßiger, für den Algorithmus attraktiver Posten wäre die Devise gewesen – aber dafür fehlte und fehlt mir noch immer die Zeit und immer mehr auch der Wille. Die Rechnung, auf dem Acker dieses Blogs zu pflügen und zu säen, aber auf dem Instagram-Acker die Früchte zu erwarten, ging einfach und wenig verwunderlich nicht auf. Und so bewege ich schon seit Mitte des Jahres die Entscheidung in meinem Herzen, die Arbeit an frauenfiguren – zumindest in der bisherigen Form – einzustellen.

Dieses Blog wird weiter existieren, soviel sei gesagt. Die Accounts auf Facebook, Instagram und Mastodon werden in gewissem Rahmen ebenfalls weiter bespielt. Ich werde nicht zwölf Jahre Arbeit von heute auf morgen unzugänglich machen. Allerdings wird es (bis auf Weiteres?) keinen Kalender mehr geben, somit auch keine so regelmäßigen Posts an dieser Stelle. Auf Facebook und Instagram werden die #frauenfigurenVor10Jahren weitergehen, allerdings werden diese Mitte des Jahres auch für ein Jahr versiegen, da sich dann die Geburt des zweiten Kindes zum zehnten Mal jährt und ich nunmal in dieser Zeit pausiert habe. Für die Sichtbarkeit von frauenfiguren ist das natürlich pures Gift, aber damit, habe ich festgestellt, kann ich inzwischen leben.

Was es möglicherweise geben wird, sind weiterhin meine Gedanken zu Filmen – etwas, was von Anfang an durch den Druck der wöchentlichen Kalender-Veröffentlichung zu kurz gekommen ist – und vielleicht belästige ich euch mit einem Prosa-Experiment, das ich irgendwann Mitte 2022 angefangen habe. Ihr werdet es wissen, wenn es passiert. Ich suche die Befreiung im Gedanken ‚nobody cares‚ und mache hier auf meinem Blog ab jetzt nur noch, wozu ich Lust habe.


Um zu verdeutlichen, wie schwer diese Erwägung auf mir lastet, will ich einmal ausholen und mehr von der Genese dieses Blogs preisgeben als jemals zuvor. Es ist ein langer Text und ich erwarte nicht, dass er gelesen wird, aber es tut gut, ihn zu schreiben.

Ich zähle zu den unerträglichen Leuten, die von sich sagen: Ich wollte schon immer schreiben. So klischeehaft, so wahr. Die Ambition, gut verdienende Romanautorin zu werden, musste ich angesichts der üblichen Notwendigkeiten nach dem Studium leider drangeben. Als Blogs ein Ding wurden, machte ich aber selbstverständlich eines auf, das ich am Ende auch nur für mich und die Beruhigung meines Gewissens – ’immerhin schreibe ich regelmäßig’ – führte. Andere prosabasierte Tätigkeiten in Foren zu Lyrik, Kurzgeschichten oder Filmrezensionen führten erstaunlicherweise nicht zu einer profitablen Karriere. Kurz vor meinem 30. Geburtstag rettete mir meine erste Festanstellung in einer Agentur zwar buchstäblich das Leben, stahl mir jedoch gleichzeitig mein Licht. In der Werbebranche als unbedeutende ’FFF-Maus’ war ich mehr als ausgelastet, jedwede Energie für kreative Arbeit wurde aufgefressen vom Broterwerb, mein Selbstwertgefühl zerrüttet von der Realisation, dass das, was ich konnte und wusste, in dieser Umgebung nichts zählte. Nach fünf Jahren, dem ersten Kind und dem ersten und hoffentlich einzigen Burnout wollte ich erstens nie wieder so arbeiten müssen und zweitens endlich wieder schreiben. Ich schaffte 2012 den Sprung in meine zweite Festanstellung, die zu gut war, um wahr zu sein, und nutzte die Gelegenheit auch für meinen Wunsch, zu schreiben. Mein erstes Blog war ziel- und publikumslos geblieben, dieses Mal wollte ich es richtig machen. Die Idee zu frauenfiguren hatte ich, als ich mit meinem Partner ’20000 Meilen unter dem Meer’ schaute, ein Film, in dem keine einzige Frau vorkommt, aber trotzdem andauernd von ’she’ und ’her’ die Rede ist – nämlich vom Schiff Nautilus. Diese Tatsache brachte mich darauf, ich könnte doch über Frauenfiguren schreiben; eigentlich dachte ich dabei vor allem an Frauenfiguren im Film, da das Schreiben über Film das Einzige war, was ich noch ab und zu mit Elan und für Anerkennung tat. Damit das Blog aber nicht so vor sich hindümpelte, während ich auf interessante Frauenfiguren in den Filmen wartete, die ich in meiner Freizeit schaute, überlegte ich mir das Konzept des Kalenders – die Rubrik, die schließlich zum eigentlichen Rückgrat und zur Existenzberechtigung dieses Blogs wurde.

Die Arbeit für den frauenfiguren-Kalender ist von Anfang an fast gleich geblieben. Ich entwickelte eine zeitsparende Methode, Wikipedia nach Frauen zu durchforsten, und je nach Laune und Interesse und Zeit lieferte ich ausführliche Texte und weiterführende Links oder nur kurze Notizen mit Bild. Für 2012 bis 2014 war das ein famoses Prinzip, ich fühlte mich ausgelastet und ob jemensch mein Blog las, war mir wurscht: Ich erfreute mich an dem, was ich Neues lernte, und daran, gelegentlich längere Texte zu verfassen. frauenfiguren bestand, damit ich eine sinnvolle Tätigkeit im Sinne des Sisyphus hatte (niemensch las es, außer meiner Mutter und einigen wenigen anderen Bloggern).

Dann verlor ich 2013 plötzlich meinen Vater und 2014 die zweite Festanstellung – wie gesagt, sie war zu gut, um wahr zu sein. Außerdem war ich mit dem zweiten Kind in Elternzeit und pausierte deswegen sowieso (ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt wurde ich in eine prestigeträchtige Blogroll aufgenommen, story of my life). Nach der Elternzeit begann ich angelegentlich wieder zu bloggen und mich mit einem wackligen, aber nicht zu leugnenden Selbstbewusstsein auf Stellen zu bewerben. Das Jahr ALG1 von Mitte 2015 bis Mitte 2016 hielt leider einige Rückschläge bereit, darunter ein Bewerbungserlebnis, das ich heute als traumatisierend erkannt habe. Komplett ausbleibende Einladungen sind eine Sache, auch nach einem Vorstellungsgespräch geghostet zu werden, noch eine andere Sache – eine Absage selbst abholen zu müssen, nachdem die Stelle mir so gut wie sicher zugesagt wurde, war ein Schlag in die Magengrube. Und die Gewissheit, dass diese Ablehnung – von einem Entscheider, der nie mit mir gesprochen hatte – darauf beruhte, dass mein Mutter-Sein alle meine Qualifikationen, Erfahrungen und Eigenschaften aushebelte, fügte meinem Selbstbild eine tiefe Verletzung zu.

Mit dieser Verletzung wurde jede weitere Bewerbung zu einer Selbstgeißelung, in dem Wissen, es würden mehrere Tage tiefster Depression mit suicidal ideation folgen, wenn mir klar wurde, dass ich wieder einmal vollständig ignoriert wurde, oder eine Absage erfolgte. Ich machte noch eine von der AfA geförderte Fortbildung, aber ich spürte deutlich, ich und eine reguläre Festanstellung über eine reguläre Bewerbung: Das wird nichts mehr. Vielleicht aber, dachte ich, war das das Zeichen, dass ich für etwas anderes gemacht bin. Vielleicht war das das Zeichen, dass ich vom Leben auf den Pott gesetzt wurde und meine ganze Energie in einen ganz anderen Lebensweg stecken sollte? Bewerbungen auf Stellenausschreibungen wurden zum Plan B, die Selbstständigkeit zum Plan A und ja, im Stillen dachte ich auch: frauenfiguren ist das, was mich retten wird. Ich werde mit diesem Blog groß rauskommen und alle, die mich nicht zu schätzen wussten, würden sich wundern. (Hier ’Zu spät’ von den Ärzten einspielen.)

Für mich waren schon die fünf Jahre vor der Pandemie eine extrem schwierige Zeit. Was eigentlich konzentriert, selbstbewusst und zielstrebig vorangetrieben hätte werden sollen, lieferte ich zerfasert und ohne Chuzpe. Ich zerteilte meine Energien in die Selbständigkeit, die ich auch nur halbherzig und mit wenig Souveränität aufstellte, in ebenso halbherzige Bewerbungen, in die Mutterschaft, die schlicht durch vermehrte Zeit zu Hause mit den Kindern ihren Tribut forderte, und in das Blog. Ich rieb mich auf zwischen den Aufgaben, die ich entweder nicht abgeben oder nicht loslassen konnte; der Druck, mit irgendetwas im Kapitalismus Sinnvollem ’erfolgreich’ sein zu müssen, zermürbte mich. Dann kam die Pandemie und läuterte mein Leben. 2020 ging noch das Blog und die Kinder (eine Vollkatastrophe mit dem weiteren Versuch einer Festanstellung beendete jegliche Ambitionen dahingehend), 2021 fuhr ich auch das Blog vollständig herunter, um wenigstens die Corona-Elternschaft mit meiner verbleibenden Energie richtig und gut zu leisten. Die Depressionen, die ich zuvor schon hatte, verstärkten sich, aber damit war ich ja nicht alleine oder: genauso alleine wie alle anderen. 2022 benötigte ich, um wieder Vertrauen in den Umstand zu fassen, dass die Kinder tatsächlich regelmäßig ganze Vormittage in der Schule waren und diese Zeit für mich selbst nutzbar war. Ein kleines Standbein meiner Selbständigkeit festigte sich, ein wenig verlässlicher Lohnverdienst stellte sich ein. Gleichzeitig rang ich immer wieder mit den Auswirkungen der ’parasozialen Beziehungen’ in den Sozialen Netzwerken, suchte weiterhin nach echter Frreundschaft und Anerkennung dort, wo mich die meisten Menschen noch nie IRL getroffen haben und im Fall vom frauenfiguren-Account oft nicht mal mein Gesicht oder meine Stimme kannten – und wurde wie so viele immer wieder vom Algorithmus enttäuscht. Der Ordner mit den Internet-Apps auf meinem Handy heißt inzwischen ’Total Perspective Vortex’, weil ins Internet zu gehen für mich eigentlich bedeutet, mir willentlich und aktiv die eigene Bedeutungslosigkeit vor Augen zu führen. Warum ich das andauernd freiwillig mache, ist mir ein Rätsel (wahrscheinlich gehe ich mit weit unter 1000 Followern durch die Tür, andere mit mehr Erfolg durchs Fenster steigen, siehe ’The Restaurant at the End of the Universe’). Ende 2022 machte ich eine Mutter-ohne-Kind-Kur und hatte drei Wochen Zeit, mich mit mir allein und dem zu beschäftigen, was mit mir in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren passiert ist.

Und damit sind wir wieder in 2023. Die Kinder sind verlässlich vormittags in der Schule und nachmittags nicht mehr so betreuungsintensiv. Ich arbeite regelmäßig in meiner Lohnarbeit, jedoch bei Weitem nicht genug, um es einen Lebensunterhalt zu nennen, dazu gebe ich einmal die Woche Nachhilfe; die Zeit, die nicht in Lohnarbeit oder Carearbeit geht, stecke ich in dieses Blog – und nicht in Instagram-Content – und ab und zu schreibe ich über Filme für die Stadtrevue. Ich habe eine Freundschaft vor Ort, die auf ehrlicher Erwiderung und gemeinsamem Bemühen um die Pflege basiert, eine neue, unerwartete, aber von intensivem Austausch Geprägte kam in diesem Jahr überraschend hinzu. Für mich war dieses Jahr, als würde sich ein Schleier heben – nicht nur der der Pandemie. Vielleicht sind es die Freundschaften, die ich im echten Leben mit direktem menschlichen Kontakt endlich entwickelt habe – etwas, was mir jahrzehntelang fehlte, wegen Eltern-Dasein, wegen Arbeit, wegen Arbeitsverlust, wegen Pandemie – über die ich mit Teilen meiner Persönlichkeit wieder in Kontakt komme, die ich verloren hatte. Vielleicht sind es die schleichenden Folgen der Kur und der Konsequenzen, die diese auch für meine Beziehungen haben. Jedenfalls fühle ich mich, als würde ich mich nach langer Zeit der Verpuppung entfalten. Die Unzufriedenheit mit der Diskrepanz zwischen der Anstrengung, die ich in dieses Blog stecke, und dessen Sichtbarkeit gehört dazu. Ich gebe offen zu, dass mich der Blick auf andere ähnliche Accounts auf Instagram in den vergangenen Jahren des Öfteren frustrierte; dieses Blog führe ich seit 2012 (mit zwei Unterbrechungen), inzwischen habe ich das Gefühl, fast jeden Eintrag zu einer Frau auf Wikipedia mindestens einmal mindestens überflogen zu haben – ’ich kenne sie alle!’ Selbstverständlich sagt das nur teilweise etwas über das Ausmaß meiner Arbeit, zum anderen Teil vor allem etwas über den Mangel an Beiträgen zu Frauen auf Wikipedia. Oft dachte ich beim Blick auf Instagram: „Joa, über die habe ich schon vor X Jahren mal was geschrieben“, und ich hoffe, alle meine ehrlich geschätzten Kolleg*innen können angesichts meiner Ausdauer nachvollziehen, wenn mein Herz dabei eng und klein wurde. Selbstverständlich gönne ich jedem Account, ob groß oder klein, die Aufmerksamkeit – wie unfeministisch wäre es, mißgünstig zu sein. Und oft hatte ich ein schlechtes Gewissen für mein enges und kleines Herz, wenn erfolgreichere Accounts dann aktiv versuchten, mich in ihr Kielwasser zu ziehen. Wenn ich also nach dem Moment des Neids Kassensturz machte, wurde mir Mal um Mal klar, dass es auf nichts anderes als meine eigenen Entscheidungen und Versäumnisse zurückzuführen ist, dass frauenfiguren nicht einmal in diesem Jahr auf Instagram oder auch hier endlich durchstartete.

(Auf Twitter/X habe ich mit meinem persönlichen Account schon 2021 wieder abgemeldet, um dann einen reinen Blog-Account einzurichten… den habe ich im Laufe des vergangenen Jahres auch entfernt. Die Stimmung auf Twitter/X lag mir nie, aber dieses Jahr hat dem die Krone aufgesetzt.)

Sehr lange erschien mir das Einstellen dieser Blogarbeit wie eine Kapitulation – dann las ich Mitte dieses Jahres diesen GEO-Artikel (leider hinter Paywall) über das Loslassen und wie ‚Aufgeben‘ auch Ressourcen für Neues freimacht. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Gedanken, es einfach bleiben zu lassen, machte tatsächlich Raum – oder zumindest: stieß die Überlegung an, was ich denn sonst tun könnte. Ich hatte neue Ideen, für meine berufliche Entwicklung und für etwas, was ich statt des Blogs ausprobieren möchte – in einem anderen Format, zu einem anderen Thema. Beides verlangt Zeit, die ich freischaufeln muss, und zwischen Lohnarbeit, Carearbeit und Blog ist das Blog das, worauf ich (und alle anderen) ohne Schaden verzichten kann. Und Freude bereitete mir das Blog im vergangenen Jahr auch immer weniger im Verhältnis zu der Zeit, die ich darein investierte – und verglichen mit der Leidenschaft, die ich für meine neue Idee habe. Das Blog oder jedenfalls der Kalender wird konmari-t; es hat sich von einem lieblichen Hobby zu einer lebenserhaltenden Maßnahme zu einem Druckpunkt ohne Weltschmerzerleichterung entwickelt und muss daher gehen.


Gratulation denen, die bis hierher gelesen haben. So lange ich mit der Entscheidung gerungen habe, so gut geht es mir jetzt damit. Es wird mir bis auf Weiteres nicht fehlen (und ich habe mir ja schon längst neue Verpflichtungen selbst aufgebürdet). An meinem Verhältnis zu und meinem Verhalten in den Sozialen Medien kann ich weiter arbeiten; ich kann nicht ganz auf sie verzichten, auch, weil ich mich in meiner derzeitigen Lebenssituation weiterhin nach menschlichem Kontakt verzehre, aber ich werde immer besser darin, mir selbst die wichtigste Begegnung zu sein. Ich merke gerade, wie schwer es mir schließlich doch fällt, endgültig auf den Button zu drücken und diesen Abschied abzuschicken. Aber es hilft nichts, die Zeit und der Raum müssen frei werden. Ich sage nicht ‚Lebe wohl‘, nur ‚Auf Wiedersehen‘.

52/2023: Marjan Sax, 26. Dezember 1947

Wer in Düsseldorf und Umgebung lebt und dort ab und zu einkauft, dem ist das Carsch-Haus ein Begriff, ein Kaufhaus im Baustil des Neo-Klassizismus, das einen gesamten Block umfasste. Das Gebäude hat eine bewegte Geschichte: es wurde im Krieg stark beschädigt, beherbergte nach dem Krieg Institute der Reeducation, um dann später nach einem Umzug – das Gebäude wurde eingerissen, die Fassade an einem ortsversetzten ähnlichen Gebäude befestigt – wieder lange Zeit ein Kaufhaus zu sein (der eigentliche Ort des ehemaligen Carsch-Hauses ist heute nur noch ein kleiner Platz mit einem Ausstieg aus einem Parkhaus, wenn ich mich nicht täusche). Seinen Namen erhielt das Haus vom jüdischen Inhaber des Textil-Einzelhändlerunternehmens Carsch & Co., Paul Carsch. Dieser war mit Herren- und Knaben-Konfektionskleidung erfolgreich und reich geworden – aufgrund der Maßnahmen der Arisierung unter den Nationalsozialisten musste er 1933 allerdings zwangsweise sein Unternehmen an seinen Prokuristen verkaufen. Eine monatliche Rente für Carsch und seine Familie wurde zwar vereinbart, doch der Betrag, den er für sein Unternehmen erhielt, bleib (selbstverständlich) weit unter Wert. Paul und Bella Carsch konnten mit ihren beiden Kindern Walter und Else rechtzeitig nach Amsterdam auswandern und überlebten dort den Zweiten Weltkrieg in einem Versteck. Paul Carsch erhielt nie eine Entschädigung für den erlittenen Verlust.

Walter Carsch floh von Amsterdam aus weiter in die USA, Else Carsch heiratete in Amsterdam den ehemaligen Viehhändler Josef Sax, ebenfalls vor den Nazis geflohener Jude. 1947 kam ihre gemeinsame Tochter Marjan zur Welt.

Marjan Sax studierte Politik und engagierte sich während des Studiums stark in der Feminismus-Bewegung. Sie war beteiligt an der 1969 gegründeten Dolle Mina, ein Organistation für den Kampf für Frauenrechte, benannt nach Wilhelmina Drucker, außerdem an der Gründung des Vrouwenhuis in Amsterdam 1973, einem Ort für Frauen-Gesprächs- und Aktionsgruppen, der Vereinigung Wij Vrouwen Eisen (Wir Frauen fordern) 1974, die sich für das Recht auf Abtreibung einsetzte, des Saarein, dem ältesten noch bestehenden Frauen-Cafés in Amsterdam, sowie der Abteilung für Frauenforschung an der Universität von Amsterdam. 1976 leitete Sax – ungeplant – die Besetzung der Abtreibungsklinik Bloemenhove durch Wij Vrouwen Eisen, die dazu führte, das die geplante Schließung abgewendet wurde; diese Aktion gilt als mitentscheidend bei der Änderung der niederländischen Gesetzeslage hinsichtlich der Legalität und Verfügbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen. Ein kleiner autobiografischer Rückblick darauf findet sich auf dieser Seite:

Marjan Sax‘ Vater war bereits 1973 verstorben und hatte ihr als Alleinerbin 2,5 Millionen Gulden hinterlassen, die er nach dem Krieg im Metallhandel gewonnen hatte. Sie ließ das Geld zunächst auf dem Konto ruhen, da sie mit dieser Summer nichts anzufangen wusste und Vermögen in den politischen Kreisen, in denen sie sich bewegte, als ‚gauche‚ betrachtet wurde.(1) Sie arbeitete 1977 bis 1981 als Teamleiterin an einer Hochschule, 1982 war sie Mitbegründerin des Lesbisch Archief Amsterdam, heute in der Stiftung Internationales Homo/Lesbisches Informationszentrum und Archiv (IHLIA) integriert.

Ebenfalls 1982 fand Sax schließlich die richtige Verwendung für das geerbte Vermögen: Sie rief Mama Cash (Link Englisch) ins Leben, eine Stiftung zur Unterstützung und Förderung von feministischen Projekten, in der sie bis 2003 verschiedene leitende Funktionen einnahm. Die Stiftung gibt bis heute Fördergelder an Projekte und Aktivismusgruppen des Feminismus.

Nach der Gründung von Mama Cash arbeitete Sax von 1983 bis 1986 bei der Stichtig Vrouwen en Media (Stiftung Frauen und Medien) in der Erforschung der Situation von Journalistinnen bei niederländischen Tageszeitungen. Von 1985 war sie auch am Roze Draad (Rosa Draht) beteiligt, einer Unterstützerbewegung des Sexarbeiter*innen-Vereins De Rode Draad (Der Rote Draad), der 2012 für bankrott erklärt und aufgelöst werden musste. Außerdem unterstützte sie bei Vrouwen Tegen Uitzetting (Frauen gegen Ausweisung) weiblich Asylsuchende, und noch heute ist sie Mitgleid im Ehrenrat der jüdischen, israelkritischen Stiftung Een Ander Joods Geluid (Eine andere jüdische Stimme).


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem: (1) Mama Cash

51/2023: Gila Goldstein, 18. Dezember 1947

Grabstein von Gila Goldstein, by Danny-w – Own work, CC BY-SA 3.0

Gila Goldstein kam in Turin, Italien, auf die Welt, immigrierte in früher Kindheit mit ihrer Familie nach Israel und wuchs in Haifa auf. Mit 13 Jahren verstand sie, dass sie trans* war, und begann in ihrer weiblichen Identität unter dem Namen Gila zu leben. Sie musste survival sex praktizieren – sexuelle Handlungen gegen Unterkunft, Verpflegung und Sicherheit –, überlebte auf diese Weise jedoch, bis sie 1965, mit 18 Jahren, eine geschlechtsangleichende Operation in Belgien vornehmen lassen konnte – sie war damit die erste israelische trans* Frau, die diese Operation hatte durchführen lassen, doch bereits die zweite israelische Frau, die offen trans* lebte, nach Rina Natan (Link Englisch).

Goldstein blieb in Europa und trat als (Strip-Tease-)Tänzerin auf. Erst Mitte der 1970er Jahre kehrte sie nach Israel zurück, wo sie ebenfalls als Tänzerin arbeitete, unter anderem in der Bar 51. Amos Guttman, ein schwuler israelischer Regisseur, basierte die Figur der Stripperin Apolonia Goldstein in seinem Film ‚Bar 51‚ auf Gila.

1975 war Goldstein an der Gründung der Agudah – damals noch unter dem Namen ‚Gesellschaft für den Schutz persönlicher Rechte‘ – der nationalen Organisation der LGBTQIA+Community Israels. Für ihre Arbeit im Kampf für die Rechte queerer Menschen sollte sie 2003 einen Preis gewinnen.

In den 1990er Jahren begann Goldstein ihre Karriere als Sängerin, so war sie im Club Allenby 58 fest engagiert und nahm auch einige Platten auf; zum Jahrtausendwechsel fing sie auch mit der Schauspielerei an und gewann 2005 für ihre Rolle in ‚Yeladim Tovim (Good Boys)‚ eine Auszeichnung als beste Nebendarstellerin beim Miami LGBT Film Festival. Fünf Jahre später erschien ein Dokumentarfilm über sie selbst: ‚That’s Gila, that’s me‚.

The Gila Project‚, eine israelische Organisation zur Unterstützung von trans* Jugendlichen, die 2011 gegründet wurde, ist nach ihr benannt; 2015 führte Goldstein die Tel Aviv Pride Parade an. Zwei Jahre später verstarb sie 70-jährig nach einem Schlaganfall, die Meldungen zu ihrem Tod bezeichneten sie teilweise mit dem männlichen Namen ‚Ilan Ronen‘ – nicht ihr deadname, sondern ein erfundener Name, den Gila sich für bürokratische Probleme ausgedacht und in den Ausweis eingetragen hatte. Ihre Familie stellte jedoch sicher, dass ihr richtiger Name – Gila Goldstein – auf ihrem Grabstein stand.

Am 4. Juni dieses Jahre widmete Google ihr ein Doodle für Zugriffe aus Israel, um an ihren bahnbrechenden Aktivismus für die LGBTQIA+Community in Israel zu erinnern.


Quelle Biografie: Wiki englisch

50/2023: Lucia Sánchez Saornil, 13. Dezember 1895

Geboren in eine Madrider Arbeiterfamilie mit einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester, verlor Lucia Sánchez Saornil früh die Mutter und den Bruder und wurde vom verwitweten Vater großgezogen.(1) Sie war lyrische Autodidaktin, deren Gedichte – unter dem männlichem Pseudonym Luciano de San-Saor – in Magazinen des Futurismus veröffentlicht wurden; das Pseudonym war nicht nur ein für Frauen der Zeit übliches Instrument, um überhaupt ernst genommen zu werden, es ermöglichte Sánchez Saornil auch eine erotische Explizität, insbesondere, da sie über sexuelle Begegnungen mit Frauen schrieb.

Mit 21 Jahren begann sie beim Arbeitgeber ihres Vater, der Telefónica, als Telefonistin zu arbeiten; parallel besuchte sie die Real Academia de Bellas Artes de San Fernando zu einem Studium der Malerei. In den kommenden Jahren trat sie jedoch mehr und mehr mit ihren Texten in die Öffentlichkeit, als Lyrikerin aus dem Umkreis des Ultarismus, doch auch mit politischen Texten, in denen sie die Positionen des Anarchosyndikalismus vertrat. Kurz, nachdem die Zweite Spanische Republik 1931 ausgerufen worden war, beteiligte sich Sánchez Saornil, schon nicht mehr bei Telefónica beschäftigt, an einer Streikaktion gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber teil. Auf diesem Weg kam sie in Kontakt mit der Confederación Nacional de Trabajo (CNT), einem Zusammenschluss anarchosyndikalistischer Gewerkschaften Spaniens, für die sie in den kommenden Jahren als Redaktionssekretärin(1) arbeitete. Innerhalb der politischen Arbeit für die CNT begann sie sich immer mehr dafür einzusetzen, dass die gesellschaftlichen Umwälzungen zugunsten der Arbeiterklasse gleichzeitig die Gleichberechtigung der Frauen mit sich bringen müssten; den wichtigsten Weg dahin sah sie in der Bildung der Frau, aber auch in der Bewusstmachung der Thematik innerhalb der – männlich dominierten – politischen Arbeit. In Barcelona versuchte sie, bei einigen Gewerkschaften Ressourcen für eine Organisation für die Frauenbildung zu gewinnen, ohne Erfolg, woraufhin si enach Madrid zurückkehrte.

In ihrer Heimatstadt lernte sie die Jurastudentin Mercedes Comaposada kennen. Die beiden Frauen wurden 1933 als ‚Lehrerinnen‘ zu einer Versammlung des CNT eingeladen, um die Genossen für die Probleme der Frauen innerhalb des Arbeiterkampfes zu sensibilisieren und ihre Forderung nach Gleichberechtigung zu erläutern. Sie stießen hier auf taube Ohren – die meisten Männer hatten, bei aller politische Progressivität, eine sehr traditionelle Vorstellung von der Rolle der Frau oder empfanden die gesonderte Aufmerksamkeit für die weibliche Unterdrückung als energiezehrende ‚Aufspaltung‘. Sánchez Saornil und Comaposada begannen daraufhin, über die Gründung einer eigenen Organisation nachzudenken; Sánchez Saornil, die zu dieser Zeit für eine Bahngewerkschaft arbeitete, trug dafür eine Liste der anarchosyndikalistischen Frauengruppen ganz Spaniens zusammen und nahm Korrespondenz zu ihnen auf. Sie erhielten Rückmeldungen von überallher – mit ähnlichen Frustrationen – und so entwickelte sich bis 1935 aus ihren Briefwechseln die Basis für eine landesweite Frauenbewegung. Gleichzeitig veröffentlichte Sánchez Saornil vermehrt Artikel, in denen sie die Gleichberechtigungsforderung thematisierte; dabei schreckte sie auch vor einem öffentlcihen Schlagabtausch mit dem Generalsekretär des CNT zurück, der der Meinung war, zunächst müsse der Klassenkampf gewonnen werden, bevor man sich der geschlechtsspezifischen Problematik zuwenden könnte. Gemeinsam mit der Medizinerin Amparo Poch y Gascón schließlich riefen Sánchez Saornil und Comaposada 1936, wenige Monate vor dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges die Mujeres Libres (Freie Frauen) ins Leben. Die Organisation verschrieb sich der Forderung nach Frauenbildung in der Arbeiterklasse, der Ermöglichung von Ausbildung in der Industrie für Frauen, sowie der Bewußtseinsförderung der Unterdrückung der Frau im besonderen. Frauen seien innerhalb des politischen Kampfes von ihrer dreifachen Versklavung zu befreien: Durch Unwissenheit, Sexismus und Ausbeutung.

Schon in der CNT wie auch bei den Mujeres Libres galt Sánchez Saornil als scharfsinnige, gut organisierte ‚politische Brandstifterin‘ und ausgezeichnete Rednerin. Als der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, war Sánchez Saornil an der Verteidigung beteiligt und verlegte ihre Tätigkeit auf die Kriegsberichterstattung. Sie setzte ihre Lyrik als Instrument der Agitprop ein und erregte damit international Aufmerksamkeit; so wurde die US-amerikanische Friedensaktivistin Emma Goldman durch Sánchez Saornil dazu bewegt, die internationale Unterstützung der Spanischen Republik gegen die Franquisten zu organisieren.

Nachdem Madrid gefallen war, folgte sie der republikanischen Regierung nach Valencia und arbeitete dort in den folgenden Jahren als Redakteurin der anarchistischen Presse sowie als Generalsekretärin der Solidaridad Internacional Antifascista (SIA, ‚Internationale Antifaschistische Solidarität‘), für die sie regelmäßig die Front besuchte. Zu dieser Zeit lernte sie auch ihre Lebensgefährtin América Barroso kennen. Die Mujeres Libres bestanden inzwischen aus etwa 20.000 Frauen, die auf der Seite der Republik im Bürgerkrieg kämpften; von ihren politischen Genossen erhielt die Organisation jedoch wenig Unterstützung, selbst, als sie sich offiziell als nationaler Verbund formierten. Zur gleichen Zeit lehnte jedoch Sánchez Saornil selbst auch den Zusammenschluss zum Beispiel mit anderen, kommunistischen Frauenorganisationen ab, mit der Begründung, dass nur in politischer Einigkeit – nicht durch ‚weibliche‘ Einigkeit – die menschliche Diversität abgebildet werden könne.

Als die Franquisten 1939 den Bürgerkrieg gewonnen hatten, floh Sánchez Saornil mit Barroso zunächst nach Frankreich, wo sie noch immer im Auftrag des SIA spanische Kriegsflüchtlinge unterstützte. Als Anarchistin war sie nach dem Fall der französischen Regierung in Paris im Westfeldzug der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt und entging nur knapp dem Konzentrationslager. Anfang der 1940er Jahre kehrte sie mit ihrer Lebensgefährtin heimlich nach Spanien zurück – da sie nie fotografiert worden war und zumeist unter Pseudonym veröffentlicht hatte, konnte sie unerkannt bleiben. Die Mujeres Libres hatten sich unter dem faschistischen Franco-Regime aufgelöst, ihre Genossinnen verschwiegen bis dessen Ende nach Möglichkeit ihre Zugehörigkeit. Sánchez Saornil konnte sich einen geringen Lebensunterhalt mit Bildbearbeitung verdienen, später jedoch, nachdem sie in Madrid erkannt worden war und fliehen musste(1), war sie in Valencia vom Wohlwollen der Familie ihrer Lebensgefährtin abhängig – auch diese lesbische Beziehung musste selbstverständlich geheim bleiben.

Am Ende ihres Lebens pflegte sie ihre Schwester, die an einer chronischen Erkrankung litt; drei Monate nach deren Tod verstarb auch Lucía Sánchez Saornil, am 2. Juni 1970 mit 75 Jahren an Lungenkrebs. América Barroso ließ eine Zeile aus einem ihrer Gedichte auf ihren Grabstein meißeln: „Aber…ist es wahr? Ist alle Hoffnung tot?”(1)

Dass wir noch heute im Feminismus nicht weiter sind als vor 90 Jahren – dass noch immer der Kampf um Gleichberechtigung der Frau, insbesondere der Mutter, daran krankt, dass vor der politischen Arbeit noch stets die Care-Arbeit kommt, die ihr niemand abnimmt und die ihre Energie auffrisst, beweist dieser Artikel von 1935 aus Lucía Sánchez Saornils Feder: The Woman Question in Our Ranks.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) Anarchismus.at

49/2023: Mao Hengfeng, 9. Dezember 1961

CN: Zwangsabbruch, später Abbruch

Die Ein-Kind-Politik, die China 1980 landesweit einführte, wurde aufgrund von mangelnder Infrastruktur zwar niemals vollständig durchgesetzt, insbesondere auf dem Land. Wo sie durchgesetzt wurde, führte sie zu großem Leid.

Mao Hengfeng hatte bereits Zwillinge, als sie 1988 zum zweiten Mal schwanger wurde. Ihr Arbeitgeber entließ sie daraufhin – denn zu den Maßnahmen gehörte auch, dass Nachbarschaften oder Betriebe eine Geburtenquote zugeteilt bekamen, deren Überschreitung kollektiv bestraft wurde. Hengfeng weigerte sich, eine Zwangsabtreibung vornehmen zu lassen, und wurde dafür in ein Ankang eingewiesen, eine psychiatrische Anstalt, in der jedoch auch immer wieder politisch Verfolgte als ‚psychisch krank‘ inhaftiert werden. Das Kind kam im Februar 1989 auf die Welt, im März erhielt Hengfeng die Nachricht, dass sie ihre Stelle verloren hätte, weil sie 16 Tage lang ‚unbefugten Urlaub‘ genommen habe – dies bezeichnete die Zeit im Ankang und im Wochenbett. Hengfeng legte Berufung ein und durfte zunächst tatsächlich in ihre Arbeit zurückkehren.

Ihr Arbeitgeber legte jedoch ebenfalls Berufung ein. Bei dem Gerichtstermin war Mao Hengfeng inzwischen im 7. Monat ihrer dritten Schwangerschaft; die Richterin stellte ihr in Aussicht, zu ihren Gunsten zu entscheiden, sollte Hengfeng diese – gegen die staatliche Maßgabe verstoßende – Schwangerschaft abbrechen. Hengfeng entschied sich dafür, doch dennoch wurde der Berufung ihres Arbeitgebers stattgegeben.

Zwischen 1990 und 2004 reichte Hengfeng immer wieder Petitionen ein, in denen sie Entschädigung und Wiedergutmachung forderte nicht nur für die unrechtmäßige Entlassung oder den Schwangerschaftsabbruch, den sie unter Druck hatte vornehmen lassen, sondern auch für die Verweigerung von Menschenrechten wie der Meinungsfreiheit durch den chinesischen Staat. Ihre Petitionen blieben allerdings nicht nur ohne Erfolg, sondenr wurden gänzlich ignoriert. Aus dem Aktivismus für die selbst erlittenen Ungerechtigkeiten entwickelte Hengfeng einen politischen Aktivismus auch für andere, die unrechtmäßig in Ankangs oder in ‚RTL‚-Lagern inhaftiert waren – Haftanstalten zur ‚Umerziehung durch Arbeit‚, in denen Kleinkriminelle ohne einen Gerichtsbeschluss bis zu vier Jahre lang festgehalten werden konnten.

Bis 2011 wurde Mao Hengfeng immer wieder unter Polizeiüberwachung oder Hausarrest gestellt oder in ‚RTL‚-Lager verbracht, etwa für die Unterstützung anderer Petitionseinreichenden oder ‚Bittsteller‘. Nachdem sie in einem Hausarrest in einer staatlichen Wohnung zwei Lampen zerstört hatte, wurde sie wegen ‚vorsätzlicher Zerstörung von Eigentum‘ zu zweieinhalb Jahren Haft im Frauengefängnis in Shanghai verurteilt. Hier erlitt sie Misshandlungen und wurde 70 Tage lang in Einzelhaft gehalten –selbst in China sind höchstens 15 Tage Isolation gesetzlich erlaubt.

Für ihren Protest und die Unterstützung von Liu Xiaobo kam Hengfeng schließlich 2010 ein weiteres Mal in ein ‚RTL‚-Lager. Hier wurde sie gefoltert, erlitt Zwangsernährung, während ihr gleichzeitig die Lebensmittel, die ihre Familie ihr zusandte, vorenthalten wurden; andere Insassinnen wurden aufgefordert, sie zu überwachen und zu schlagen, wenn sie ihre Zelle verließ. Sie verbrachte Zeit in einem Gefängniskrankenhaus, wo auch festgestellt wurde, dass die Misshandlungen bei ihr Blutungen im Gehirn verursacht hatten. Am 28. Juli 2011 wurde sie ohne die Benachrichtigung ihrer Familienangehörigen in einem Rollstuhl vor ihre Wohnung gestellt, unfähig, sich bemerkbar zu machen oder sich auch nur aufzurichten. Nachdem sie schließlich gefunden wurde, versuchte ihre Familie sie am folgenden Tag in ein Krankenhaus zu bringen, doch die Polizei verhindete dies: Es fanden zu dieser Zeit die 14. Schwimmweltmeisterschaften in Shanghai statt und ‚Menschen wie sie‘ dürften in dieser Zeit nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden. Erst nach der Meisterschaft könnte sie sich wieder frei bewegen; wahrscheinlich jedoch steht sie bis heute unter Überwachung durch die Polizei.


Dass eine Regulierung der Familienplanung durch den Staat ein unrechtmäßiger Eingriff ist, der insbesondere für Menschen mit Uterus, aber auch die Kinder, die darunter gezeugt, gar geboren werden, schreckliche Konsequenzen hat – und es macht wenig Unterschied, ob es um eine Senkung oder eine Steigerung der Geburtenrate geht – steht völlig außer Frage. In einer patriarchalen Gesellschaft, wie es auch China ist, hat eine solche Geburtenregulierung jedoch noch andere, gesamtgesellschaftliche Folgen. Da auch in China die Erblinie über die männliche Nachkommenschaft verläuft, wurden – selbstverständlich – Schwangerschaften mit weiblich gelesenen Embryos häufiger angebrochen als mit männlich gelesenen Embryos. Nicht nur verzeichnet China nun mit den inzwischen erwachsenen Generationen ein Phänomen namens ‚kleiner Kaiser‘ – von sämtlichen Verwandten verwöhnte Einzelkinder mit wenig Sozialkompetenz – sondern ein übermäßiges Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern: Bis 2009 war das Verhältnis von männlich gelesenen Kindern zu weiblich gelesenen Kindern 120:100 (statt einer statistisch wahrscheinlichen 1:1-Rate). Die vornehmlich männlichen ‚kleinen Kaiser‘ haben daher wesentlich schlechtere Chancen, eine Partnerin zu finden, schon alleine, weil es so wenige zu finden gibt – die Geburtenrate bleibt somit langfristig niedrig und das lässt sich nicht mehr verändern.

Neben der Tatsache, dass Schwangerschaften generell, aber insbesondere mit weiblich gelesenen Embryos bis ins 3. Trimester noch ‚abgebrochen‘ wurden – und in diesem Fall halte ich den Begriff der Kindstötung im Mutterleib bei ansonsten lebensfähigem Embryo für angebracht – ist auch der Fakt erschreckend, dass weiblich gelesene Kinder, die auf die Welt kamen, aus dem gleichen Grund oft in Kinderheimen vor dem Staat versteckt wurden, in denen sie meist grausam vernachlässigt wurden. Die chinesische Ein-Kind-Politik war also für alle Menschen mit Uterus eine absolute, misogyne Katastrophe.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch

48/2023: Laura „Lau“ Mazirel, 29. November 1907

Geboren und zu Teilen aufgewachsen im Dorf Gennep, das im Osten and Kleve und Goch grenzt, lernte die Tochter eines Eisenbahners und einer Lehrerin von früh auf Niederländisch und Deutsch. Ihre Eltern waren Pazifisten und sie erzogen ihr einziges Kind auch mit dieser Geisteshaltung. Als Laura zehn Jahre alt war, zog die Familie nach Utrecht, wo sie nach der weiterführenden Schule ebenfalls als Lehrerin arbeitete, während sie in der Abendschule Jura und Psychologie studierte. Nachdem sie darin ihren Abschluss gemacht hatte, machte sie eine Wanderung nach Spanien (möglicherweise den Jakobsweg nach Santiago de Compostela?).(1)

Von 1930 an lebte sie in Amsterdam, wo sie zunächst als Lehrerin und Reiseleiterin arbeitete. Sie schloss sich der sozialistischen Kommune ‚Roode Kloster‚ an, engagierte sich im Sociaal Demokratischen Studentenclub (Sozialdemokratischer Studentenclub, SDSC) und in der Sociaal-Democratische Arbeiderspartij (Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP), außerdem beriet sie das Medisch Opvoedkundig Bureau (Büro für medizinische Bildung) in Rechtsfragen. Sie ging – als Gegnerin der traditionellen Ehe mit all ihren Konsequenzen für die Rechte der Ehefrau – eine ‚freie Ehe‘ mit einem Mann ein; diese ‚freie Ehe‘ schloss sie durch Bezeugung des Bündnisses vor Freunden, zwei Söhne gingen aus der Ehe hervor.

Mit 30 Jahren eröffnete sie 1937 ihr eigenes Rechtsanwaltsbüro; hier vertrat sie vor allem Klienten, die aufgrund des §248 verfolgt wurden, der homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Minderjährigen strafbar machte – als minderjährig galten zu dieser Zeit Menschen unter 21 Jahren. Der andere Teil ihrer juristischen Arbeit galt der Unterstützung von Flüchtlingen – darunter die zahlreichen Juden und Sinti*ze und Rom*nja, die vor dem faschistischen Regime aus Deutschland in die Niederlande geflohen waren. Sie half bei der Regelung von Familienangelegenheiten, und bei Problemen mit der Ausländerbehörde. Im gleichen Jahr, in dem sie ihr Büro eröffnete, wohnte sie auch einem Kongress auf der Weltausstellung in Paris bei, auf dem sie von der Theorie und der Planung der ‚Rassenhygiene‚ durch deutsche Wissenschaftler hörte und sogleich verstand, welche Folgen das für Juden und Sinti und Roma haben würde. Um sich selbst ein Bild zu machen, besuchte Mazirel ein ‚Entlausungscamp‘ für Rom*nja in Deutschland und fotografierte die Zustände dort. Als sie in die Niederlande zurückkehrte, versuchte sie, die Behörden und jüdischen Institutionen davor zu warnen, persönliche Angaben wie Religion und Interessen behördlich registrieren zu lassen, weil sie verstand, dass dies die staatliche Verfolgung aufgrund dieser Angaben erleichtern würde. Ihre Warnung fanden jedoch kein Gehör.

Nachdem im Mai 1940 Deutschland die Niederlande besetzte, war Laura Mazirel im Widerstand aktiv. Ihr Rechtsanwaltsbüro blieb weiterhin Anlaufstelle für Homosexuelle und Flüchtlinge und diente als Tarnung für die Weiterleitung von Informationen, die Kontaktaufnahme und die Organisation von Unterkünften von Menschen im Widerstand. Mazirel schloss sich den ‚Vrije Groepen Amsterdam‚ an; unter der Identität der Säuglingsschwester Noortje Wijnands war sie im Untergrund aktiv, während sie als Anwältin Laura Mazirel – die sehr gut Deutsch sprach – in Kontakt kam mit hochrangigen deutschen Militärs wie Ferdinand aus der Fünten. Aufgrunddessen wusste sie, was mit den Deportierten geschehen würde. Sie brachte Juden bei sich unter und gab jedes Jahr ein Neugeborenes einer jüdischen Familie bei den Behörden als ein eigenes an. Auch gehörte sie zur Gruppe um Walter Süskind, die Kinder aus der Hollandsche Schouwburg rettete, und sie soll noch auf den Gleisen des Bahnhofes oder aus bereits abgefahrenen Zügen Kinder aus den Waggons geholt haben. Ihr jüdischer Ehemann und ihre zwei Söhne – nach den deutschen ‚Rassengesetzen‘ ebenfalls Juden – mussten 1942 untertauchen.(1)

Im Folgejahr war Mazirel an dem Anschlag auf das Einwohnermeldeamt Amsterdam beteiligt, bei dem zahlreiche Personendaten zerstört und entwendet werden konnten. Die deutschen Besatzer hatten 1941 Personalausweise mit Bild und Fingerabdruck eingeführt, und dies erleichterte, wie Mazirel bereits früh geahnt hatte, die Verfolgung, Aushebung und Deportation von Juden, Sinti*ze und Rom*nja, Homosexuellen und anderen im Faschismus unerwünschten Personen. Mazirel wollte bei dem Anschlag vor Ort sein, doch Gerrit van der Veen hielt sie für nicht glaubwürdig in einer Polizeiuniform – die Verkleidung, mit der sich die Gruppe Einlass in der Behörde verschaffte. Außerdem fand er, sie könne als Anwältin noch andere, wichtigere Aufgaben für den Widerstand erfüllen. Die Aktion war ein großer Erfolg: Das Zentralregister für ganz Amsterdam war in der ehemaligen Konzerthalle des Amsterdamer Zoos Artis untergebracht; die Widerständler*innen konnten eindringen und Feuer in der Kartothek legen. Die – hauptsächlich niederländisch besetzte – Feuerwehr trug anschließend ebenfalls zum Erfolg des Einsatzes bei, indem sie sich Zeit ließ mit dem Eintreffen und dann auch noch wesentlich mehr Wasser als nötig einsetzte. Was an Dokumenten nicht verbrannte, erlitt so einen Wasserschaden. 800.000 Karteikarten zu Amsterdamer Bürgern wurden zerstört, außerdem konnte die Gruppe 600 Blankoausweise zum Fälschen entwenden sowie 50.000 Gulden. Der Erfolg des Anschlags diente der Stärkung des Widerstands ebenso, wie er die Erfassung und somit Deportation von Verfolgten massiv erschwerte.

Elf der Beteiligten konnten in den kommenden Monaten aufgrund von Verrat verhaftet werden, sie wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. Eine der Widerständler*innen, Frieda Belinfante, konnte der Verfolgung entkommen, indem sie sich als Mann verkleidete. Gerrit van der Veen wurde im nächsten Jahr ebenfalls aufgegriffen, verurteilt und hingerichtet. Mazirel besuchte ihn am Tag vor seinem Tod, er soll zu ihr gesagt haben, sie möge der Welt erzählen, dass Homosexuelle ebenso mutig sein können wie alle anderen. Ihre Antwort darauf: „Als Frau weiß ich, dass das Geschlechts nichts mit Mut zu tun hat.“(1)

1944 wurde auch Laura Mazirel von den Deutschen verhaftet. Sie wurde zwar nach sechs Wochen wieder auf freien Fuß gesetzt, weil ihre Akte verschwunden war und somit unklar, was ihr vorgeworfen wurde. Doch sie erlitt in dieser Zeit Misshandlungen, die den Rest ihres Lebens Folgen für ihre Gesundheit haben sollten.

Nach dem Krieg setzte Mazirel ihre Arbeit als Rechtsanwältin in Fragen zu Einbürgerung und Namensänderung fort. Sie trat für die Rechte der LGBTQIA+Community ein und kämpfte für das Recht auf Abtreibung. Sie wurde Mitglied der Partij van de Arbeid, trat dort aufgrund der Haltung zu den ‚Polizeiaktionen‘ in Indonesien jedoch wieder aus. Mit Robert Hartog, den sie im Untergrund während des Zweiten Weltkriegs kennengelernt hatte, ging sie eine notarielle Ehe und bekam einen Sohn von ihm. Mitte der 1950er Jahre zwang ihr Gesundheitszustand sie dazu, ihren Beruf aufzugeben; die Familie zog nach Frankreich aufs Land. Sie trat 1957 noch, kurz nach deren Gründung, der Pacifistisch Socialistische Partij bei. 1973 kam ihr jüngster Sohn bei einem Autounfall ums Leben, sechs Monate später starb Laura Mazirel, kurz vor ihrem 67. Geburtstag.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) Resources Huygens, Vrouwenlexicon

47/2023: Erica Malunguinho, 20. November 1981

Die Region Brasiliens, in der Erica Malunguinho geboren wurde und aufwuchs, ist geprägt von der Kultur aus Afrika nach Südamerika verschleppter Sklaven. In Recife, Hauptstadt der Provinz Pernambuco im Nordosten des Landes, machen PoC einen Großteil der Bevölkerung aus; Água Fria, der Stadtteil, in dem Malunguinhos Familie lebte, ist eine vornehmlich von Schwarzen bewohnte Nachbarschaft. Ihre Mutter war gebildet und arbeitete als Krankenpflegerin, sie sorgte auch für Ericas gute Ausbildung. Die Musik und Ästhetik des Jurema Sagrada* hatte starken Einfluss auf Malunguinhos künstlerische Entwicklung. Gleichzeitig erlebte sie nicht nur Rassismus, sondern auch Colorismus – hierarische Abwertung innerhalb der Schwarzen Gemeinschaft aufgrund dunklerer Haut.


*Jurema ist eine in Brasilien heimische Akazienart, die in diesem Kult als heilig (‚sagrada‚) gilt; der Baum liefert mit Holz und Blättern Baumaterialien, und Getränke, Aufgüsse und Salben aus seinen Bestandteilen werden für rituelle Handlungen verwendet. Die Religion vereint den Naturglauben der indigenen brasilianischen Bevölkerung mit der afrikanischen Religion der Yoruba sowie dem Katholizismus.


Nach der weiterführenden Schule ging Malunguinho nach São Paulo. Die räumliche Veränderung und das Studium der Kunstgeschichte und der Ästhetik gehörten zu einer Befreiung, bei der sie auch ihre Genderidentität erkannte und akzeptierte. Sie begann ihre Transition und wählte ihren Namen: ‚Malungo‘ ist ein Bantu-Wort, das eine*n Reisegefährt*in bezeichnet, ‚-inho‚ ist die portugiesische Verniedlichungsform.

Bereits während ihres Studiums bezog Malunguinho ein Studio im Stadtbezirk Campos Eliseos, von dem aus sie als Künstlerin in vielen Kunstformen tätig ist; im Laufe der Zeit baute sie ihr Studio zu dem Kulturzentrum ‚Aparelha Luzia‚* aus, in dem vornehmlich Schwarze Kunst, Unterhaltung und Politik zusammenkommen. Es dient als safe space für von Diskriminierung Betroffene, sowohl aufgrund der Hautfarbe wie auch der Orientierung und Identität – ein Knotenpunkt für Bildung, Austausch und gegenseitige Unterstützung, frei zugänglich für alle.


*Aparelho waren Zellen des zivilen Widerstand gegen die Militärdiktatur von 1964 bis in die 1980er Jahre; Malunguinhos Kulturzentrum versteht sich als ein solches Zentrum des zivilen Widerstands mit einer weiblichen Basis, weshalb es ‚aparelha‘ heißt. Luzia ist der Name eines der ältesten Skelette, die audf dem Kontinent gefunden wurden, ein Fossil der frühesten Einwohner Südamerikas. Den Brand des Nationalmuseums 2018 überstand zumindest der Schädel und einige Teile ihrer weiteren Überreste.(1)

Malunguinho bezeichnet das ‚Aparelha Luzia‚ auch als ein ‚quilombo‚: Dies waren, zum Teil wehrhafte, Siedlungen geflohener Sklaven in Brasilien, in denen sich eben solche Kulturen wie die der Jurema Sagrada entwickeln konnten. Malunguinho nimmt damit Bezug auf die Fähigkeit und den Willen der maroons, ihre eigene Gesellschaft nach ihrer Tradition und ihren Vorstellungen aufzubauen.


Es war die Ermordung der Politikerin Marielle Franco, die Erica Malunguinho dazu bewegte, sich aktiv politisch zu betätigen. Für die Partido Socialismo e Liberdade (Partei für Sozialismus und Freiheit) trat sie 2018, unterstützt vom Kollektiv des ‚Aparelha Luzia‚, für die Parlamentswahlen für den Bundesstaat São Paulo an und gewann einen Platz, am gleichen Tag, an dem Jair Bolsonaro zum Präsidenten des Landes gewählt wurde. (1) Sie war die erste trans* Frau, die in Brasilien in ein Parlament gewählt wurde. Ihr politisches Programm richtet sich vor allem gegen Rassismus und die Diskriminierung von Menschen in der LGBTQIA+Gemeinschaft, außerdem hat sie es sich zum Ziel gesetzt, Obdachlosigkeit zu bekämpfen, Opfern von sexueller Gewalt eine bessere Versorgung in Krankenhäusern zu ermöglichen und den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu erleichtern. Malunguinho möchte dem Publikum in ihrem quilombo auch verdeutlichen, dass das Private politisch ist und dass die Bevölkerung die Politik mitgestalten kann.(1)

Rosa-Luxemburg-Stiftung: Interview mit Erica Malunguinho „Queer sein in Brasilien ist ein Akt der Rebellion“

Quelle Biografie: Wiki englisch
außerdem:
(1) The Nation

46/2023: Ursula Eggli, 16. November 1944

Ursula Egglis Eltern waren einfache Leute im kleinen Schweizer Ort Dachsen, der Vater Arbeiter, die Mutter Kinderschneiderin und Näherin. Ursula kam als ältestes von drei Geschwistern auf die Welt; nachdem sie sich mit dem Laufenlernen schwer tat, benötigte es verschiedene Ärzte, bis die Diagnose Spinale Muskelatrophie (‚Muskelschwund‘) erfolgte. Ihr Leben auf dem Dorf blieb zunächst jedoch relativ idyllisch: Sie wurde von Nachbarskindern und ihrem Bruder Daniel im Kinderwagen geschoben, wenn sie allein war, las sie und dachte sich Geschichten aus. Sie ging auch – als einziges Mädchen unter 24 Jungen – für drei Jahre in die Dorfschule.

Mit neun Jahren jedoch kam sie in ein Heim für behinderte Kinder; ihr zweiter Bruder, Christoph, war ebenfalls mit Muskelatrophie zur Welt gekommen, was die diabeteskranke Mutter belastete; die Dorfschule sah sich ebenfalls von den Anforderungen überlastet. Im Heim beendete Eggli die Schule, danach kehrte sie zunächst nach Dachsen zurück.(1)

Anfang der 1970er Jahre gründete sie mit behinderten und nicht-behinderten Freund*innen eine WG. 1977 veröffentlichte Eggli ihr erstes Buch, ‚Herz im Korsett‘, in dem sie im Tagebuchstil aus dem WG-Leben erzählt. Darin brach sie das Tabu, über sexuelle Bedürfnisse und sexuelles Erleben behinderter Menschen, insbesondere Frauen, zu sprechen.

Zwei Jahre nach der Veröffentlichung trat Ursula Eggli mit ihren Freund*innen im Dokumentarfilm ‚Behinderte Liebe‘ auf, der ebenfalls die Schwierigkeit schildert, ein ’normales‘ Beziehungs- und Liebesleben zu führen, denen Menschen mit Behinderung gegenüberstehen.

In den 1980er Jahren schrieb Eggli weitere Texte, etwa in der von ihr gegründeten Zeitschrift ‚Puls‘, und Bücher, die jedoch nicht an den Erfolg ihres ersten Buches anschließen. Sie war als Aktivistin für Behindertenrechte und Frauenrechte politisch tätig, hielt Vorträge und leistete soziale Arbeit, etwa Begleitung und Betreuung von Feriencamps für Kinder mit Behinderung.

Sie verliebte sich zum ersten Mal in eine Frau und lebte mehrere Jahre mit dieser Partnerin zusammen; so griff sie in den 1990er Jahren in ihrem politischen Aktivismus auch Homosexuellenrechte auf, auch hier insbesondere Rechte behinderter Homosexueller. Mehrfach nahm sie an den Gesprächen der Homosexuellenbewegung an der Akademie Waldschlösschen in Göttingen teil.(1)

2005 war sie Vizepräsidentin des Schweizer Netzwerk behinderter Frauen ‚Avanti donne‚.

Sie starb am 2. Mai 2008 mit 64 Jahren.

Im Archiv der Behindertenbewegung ist ihr Märchenbuch Freakgeschichten für Kinder und Erwachsene als PDF zum Download zu finden.


Quelle Biografie: Wiki deutsch
außerdem:
(1) Archiv Behindertenbewegung




45/2023: Susie Orbach, 6. November 1946

Der Vater von Susie Orbach war ein britisch-jüdischer Politiker der Labour Party und aktiv im Jüdischen Weltkongress, ihre Mutter, eine amerikanische Jüdin, unterrichtete während des Zweiten Weltkriegs geflüchtete Deutsche in Englisch und arbeitete später als Lehrerin.

Susie wuchs in der Nähe von London auf. In ihrer Ausbildung benötigte sie einige Anläufe, bis sie ihre Berufung fand: Zunächst erhielt sie ein Stipendium für die North London Collegiate School, wurde jedoch mit 15 Jahren von der Schule gewiesen. Trotzdem konnte sie später an der School of Slavonic Studies russische Geschichte studieren; im Jahr vor ihrem Abschluss brach sie das Studium ab, ebenso ein Jurastudium in New York. Erst am Richmond College of Staten Island fand sie in den Women’s Studies ihr eigentliches Interesse. Sie machte 1972 mit 26 Jahren dort ihren Bachelor mit dem höchsten Grad, ein Masterabschluss in Sozialfürsorge folgte zwei Jahre später an der Stony Brook University.

Orbach kehrte nach London zurück und gründete 1976 gemeinsam mit Luise Eichenbaum das Women’s Therapy Centre in London, dem fünf Jahre später gleiches Zentrum in New York folgen sollte.

1978 brachte Susie Orbach ihr Buch ‚Fat Is A Feminist Issue‚ heraus, in dem sie die Diätkultur und deren Wurzeln im Kapitalismus analysierte und kritisierte, 1982 folgte ein zweiter Teil des Buches. In den 1990er Jahren machte Orbach eine psychoanalytische Weiterbildung bei Anne-Marie Sandler; sie wurde außerdem dafür bekannt, dass sie Diana, Prinzessin von Wales, für ihre Essstörung behandelte. Ihren Doktortitel in Psychoanalyse machte schloss sie jedoch erst 2001 mit 55 Jahren ab.

2004 beriet sie Unilever und deren Werbeagentur zur Werbung für Dove – die sich auf die Fahnen schrieb, ihre Kundinnen nicht mehr mit unrealistischen Schönheitsidealen unter Druck zu setzen. Der Clip dazu gewann einen Preis in Cannes; Unilever setzt bei Dove-Werbung heute weiterhin auf Authentizität und Verantwortlichkeit im Umgang mit Frauenbildern in den Medien. (Selbstverständlich medienwirksam und mit dem Ziel, Produkte zu verkaufen.)

Orbach ist Vorsitzende des Verein AnyBody (vormals Endangered Bodies) und berät unter anderem das britische Gleichstellungsministerium zum Thema Körperbild. Sie schreibt seit zehn Jahren regelmäßig für The Guardian und brachte 2009 ein weiteres bahnbrechendes Buch heraus namens ‚Bodies‚, in dem sie sich mit dem stark wandelnden Körperbild des Internetzeitalters auseinandersetzt.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) Süddeutsche Zeitung

44/2023: Miriam van der Have, 1. November 1958

Mit 19 Jahren erhielt Miriam van der Have die Diagnose der Androgenresistenz (AOS): Sie hatte eine Vagina und in der Pubertät Brüste entwickelt, doch sie hatte keinen Uterus, ihre Gonaden waren lageveränderte Hoden und ihre Karyotyp XY. Die Gonaden wurden ihr wegen des erhöhten Krebsrisikos entfernt, doch bei der Operation wurde sie Opfer einer Verstümmelung: Ihr wurde vorher gesagt, ‚etwas an ihrer Vagina‘ müsse gemacht werden – als sie aufwachte, war ihr die Klitorisspitze (CN Bilder) entfernt worden.(1)

Van der Have machte einen Doktor in Mathematik und arbeitete als Journalistin. Sie lebte mit ihrer Frau und zwei Kindern und dem Geheimnis ihrer Geschlechtsidentität, als sie 2003 das Coming Out der trans* Frau Kelly van der Veer sah, die dort durch Big Brother bekannt ist.(2) Sie beschloss, sich ebenfalls öffentlich zu outen und trat in der TV-Dokumentation ‚Vinger aan der Pols‚ auf, obwohl ihr Ärzte jahrelang eingeredet hatten, dass sie bei einem Coming Out persönliche, berufliche und gesellschaftliche Verluste erleiden würde.(1)

Sie gründete 2013 mit zwei Freundinnen die Stiftung NNID für sexuelle Diversität, zwei Jahre später war sie an der Gründung der OII Europe (Link Englisch) beteiligt, seit 2016 hat sie das Sekretariat Intersex des Dachverbandes ILGA (International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association) inne. Sie brachte 2016 auch einen eigenen Dokumentarfilm über Frauen mit AOS heraus.

Eine ihrer politischen Forderungen ist es, ‚Geschlechtscharakteristika‘ als Merkmal in die niederländischen Gelchbehandlungsgesetze einzufügren, sodass inter* Personen nicht aufgrund ihrer Identität diskriminiert werden dürfen. Intergeschlechtlichkeit sollte nicht als eine Erkrankung oder medizinische Abnormalität behandelt werden – zumal der Termines verschiedene Formen umfasst und nicht alle Sachlagen tatsächlich medizinische Versorgung nötig machen. Stattdessen sieht van der Have Intergeschlechtlichkeit als eine Variation der menschlichen Geschlechter, die sich vor allem durch die gelebte Erfahrung auszeichnet, die Menschen haben, deren Körper nicht in die binären Vorstellungen von Männern und Frauen passt. Schon 2014 forderte van der Have deswegen das Hinzufügen des ‚I‘ zur Bezeichnung der LGBT-Gemeinschaft.(4)


Quelle Biografie: Wiki niederländisch | englisch
außerdem:
(1) Humanstisch Verbond
(2) Huffington Post
(3) Vice
(4) Het Parool

WEG MIT
§218!