Monat: Mai 2019

22/2019: Anne Shymer, 30. Mai 1879

Der Vater war Anwalt in Logansport, Indiana, die Schwester wurde Romanautorin und Drehbuchautorin in Hollywood; Anne Shymers Interesse an Chemie förderte die Mutter. Nach einem Studium heiratete die geborene Justice einen wohlhabenden Mann, mit dem sie in Großbritannien lebte. Als dieser 1910 starb, kehrte die junge Witwe nach Amerika zurück. In New York City stieg sie wieder in ihren Beruf als Chemikerin ein und konnte bei den Forschungen ihrem Privatlabor bald große Erfolge verbuchen. Sie heiratete 1911 erneut, einen Briten namens Shimer, doch die Ehe hatte keinen Bestand – vier Wochen später ließ sich Anne wieder scheiden, sie behielt den Namen, änderte ihn jedoch in die amerikanische Schreibweise Shymer. Unter diesem Namen gründete sie die United States Chemical Company, für die sie unter anderem ein Textilbleichmittel und ein Desinfektionsmittel entwickelte, das in Krankenhäusern zum Einsatz kommen sollte.

Sie wurde mit diesen Errungenschaften weltberühmt; der Hof-Physiker Georges V. äußerte sich beeindruckt von ihrer Person und der britische Premierminister Herbert Asquith lud sie nach London ein. Den Aufenthalt in London wollte sie auch dazu nutzen, geschäftliche Kontakte zu gewinnen, und so schiffte sie am 1. Mai 1915 von New York nach Liverpool ein – auf der RMS Lusitania.

Diese fuhr weiterhin ihre transatlantische Strecke, trotz der Warnungen durch Kaiser Wilhelm II., dass sich das Deutsche Reich unter anderem mit Großbritannien im Krieg befand und dass sich Schiffe, die in die Kriegsgebiete fuhren, in Gefahr befanden, von U-Booten torpediert zu werden. Und so wurde die RMS Lusitania dann auch am 7. Mai 1915 vor der Küste Südirlands von U-Boot-Torpedos abgeschossen und sank. Bei dem Unglück starben 1.198 Menschen, darunter Anna Shymer. Es gelang ihr noch, in ihre Kabine zurückzukehren und ihren gesamten Schmuck anzulegen; als ihre Leiche als Nr. 66 geborgen und später identifiziert wurde, trug sie Geschmeide im Wert von 4.000 Dollar an sich. Während Shymers Leichnam sicher in die USA überstellt wurde, verschwand ihr Schmuck irgendwo auf dem Weg zwischen Irland und der amerikanischen Botschaft in London und ist bis heute nicht mehr aufgetaucht.

Der Untergang der Lusitania und die Proteste der amerikanischen Regierung gegen die Torpedierung sorgte für die Einstellung des „uneingeschränkten U-Boot-Krieges“ durch das Deutsche Reich, bis zum Februar 1917; dann traten auch die USA, als langfristige Folge unter anderem der Torperdierung der Lusitania, in den Weltkrieg ein.

Shymers Mutter und Schwester klagten auf Schadensersatz bei der Schiffahrtslinie, ebenso ihr geschiedener Mann. Da er allerdings zum Zeitpunkt ihres Todes bereits vier Jahre von ihr getrennt war, wurde seiner Klage nicht entsprochen. Ihrer Familie wurden zehn Jahre nach ihrem Tod gemeinsam 7.527 Dollar zugesprochen; ihre Mutter war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben.

21/2019: Eren Keskin, 24. Mai 1959

Tochter eines Kurden und einer Tscherkessin, ist Eren Keskin seit 1986 in Istanbul als Anwältin für Menschenrechte tätig, insbesondere der Kurden und Frauen. Sie rief 1997 ein Rechtshilfeprojekt für Frauen ins Leben, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell misshandelt wurden.

Ihr Engagement brachte ihr zeitweise Berufsverbot ein, Morddrohungen und Strafverfahren, zwischen 1994 und 2018 nach Keskins eigenen Aussagen über 140. Mehrfach wurde sie zu Gefängnisstrafen verurteilt: Dafür, in einem Brief an das belgische Parlament das Wort ‚Kurdistan‘ verwendet zu haben; wiederholte Male für einen Verstoß gegen den Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches, der die „Beleidigung des Türkentums, der Republik und der Institutionen und Organe des Staates“ unter Strafe stellt. Zuletzt erging ein Urteil, das sie zu 7,5 Jahren Gefängnis verurteilte, für einen Zeitungsartikel, mit dem sie wiederum den Präsidenten der Türkei beleidigt haben soll. Derzeit rechnet sie jeden Tag mit ihrer Verhaftung, kann aber aufgrund eines Ausreiseverbotes die Türkei nicht verlassen.

mary shelley

für die FILMLÖWIN durfte ich Mary Shelley besprechen – seit dem 9. Mai auf DVD/BD – ein sehr schöner film, der locker den bechdeltest besteht und (fast) alles richtig macht!

Wer sich vorher oder hinterher noch mal etwas zur echten Mary Shelley zu Gemüte führen möchte, kann ja noch meinen Beitrag von 2016 zu ihr lesen. Ihr Leben nach der Veröffentlichung von Frankenstein bekommt dort auch nicht sehr viel Raum, deshalb hier eine kurze Zusammenfassung ihres Lebens post-Frankenstein. Sie schrieb weitere Romane und Reiseberichte, vor allem aber arbeitete sie daran, das Werk ihres verstorbenen Mannes zu veröffentlichen. Davon, seine Biografie zu schreiben, hielt sie ihr Schwiegervater ab, der seine finanziellen Zuwendungen – auf die sie lange Zeit angewiesen blieb – davon abhängig machte, dass niemand von den radikalen Ansichten seines Sohnes erfuhr. Der Tod von Percys erstem Sohn mit Harriet Shelley machte Marys Sohn Percy Florence zum direkten Erben des Shelley-Vermögens und als der Schwiegervater später starb, waren Mutter und Sohn ihre wirtschaftlichen Sorgen halbwegs los.

Sie traf nach Percys Tod noch einige Männer, die ihr die Ehe antrugen, aber sie lehnte stets ab. Sie könne nach einer Ehe mit einem Genie nur ein weiteres heiraten, war ihre Begründung. Dafür half sie allerdings einem befreundeten Frauen*-Pärchen, in Frankreich wie Mann* und Frau* zusammenzuleben – sie half ihnen, den Pass einer der beiden zu fälschen, sodass diese dort unter ihrem männlichen Pseudonym leben konnte.

Sie wurde mehrfach Opfer von Erpressungsversuchen, die auf ihrer oder Percys „unmoralischer“ Lebensweise beruhten. Ein Mann erpresste sie damit, eine kritische Biografie Percy Bysshe Shelleys herausbringen zu wollen – worauf sie nicht einging, wohl, weil diese sie eventuell aus der Zensur durch ihren Schwiegervater befreit hätte. Sie fand allerdings ihren eigenen Weg, dennoch ihre eigene Sichtweise zu erzählen, indem sie Percys Gedichte mit ausführlichen Anmerkungen herausbrachte, die sehr ins biografische Detail gingen.

Noch etwas zu ihrem größten Werk, Frankenstein oder Der Moderne Prometheus. Es steht noch immer ein Film aus, der diese literarische Vorlage gänzlich von den filmischen Vorgängern frei und wirklich nach der Geschichte Shelleys erzählt. Als ich das Buch damals las, war ich immer wieder erschüttert, wie völlig anders Shelley den künstlichen Menschen charakterisiert, als es uns unsere popkulturellen Einflüsse glauben lassen. Ich kann nur empfehlen, sich dieses Werk auf die feministische Lektüreliste zu setzen.

Jetzt lest aber erst einmal meine Filmkritik auf FILMLÖWIN.

morbid ideation

ich könnte das nicht
selbstmord
würde ich nie tun
die armen kinder
der arme mann
die armen eltern
wie feige
würde ich nie tun
selbst

ja, ein unfall
eine krankheit
das ist was anderes
die armen kinder
der arme mann
die armen eltern
wie tragisch
aber im ergebnis
gleich

20/2019: Kate Marsden, 13. Mai 1859

Über die Kindheit von Kate Marsden ist nicht viel bekannt, außer dass sie früh verwaiste. Mit 16 Jahren wurde sie Krankenschwester, eine Tätigkeit, die sie mit 18 bereits nach Bulgarien brachte, wo sie für das Rote Kreuz im Russisch-Osmanischen Krieg Verwundete versorgte. Dort begegnete sie den ersten Leprakranken (Link TW Bild) ihres Lebens, die sie davon überzeugten, dass die Heilung der Krankheit ihre Lebensaufgabe sei. Der Lepraerreger war erst wenige Jahre zuvor entdeckt worden; Lepröse wurden noch immer als unheilbar, vor allem aber hochansteckend betrachtet und lebten daher meistens unter extrem schlechten hygienischen Bedingungen, von der restlichen Gesellschaft verstoßen.

Nach dem Ende des Krieges kehrte sie zunächst nach England zurück, um ihre an Tuberkulose erkrankten Geschwister zu pflegen. Auch ihre Schwester in Neuseeland litt daran und so reiste Marsden 1884 mit ihrer Mutter dorthin. Nach dem Tod der Schwester verblieb sie zunächst in Wellington und leitete ein Krankenhaus, außerdem gründete sie die erste Zweigstelle der Johanniter in dem Inselstaat. Dann starb 1889 der „Apostel der Leprakranken“ Pater Damian, ein in der Sache besonders engagierter Geistlicher, der auf der hawai’ianischen Insel Moloka’i gearbeitet hatte. Marsden kehrte nach England zurück mit dem Wunsch, in den englischen Kolonien seine Arbeit fortzusetzen. Als sie im Folgejahr vom Roten Kreuz eine Einladung nach Sankt Petersburg erhielt, um von Zarin Maria Feodorowna einen Orden für ihre Aufopferung im Russisch-Osmanischen Krieg verliehen zu bekommen, bot sich ihr eine große Chance. Vor ihrer Abreise ersuchte sie ein Unterstützungsschreiben der Königin Victoria und deren Schwiegertochter Alexandra von Dänemark, die auch die ältere Schwester der Zarin war. Mit diesen Schreiben ausgestattet reiste sie nach Sankt Petersburg und erlangte dort nicht nur einen offiziellen Brief der Zarin, der ihre Forschungen zur Lepraheilung in Russland unterstützte, sondern auch finanzielle Förderung dafür.

Mit diesen Hilfsmitteln ausgestattet, kehrte sie zuerst nach England zurück, schiffte sich dann nach Ägypten ein und reiste über Alexandria, Jaffa, Jerusalem und Zypern nach Konstantinopel. Dort traf sie auf einen englischen Arzt, der ihr von einem angeblichen Heilkraut gegen Lepra erzählte, das in Sibirien zu finden sei. Nach dieser Begegnung reiste Marsden erneut nach Moskau, um von dort aus mit weiterer Unterstützung der Zarin und in Begleitung einer Übersetzerin nach Sibirien aufzubrechen. Ihr Reisegepäck beinhaltete so viele Schichten an Kleidung, dass sie in voller Montur ihre Knie nicht mehr beugen konnte und von drei Männern in den Schlitten gehoben werden musste, außerdem 18 Kilogramm Christmas Pudding – mit dem einfachen Argument, dass dieser ein unverderbliches Nahrungsmittel darstellte und sie ihn gerne aß.

Moskau - Irkutsk - zu Fuß
Google Maps: Auf dieser Route gibt es eine Fährstrecke. Diese Route verläuft durch Kasachstan. Dein Ziel liegt in einer anderen Zeitzone.

Die Reise der beiden Frauen dauerte zwei Monate allein bis Omsk (Google gibt auch heute für die Reisedauer zu Fuß 508 Stunden an). Dort musste Marsden wegen Krankheit pausieren und ihre Übersetzerin warf gänzlich das Handtuch. Nach der Genesung setzte die entschlossene Krankenschwester ihre Mission nach Jakutien alleine (also ohne Begleitung außerhalb der rekrutierten Einheimischen) fort. Das zweite Drittel ihrer Reise führte sie nach Irkutsk am Baikalsee, wo sie ein Kommittee zur Bekämpfung der Lepra gründete; schließlich brachte sie das letzte Drittel bis Jakutsk an der Lena, von wo aus sie sich noch in das nördliche Sibirien vorwagte – auf dem Pferd, teilweise abenteuerlich durch brennende Torffelder, auf der Suche nach dem Wunderkraut. Während ihrer ganzen Reise half sie neben Leprakranken auch anderen Bedürftigen, wie Strafgefangenen auf dem Weg ins Exil, insbesondere den Frauen darunter.

Sie fand in den Tiefen Sibiriens wohl ein Kraut, kutchutka, das dort gegen die Symptome der Lepra verwendet wurde, doch weit entfernt von einem Heilmittel war. Nach elf Monaten Reise durch Russland kam sie wieder in Moskau an und begann sofort, Spenden zu sammeln für eine Leprastation, in der Erkrankte unter menschenwürdigen Bedingungen versorgt werden könnten. Zurück in England, erhielt sie von Queen Victoria eine Brosche in Form eines Engels und sie wurde als eine der ersten weiblichen Fellows in die Royal Geographical Society aufgenommen. Im Folgejahr brachte sie ihren Reisebericht On Sledge and Horsback to Ouscast Siberian Lepers heraus, außerdem hielt sie diverse Vorträge, in denen sie auf die Zustände in den sibirischen Leprakolonien aufmerksam machte und Spenden sammelte. 1895 konnte dann in Wiljuisk eine moderne Leprastation nach ihren Plänen erbaut werden.

Ihr Ruhm als Abenteurerin und Erfolg als Wohltäterin zog jedoch Missgunst auf sich. Einige Kritiker meinten, es sei unglaubwürdig, dass sie als Frau diese ausgesprochen schwierige Reise angetreten und überstanden hätte. Schlimmer jedoch für ihre Position waren zwei Vorwürfe, die sie moralisch fragwürdig erscheinen ließen. Einerseits warf ihr eine ehemalige Reisegefährtin aus der Zeit in Neuseeland vor, eine Betrügerin zu sein, die womöglich auch die Spendengelder für die Leprakranken für den eigenen finanziellen Gewinn nutze. Eine amerikanische Russland-Expertin, Isabel Hapgood, griff diese Vorwürfe auf und bezichtigte Mardsen öffentlich der Veruntreuung. Auch wenn Marsden tatsächlich in ihrem Privatleben nicht den zuverlässigsten Umgang mit Geld, insbesondere Schulden hatte, konnten die Untersuchungskommissionen – sowohl in England wie in Russland – keine Unregelmäßigkeiten in ihrer Verwendung der Spenden feststellen. Nichtsdestotrotz war ihr Ruf als Wohltäterin geschädigt.

Diese üble Nachrede hätte Marsden vielleicht überstehen können, insbesondere nach der offiziellen Unschuldserklärung, doch sie ging Hand in Hand mit einem weniger juristischen als moralischen Vorwurf. Unter anderem die ehemalige Reisebegleiterin, aber auch ein engslischsprechender Pastor in Sankt Petersburg berichteten von der Homosexualität Marsdens – und Marsden selbst gab zu, die Avancen anderer Frauen nicht abgewiesen zu haben. Zwar war weibliche Homosexualität in England im Gegensatz zu männlicher nicht strafbar, aber gutgeheißen wurde sie auch nicht. William T. Stead, der erste Vertreter des investigativen Journalismus, war an vorderster Front bei der Schmierkampagne gegen Marsden. Sie dachte über eine Verleumdungsklage gegen den Sankt Petersburger Pastor nach und, nachdem dieser die Ergebnisse der russischen Spendenkommission als „Schönfärberei“ abtat, strengte auch eine solche an, doch ihre finanzielle Situation machte es unmöglich, diese juristische Handhabe weiterzuverfolgen. An Oscar Wilde, der im gleichen Jahr mit einer Verleumdungsklage scheiterte und vom Kläger zum Angeklagten wurde (später für Unzucht mit Prostituierten zu zwei Jahren harter Zwangsarbeit verurteilt, die langfristig seinen Tod verursachte), hatte sie ein warnendes Beispiel für die hohen Kosten und gleichzeitig schlechten Erfolgschancen einer solchen Klage.

Marsden führte ihre Arbeit noch einige Zeit weiter, doch konnte sie sich vom Ansehensverlust nicht erholen. 1914 war sie noch ursprünglich an der Gründung eines Museums in Bexhill beteiligt, zu dessen Sammlung sie selbst Stücke beitrug und sie überzeugte einen Bekannten, seine ägyptischen Artefakte zur Verfügung zu stellen, außerdem organisierte sie Versammlungen zur Unterstützung des Museums. Dann kontaktierte der Bürgermeister der Stadt das Gründungskommittee und wies auf den Jahre zurückliegenden Skandal in Marsdens Geschichte hin. Daraufhin musste sie sich von ihrer Tätigkeit zurückziehen, weil sie „nicht geeignet“ sei, Spenden zu verwalten.

1921 schrieb sie noch eine Verteidigungsschrift, My Mission in Sibiria, A Vindication, um gegen die Unterstellungen und ihren Ansehensverlust vorzugehen, blieb jedoch erfolglos. Sie starb demenzkrank 1931 in London.

Das Krankenhaus, das sie in Jakutien gründete, wurde 1962 geschlossen, doch Marsden wird dort noch immer erinnert und verehrt. Ein 55-Karat schwerer Diamant, der in Jakutien gefunden wurde, erhielt nach ihr den Namen Sister of Mercy Kate Marsden. Atlas Obscura (Link engl.) hat einen ausführlichen Artikel zu ihr online, einen Teil ihres Reiseberichts, der sich zu lesen lohnt, ist bei thelongridersguilt (Link engl.) zu finden.

19/2019: Hilde Levi, 9. Mai 1909

Religion spielte in ihrem Leben nur als Hindernis zum Glück eine Rolle: Schon Hilde Levis Eltern lebten als assimilierte Juden in Frankfurt am Main, sie selbst lehnte nach erzwungenem Religionsunterricht in der weiterführenden Schule früh die Religion für sich ab. Zu dieser Haltung trug sicherlich auch ihre wissenschaftliche Weltansschauung bei; ihr Abitur machte sie 1928 als einziges Mädchen ihres Jahrgangs in Physik. Nach ihrem Abschluss verbrachte sie zunächst ein halbes Jahr in England und begann dann an der Münchener Universität Physik und Chemie zu studieren. Bereits zwei Jahre später wechselte sie für ihre Promotionsarbeit an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem. Dort bestand sie 1934 noch ihre Doktorprüfung, doch da die Nationalsozialisten im Jahr zuvor an die Macht gewählt worden waren, überschattete ihre jüdische Familiengeschichte ihr ganzes Leben. Aufgrund des Arierparagraphen hatte sie keinerlei berufliche Aussichten, sämtliche ihrer Lehrer und Mentoren waren bereits emigriert. Schließlich löste ihr Verlobter, der Physiker Hans Bethe, zwei Tage vor der Hochzeit die Verbindung, auf Anraten seiner Mutter, die selbst jüdischer Abstammung war. Diese Entscheidung schockierte die Kollegen des Paares, insbesondere die ebenfalls jüdischen Niels Bohr und James Franck, die lebenslang persönliche Vorbehalte gegen den späteren Nobelpreisträger hegten. (In Bethes Wikipedia-Eintrag ist im übrigen weder von seiner privaten Verbindung zu Hilde Levi noch von dieser Entscheidung gegen ihre Ehe die Rede, die immerhin dazu führte, dass Bethe bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nie an das Niels-Bohr-Institut eingeladen wurde, obwohl er ein führender Physiker der Zeit war.)

Die International Federation of University Women und Niels Bohr selbst vermittelten Levi eine Assistenzstelle bei James Franck, der selbst erst vor kurzem nach Kopenhagen emigriert war; er kannte zwar Levi bis dahin nicht persönlich, aber ihre Doktorarbeit über Spektren der Alkalihalogen-Dämpfe, deren wissenschaftlichen Wert er hoch einschätzt. Ihre Promotionsurkunde musste ihr Bruder ihr Monate nach ihrer Ausreise für sie in Empfang nehmen. Levi arbeitete für Franck, bis dieser 1935 Kopenhagen verließ, danach arbeitete sie als Assistentin des ebenfalls aus Deutschland emigrierten ungarischen Chemikers George de Hevesy. Die Entdeckung der Aktivierung, also induzierter Radioaktivität, durch das Ehepaar Joliot-Curie 1935 inspirierte de Hevesy und Levi zur Bestrahlung seltener Erden. Ihre Entdeckungen bei dieser Arbeit führten zur Entwicklung der Neutronenaktivierungsanalyse, mit der zum Beispiel 1961 ermittlet wurde, dass Napoléon zumindest an Arsenvergiftung litt, wenn nicht sogar daran starb.

1938 wurde Levi in Deutschland der Doktortitel aberkannt, ohne Angabe von Gründen, im gleichen Jahr musste sie ihren deutschen Pass in der Botschaft in Kopenhagen abgeben. Sie konnte mit de Hevesy bis 1940 weiter am Niels-Bohr-Institut arbeiten; nach der Besetzung Dänemarks durch die deutsche Wehrmacht wechselte sie zunächst innerhalb Kopenhagens an das Carlsberg-Institut. 1943 begannen die deutschen Besatzer jedoch auch in Dänemark, Juden zu deportieren, und Levi floh mit vielen anderen nach Schweden. Dort konnte sie bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges an einem Institut für experimentelle Biologie arbeiten.

Nach Kriegsende kehrte Levi nach Kopenhagen zurück und begann, unter August Krogh am Zoophysiologischen Institut der Universität Kopenhagen an radiobiochemischen Forschungen zu arbeiten. Bei einem Aufenthalt in den USA lernte sie die Radiokarbonmethode zur Altersbestimmung von Stoffen kennen, die Willard Libby 1946 entwickelt hatte. Sie entwickelte darauf aufbauend am Dänischen Nationalmuseum die erste Messeinrichtung für C14-Datierung, mit der kurz darauf das Alter des Grauballe-Mann ermittelt werden konnte. (Auch in diesem Wikipedia-Beitrag ist nicht die Rede von Levi, sondern Libby selbst wird als derjenige genannt, der die Untersuchung durchgeführt habe. Siehe Matilda-Effekt.)

Levi beriet die dänische Gesundheitbehörde zum Thema Strahlenschutz und lehrte 19 Jahre lang an der Universität Kopenhagen. Nach ihrer Pensionierung 1979 war sie am Aufbau des Niels-Bohr-Archivs beteiligt und arbeitete den wissenschaftlichen und persönlichen Nachlass de Hevesys auf. 2001 nahm sie an einem Treffen an der Humboldt-Universität teil, zu dem die Wissenschaftler geladen worden waren, die nach 1933 entlassen worden waren und Deutschland nachfolgend verlassen mussten. Sie starb 2003 im Alter von 94 Jahren in Kopenhagen.

Das Jewish Women’s Archive führt eine Biografie von ihr, das Niels-Bohr-Archiv ebenfalls. Auf der Seite des American Institute of Physics findet sich das Transkript eines Interviews mit ihr von 1971.

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