Kategorie: Film

51/2023: Gila Goldstein, 18. Dezember 1947

Grabstein von Gila Goldstein, by Danny-w – Own work, CC BY-SA 3.0

Gila Goldstein kam in Turin, Italien, auf die Welt, immigrierte in früher Kindheit mit ihrer Familie nach Israel und wuchs in Haifa auf. Mit 13 Jahren verstand sie, dass sie trans* war, und begann in ihrer weiblichen Identität unter dem Namen Gila zu leben. Sie musste survival sex praktizieren – sexuelle Handlungen gegen Unterkunft, Verpflegung und Sicherheit –, überlebte auf diese Weise jedoch, bis sie 1965, mit 18 Jahren, eine geschlechtsangleichende Operation in Belgien vornehmen lassen konnte – sie war damit die erste israelische trans* Frau, die diese Operation hatte durchführen lassen, doch bereits die zweite israelische Frau, die offen trans* lebte, nach Rina Natan (Link Englisch).

Goldstein blieb in Europa und trat als (Strip-Tease-)Tänzerin auf. Erst Mitte der 1970er Jahre kehrte sie nach Israel zurück, wo sie ebenfalls als Tänzerin arbeitete, unter anderem in der Bar 51. Amos Guttman, ein schwuler israelischer Regisseur, basierte die Figur der Stripperin Apolonia Goldstein in seinem Film ‚Bar 51‚ auf Gila.

1975 war Goldstein an der Gründung der Agudah – damals noch unter dem Namen ‚Gesellschaft für den Schutz persönlicher Rechte‘ – der nationalen Organisation der LGBTQIA+Community Israels. Für ihre Arbeit im Kampf für die Rechte queerer Menschen sollte sie 2003 einen Preis gewinnen.

In den 1990er Jahren begann Goldstein ihre Karriere als Sängerin, so war sie im Club Allenby 58 fest engagiert und nahm auch einige Platten auf; zum Jahrtausendwechsel fing sie auch mit der Schauspielerei an und gewann 2005 für ihre Rolle in ‚Yeladim Tovim (Good Boys)‚ eine Auszeichnung als beste Nebendarstellerin beim Miami LGBT Film Festival. Fünf Jahre später erschien ein Dokumentarfilm über sie selbst: ‚That’s Gila, that’s me‚.

The Gila Project‚, eine israelische Organisation zur Unterstützung von trans* Jugendlichen, die 2011 gegründet wurde, ist nach ihr benannt; 2015 führte Goldstein die Tel Aviv Pride Parade an. Zwei Jahre später verstarb sie 70-jährig nach einem Schlaganfall, die Meldungen zu ihrem Tod bezeichneten sie teilweise mit dem männlichen Namen ‚Ilan Ronen‘ – nicht ihr deadname, sondern ein erfundener Name, den Gila sich für bürokratische Probleme ausgedacht und in den Ausweis eingetragen hatte. Ihre Familie stellte jedoch sicher, dass ihr richtiger Name – Gila Goldstein – auf ihrem Grabstein stand.

Am 4. Juni dieses Jahre widmete Google ihr ein Doodle für Zugriffe aus Israel, um an ihren bahnbrechenden Aktivismus für die LGBTQIA+Community in Israel zu erinnern.


Quelle Biografie: Wiki englisch

Eren

Filmposter: EREN in Großbuchstaben über einem Portrait von Eren Keskin, im Pop-Art-Stil entfremdet, mit gelbem Lidschatten, grünen Ohrringen und roten Lippen, die aus dem ansonsten sepiafarbenen Bild herausstechen. Eren Keskin trägt ein schwarze Neckholder-Oberteil.
D 2023, Regie: Maria Binder, mit Eren Keskin, Fatma Sevgi Keskin, Leman Yurtsever

Bei der Recherche für die Kurzrezension in der Stadt Revue musste ich nachschlagen, als was ich die Türkei treffend und korrekt bezeichnen kann. Wikipedia sagt: „In den Politikwissenschaften wurde das politische System der Türkei oft auch als „defekte Demokratie“ und als „hybrides Regime“ summiert.“ Das heißt, die Türkei hat alle Bausteine einer Demokratie, funktioniert jedoch nicht in der Tat als solche. Menschen werden für ihre Meinungsäußerungen etwa zur Frage der Kurden und zum Völkermord an den Armeniern verhaftet und in den Gefängnissen gefoltert, Frauen in Haft vergewaltigt.

Maria Binder, die Regisseurin, erzählt in den ersten wenigen Minuten zu Bildern aus der damaligen Zeit, wie sie Eren Keskin vor zwanzig Jahren kennenlernte, als ‚Anwältin einer Freundin, die von türkischen Soldaten ermordet wurde‘. Sie beschreibt Keskin als eine, die ’nach dem unsichtbar Gemachten [gräbt], nach dem, was verschwiegen, verfälscht, vernichtet wird‘. Der ganze Rest des Filmes zeigt Keskin heute in ihrem Alltag als Anwältin, als Menschrechtsaktivistin, als Freundin und Tochter, gänzlich ohne weiteren Kommentar. Eren Keskin ist Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD und wurde für ihren Einsatz für die kurdische und armenische Bevölkerung selbst inhaftiert und in der Haft gefoltert. Als Anwältin setzt sie sich insbesondere für Frauen und queere Menschen ein, die von Sicherheitsbehörden gefoltert wurden. Die kurzen Einblicke in ihre Fälle, die der Film bietet, genügen, um die Notwendigkeit ihrer Arbeit zu erkennen.

Eren Keskin (rechts) mit ihrer Mutter (links) im Gespräch

Allein aus der Intimität der Bilder – wie weit Binder Keskin auch in ihren privaten Momenten begleiten darf – wird klar, wie nah sich die Frauen stehen. Doch unangemessene Lobhudelei bleibt aus, dafür ist Keskins Leben zu intensiv, zu spannungsreich und zu gefährlich. Der türkische Staat hat Anklagen gegen sie im zweistelligen Bereich, besonders für die ‚Beleidigung des Türkentums‚, für die sie bei Verurteilung viele Jahre in Haft gehen müsste. Dennoch spricht sie furchtlos und ohne Rückhalt ihre Kritik am Staat aus. In anderen Szenen sehen wir sie weich und liebevoll mit ihrer Mutter reden, über ihre Familie und die verschwiegene Tatsache, dass sie Kurden sind, über Politik und Frauenrechte. Sie weint über den Tod ihres Kollegen und Freundes Tahir Elçi und erzählt von der Gewalt – durch ‚Unbekannte‘ oder den Staat – die sie seit Jahren begleitet. Mit ihrer Kollegin und Freundin Leman besucht sie ehemalige armenische Dörfer und bespricht, wie die Kanzlei weiterarbeiten kann, wenn sie tatsächlich verhaftet würde und ins Gefängnis müsste.

EREN ist kein Film, der die Fakten – die er liefert – in den Vordergrund stellt, sondern das Gefühl. Wie es ist, als Frau, als Kurdin, als politisch aktive Person in der Türkei zu leben. Der Satz, der mir angesichts Eren Keskins Familien- und Lebensgeschichte durch den Kopf ging, war: Das Private ist politisch. Eren Keskins Leben ist durch die Politik der Türkei geprägt, und ihr ganzes Leben ist dem politischen Kampf für mehr Gerechtigkeit und Demokratie gewidmet.


2019 habe ich übrigens auch einen kurzen Beitrag über Eren Keskin geschrieben.


39/2023: Lilli Vincenz, 26. September 1937

Lilli Vincenz kam in Hamburg zur Welt, ihr Vater starb zwei Jahre später. Als sie zwölf war, heiratete ihre Mutter einen US-Amerikaner und emigrierte mit ihm in die USA.

Mit 22 Jahren machte sie ihren Bachelor in Französisch und Deutsch, ein Jahr später den Master in Englisch an der Columbia University. Danach schrieb sie sich im Women’s Army Corps ein, der damaligen Frauenabteilung der United States Army (inzwischen in den Corps integriert) und arbeitete am Walter-Reed Militärkrankenhaus. Sie wurde jedoch für ihre Homosexualität denunziert und nach nur neun Monaten Dienst entlassen.(1,2)

1963 wurde sie das erste weibliche, lesbische Mitglied der Mattachine Society. Sie war die einzige offen lebende lesbische Frau, die an der zweiten Demonstration der Homosexuellen-Bewegung vor dem Weißen Haus 1965 teilnahm, als eine von zehn Demonstrant*innen. Diese picket lines wiederholte die Mattachine Society bis 1969 jährlich am 4. Juli vor der Independence Hall und der Liberty Bell in Philadelphia – diese öffentlichen Auftritte gelten als der Beginn der modernen LGBTQIA+-Bewegung. Die Annual Reminders (Link Englisch) endeten nach den Stonewall riots oder wurden vielmehr im Folgejahr durch die Demonstrationen in deren Gedenken, später Pride Parade oder Christopher Street Day, ersetzt. Vincenz erschien 1966 mit ihrem Namen auf dem Titelbild des lesbischen Magazins The Ladder und war damit die erste Frau, die sich so outete; sie arbeitete auch als Redakteurin des Rundbriefs der Society. 1969 gründete sie gemeinsam mit Nancy Tucker eine unabhängige Zeitschrift der Homosexuellen-Bewegung, die Gay Blade, die noch immer als Washington Blade erscheint.

In den 1970ern trat Lilli Vincenz immer wieder als politisch aktive, lesbische Frau öffentlich in Erscheinung; so sprach 1970 sie gemeinsam mit Barbara Gittings über die Forderungen der Homosexuellen-Bewegung in der Phil Donahue Show, 1971 diskutierte sie Stereotype und Vorurteile gegenüber Lesben mit sechs anderen Frauen, darunter wiederum Barbara Gittings, in der David Susskind Show. Sie unterstützte Frank Kamenys Kampagne, als dieser 1971 als erster offen schwuler Mann für den District of Columbia für den Kongress der Vereinigten Staaten kandidierte und engagierte sich mit ihm im Folgejahr in der Spendensammlung für die Kampagne Gay Citizens for McGovern.

Ebenfalls in den gesamten 1970ern führte Lilli Vincenz bei sich zuhause ein Open House für lesbische Frauen, womit sie einen sicheren Raum bot, in dem sich die Frauen austauschen, vernetzen und unterstützen konnten. Aus dieser Institution wurde die Gay Women’s Alternative (Link Englisch), die als kulturelle und soziale Einrichtung noch bis 1993 Bestand hatte.

1990, mit 63 Jahren, machte sie noch ihren Doktortitel in Human Development (vermutlich: Bildungsforschung?). Sie starb erst in diesem Jahr am 27. Juli mit 86 Jahren.

Neben all diesen Errungenschaften als Aktivistin der Lesbenbewegung war sie auch, laut Kay Tobin-Lahusen, die erste lesbische Videofilmerin(2). Wir verdanken ihr die Eindrücke, die heute noch in der Library of Congress von den Annual Reminders und der ersten Pride Parade, ein Jahr nach Stonewall, erzählen.

The Second Largest Minority (1968, Englisch) – Dokumentation des vorletzten Annual Reminders
Gay and Proud (1970, Englisch) – Dokumentation der ersten Gay Pride Parade

Quelle Biografie: Wiki englisch
außerdem:
(1) LGBT History Month
(2) Them

30/2023: Alexis Arquette, 28. Juli 1969

Der Weg in die Filmindustrie war für Alexis Arquette beinahe vorgezeichnet: Schon ihr Großvater, Cliff Arquette, war unter dem Namen Charley Weaver in den 1950er Jahren ein erfolgreicher TV-Komiker in den USA; ihre Eltern waren ebenfalls Schauspieler repsektive Schauspielerin und Schauspiellehrerin. Ihre zwei älteren Schwestern Rosanna und Patricia Arquette sowie der ältere Bruder Richmond und der jüngere Bruder David waren und sind alle Schauspieler*innen.

Mit 12 Jahren spielte Alexis zum ersten Mal vor der Kamera in dem Musikvideo zu ‚She’s a beauty‚ der Band The Tubes, mit 16 spielte sie bereits (uncredited) in der erfolgreichen Komödie Down and Out in Beverly Hills (Zoff in Beverly Hills) mit. Etwa in dieser Zeit, in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, trat sie zunächst als ‚female impersonator‚ unter dem Namen Eva Destruction auf; als diese spielte sie auch Statistenrollen in Pornos. Mit der Rolle der Georgette in der deutsch-US-amerikanischen Koproduktion Last Exit to Brooklyn) Letzte Ausfahrt Brooklyn hatte sie ihre erste große Rolle, es folgten kontinuierlich kleinere und größere Rollen in Hollywood- und TV-Produktionen, darunter etwa Adam Sandlers The Wedding Singer (Eine Hochzeit zum Verlieben) als George, ein Boy-George-Lookalike.

Im Jahr 2004 machte Alexis öffentlich, dass sie transgender war und sich in Transition befand; eine Dokumentation mit dem Titel Alexis Arquette: She’s my brother lief 2007 auf dem Tribeca Film Festival. In der Reality-Show The Surreal Life, in der Arquette 2006 mit anderen Prominenten in einer Show-WG zusammenlebte, äußerte sie sich jedoch dazu, dass sie weder als Mann noch als Frau, sondern als ‚a transgendered‚ bezeichnet werden wollte. Ihr Bruder David nannte sie ‚gender suspicious‚, nachdem sie 2013 wieder als Mann lebte, beziehungsweise zwischen binären Geschlechtern wechselte.

Mit 47 Jahren starb Alexis Arquette 2016 an Herzversagen, eine Folge einer AIDS-Erkrankung, nachdem sie sich bereits 1987, mit 17 Jahren, mit HIV infiziert hatte. Ihre letzte Rolle in einem Film(1) war die Wiederaufnahme der Figur George – aus The Wedding Singer – in Adam Sandlers Komödie Blended (Urlaubsreif) 2014.

Musikvideo zu ‚She’s a beauty‘ von The Tubes
Alexis Arquette als Georgette in Last Exit to Brooklyn (Letzte Ausfahrt Brooklyn) (1989)
Interview von 1993
Alexis Arquette als Boy-George-Lookalike ‚George‘ in Adam Sandlers The Wedding Singer (Eine Hochzeit zum Verlieben) (1998)
Alexis Arquette als ‚George‘ in Blended (Urlaubsreif) 16 Jahre später (2014)
Alexis Arquette bei Larry King zum Thema Transition und Rechte für transgender Personen

Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) Looper

29/2023: Annie Sprinkle, 23. Juli 1954

Wie so viele, und doch mehr als andere, ist Annie Sprinkles Biografie zwar interessant, doch viel spannender, auch komplexer und wichtiger ist mir das, was sie (in meinem Jahr der intersektionalen Aktivistys) repräsentiert. Sie ist die einzige Vertreterin in meinem Jahresplan – soweit ich das bis jetzt absehen kann – des Aktivismus für sexworkers, also meine einzige ‚Chance‘, in diesem Rahmen darüber zu sprechen und meine Position dazu festzuhalten (in Kürze: Betroffenen zuhören und im Diskurs Priorität einräumen, sexwork is work).

Wie kann ich mir aber dem Ausmaß und der Komplexität des Themas anders annähern als häppchenweise, vor dem Hintergrund meiner persönlichen beruflichen und familiären Lage (die Sommerferien stehen zum Zeitpunkt, zu dem ich dies schreibe, ins Haus und was an Lohnarbeit da ist, muss um den Urlaub herum erledigt werden). Kleiner Hinweis noch mal darauf, dass ich dieses Blog seit nunmehr elf Jahren alleine zum ‚Privatvergnügen‘ betreibe und doch vor dem Tribunal der Öffentlichkeit bestehen können möchte.


CN: Pornografie, Sexarbeit

Geboren wurde Annie Sprinkle in Philadelphia, Pennsylvania, als Ellen F. Steinberg, als Tochter eines russisch-polnisch-jüdischen Elternpaares. Als sie fünf Jahre alt war, zog die Familie nach Los Angeles, Kalifornien, und zwischen ihrem 13. und 17. Lebensjahr lebten sie in Panama. Als Ellen/Annie 18 war, arbeitete sie in Tucson, Arizona, als Kartenverkäuferin in einem Kino. Es war 1972 und der Film Deep Throat lief über die US-amerikanischen Leinwände. Der Film selbst wäre einen ausführlichen Text wert – auf der einen Seite gilt er als der Startschuss für den porno chic der 1970er Jahre, als erstes Beispiel für narrative Pornografie – und nebenbei als profitabelster Film aller Zeiten. Auf der anderen Seite steht er in der Kritik, dass Hauptdarstellerin Linda Lovelace die gezeigten sexuellen Handlungen nicht aus freien Stücken vollzog, sondern von ihrem Ehemann mit Gewalt bedroht und gezwungen wurde – und nebenbei die Produktion von der Mafia finanziert wurde, sein Erfolg auf dem mafioösen Netzwerk in den USA aufbaute und ein Großteil seiner Einnahmen auch zurück in die Taschen der Mafia floss.

Wie dem auch sei, ‚Deep Throat‚ lief in dem Kino, in dem Steinberg/Sprinkle als Kartenverkäuferin arbeitete, und wurde dort von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt. Sie wurde als Zeugin beim Prozess gegen den Regisseur Gerard Damiano geladen und verliebte sich während des Prozesses in ihn. Nach dem Prozess ging sie als seine Geliebte mit ihm nach New York und begann kurz darauf selbst als Pornodarstellerin zu arbeiten. Annie Sprinkle war zunächst ein Pseudonym – eine ‚Eingebung der Göttin‘, wie sie es nennt – heute ist es ihr eingetragener Name. Bis zur Mitte der 1970er Jahre spielte sie in über hundert Pornofilmen mit und war auch als Prostituierte tätig. Ihre Arbeit als Sexarbeiterin veränderte sich 1978 grundlegend, als sie den Fluxus-Künstler Willem de Ridder (Link Englisch) kennenlernte(1); er forderte sie auf, alles, was sie tat, als Kunst aufzufassen. Diesen Wandel der eigenen Auffassung vom Objekt (der Begierde und der Blicke des Zuschauers) zum Subjekt (der sexuellen und künstlerischen Handlungen) wird der Beginn des ‚post-porn movements‚ betrachtet.*

Sie lebte einige Zeit mit de Ridder in Italien. Als sie in die USA zurückkehrte, begann sie, als Burlesque-Künstlerin zu arbeiten(2), dabei nahmen ihre Auftritte bald Züge der Performancekunst an, indem sie Anekdoten erzählte und mit dem (meist männlichen, oft masturbierenden) Publikum interagierte.(2) Sie begann auch, die Rollen hinter der Kamera von Porno-Produktionen einzunehmen, dabei entwickelte sie einen satirischen, selbstreflexiven Stil, mit dem ihre Werke großen Erfolg hatte. Der selbst-betitelte ‚Deep Inside Annie Sprinkle‚ etwa, den sie gemeinsam mit Joseph W. Sarno drehte, spielte das zweitbeste Ergebnis des Porno-Genres im Jahr 1981 ein. Aus der Idee zu diesem Film – und einer Gruppierung namens ‚Club 90‚, in der sich Pornodarstellerinnen regelmäßig zum Austausch trafen – entstand 1984 das Bühnenstück ‚Deep Inside Porn Stars‚. Darin kommen Sprinkle und andere Pornodarstellerinnen in einem Nachbau von Sprinkles Wohnzimmer zusammen und unterhalten sich; dabei werden Bilder aus ihrem Leben erzählt. Jede auftretende Frau wechselte zuerst aus ihrem ‚Darstellerinnen‘-Outfit in ihre ’normale‘ Kleidung, Sprinkle bietet jeder Tee und Kekse an, und das Baby einer der Darstellerinnen ist auf der Bühne anwesend. Die Grenzen zwischen der Porno-Persona und der realen Person dahinter verschwimmen, wodurch sich notgedrungen auch die Dichotomie vom ‚guten‘, ‚anständigen‘ Mädchen und dem ’schlechten‘, ‚gefallenen‘ Mädchen auflöst. Sprinkles eigenes Stück ‚Post Porn Modernist‚ war eine Weiterentwicklung dieser Performance, vor allem aber brachte es ihr eine Einladung des Theaterregisseurs Richard Schechner zu seinem ‚Prometheus Project‚ ein und damit die Anerkennung als Theater- und Performancekünstlerin außerhalb des Porno-Genres.(2, hier auch Einzelheiten zu Sprinkles Beitrag zum Projekt)

Von da an vereinte Sprinkle ihre pornografische Arbeit mit künstlerischem, aufklärerischem und ausdrücklich feministischem Ausdruck; dazu gehörte auch ihr Auftritt in Monika Treuts Film ‚My Father Is Coming‚ 1991. Im gleichen Jahr rief sie den ‚Sluts and Goddesses Workshop‚ ins Leben, auf dem aufbauend sie im Folgejahr das Video ‚The Sluts and Goddesses Video Workshop – Or How To Be A Sex Goddess in 101 Easy Steps‚ produzierte, das Frauen neue Möglichkeiten zur Erschließung der eigenen Sexualität und Erregung aufzeigen sollte. Sie erlangte (irgendwann im Laufe der Zeit) einen Doktorgrad in Sexualwissenschaft am Institute for Advances Study of Human Sexuality (Link Englisch), und brachte mehrere Performance-Stücke auf die Bühne, etwa ihr ‚Public Cervix Announcement‚ von 1997, bei dem sie die Zuschauer ihren Muttermund durch ein Spekulum betrachten ließ.

Sprinkle bezeichnet sich selbst als ‚die Prostituierte und Pornodarstellerin, die zur Sexualpädagogin und Künstlerin wurde‘. Ihre Stücke werden akademisch bearbeitet; sie hat diverse Medien produziert und Workshops geschaffen, die Frauen helfen sollen, ihre Sexualität zu entdecken und frei zu erleben. Gemeinsam mit dem Sexualtherapeuten Joseph Kramer hat sie eine tantrische Massagetechnik für die Yoni (die Vulva, Vagina und der Uterus) entwickelt. Als Pornoproduzentin hat sie viele heutige Porno-Genres entwickelt oder ins Leben gerufen, als Künstlerin war sie 2014 auf der documenta 14 vertreten. Seit 2007 ist sie mit ihrer künstlerischen Kollaborateurin, Elizabeth Stephens, verheiratet; die beiden bezeichnen sich als ‚ökosexuell‘ und haben als künstlerische Performance verschiedene Naturerscheinungen geheiratet. Ihre sexualpädagogische Arbeit greift dabei ineinander mit einem umweltpädagogischen Ansatz; die sexuelle Aufklärung ist mit klimapolitischer Aufklärung vereint.


Das ‚post-porn movement‚ betrachtet die großangelegte Porno-Filmindustrie kritisch und bevorzugt individuelle, alternative Pornoschaffende. Diversität und die Darstellung queerer Lebens-(und Sexualitäts-)realitäten werden wertgeschätzt.


Annie Sprinkle – das benötigt eigentlich keinen Hinweis – ist sex-positive Feministin. Der sex-positive Feminismus betrachtet die freie weibliche Sexualität als Bestandteil der Befreiung der Frau – im Gegensatz zu einer Betrachtungsweise, die Sexualität als Frau grundsätzlich als eine Form der männlichen Unterdrückung postuliert. Dazu gehört notwendigerweise und unter allen Umständen jede Form von Pornografie. Annie Sprinkle unter anderem vertritt die Position, dass feministische Pornografie nicht nur möglich, sondern nötig ist und dass das Entdecken und Ausleben der weiblichen Sexualtität ein Akt des feministischen Widerstands gegen die prohibitive Körperpolitik des Patriarchats ist.

Im Essay Feminism, Moralism and Pornography, eines der frühesten Dokumente gegen eine US-amerikanische Anti-Porn-Bewegung, erläutert Ellen Willis die Haltung des sex-positiven Feminismus. Ich zitiere hier nur die für mich besonders markanten Stellen:

• ‚If feminists define pornography, per se, as the enemy, the result will be to make a lot of women ashamed of their sexual feelings and afraid to be honest about them. And the last thing women need is
more sexual shame, guilt, and hypocrisy – this time served up as feminism.

– Wenn Feminist*innen Pornografie per se als den Feind definieren, wird das Ergebnis sein, dass sie viele Frauen dazu bringen, sich für ihre sexuellen Gefühle zu schämen und Angst zu haben, ehrlich damit umzugehen. Und das Letzte, was Frauen brauchen, ist noch mehr sexuelle Scham, Schuld oder Scheinheiligkeit – dieses Mal als Feminismus serviert.

• ‚In practice, attempts to sort out good erotica from bad porn inevitably come down to „What turns me on is erotic; what turns you on is pornographic.“
– In der Praxis werden Versuche, gute Erotica von schlechter Pornografie zu unterscheiden, unausweichlich damit enden: ‚Was mich anmacht, ist erotisch, was dich anmacht, ist pornografisch.‘

•‘It is precisely sex as an aggressive, unladylike activity, an expression of violent and unpretty emotion, an exercise of erotic power, and a specifically genital experience that has been taboo for women. Nor are we supposed to admit that we, too, have sadistic impulses, that our sexual fantasies may reflect forbidden urges to turn the tables and get revenge on men.
– Es ist genau Sex als eine aggressive, undamenhafte Aktivität, ein Ausdruck von gewaltvoller und unschöner Gefühle, eine Ausübung erotischer Macht und eine ausdrücklich genitale Erfahrung, die für Frauen tabu war. Noch sollen wir zugeben, dass auch wir sadistische Impulse haben, dass unsere sexuellen Fantasien möglicherweise verbotene Bedürfnisse spiegeln, den Spieß umzudrehen und Rache an den Männern zu nehmen.

• ‚In any case, sanitized feminine sexuality, whether straight or gay, is as limited as the predatory masculine kind and as central to women’s oppression; a major function of misogynist pornography is to scare us into embracing it.
– In jedem Fall ist die bereinigte weibliche Sexualität, ob hetero- oder homosexuell, ebenso eingeschränkt wie die ausbeuterische männliche, und ebenso zentral in der Unterdrückung der Frauen; eine Hauptfunktion von misgyner Pornografie ist es, uns durch Angst dazu zu bringen, sie anzunehmen.

• ‚The basic purpose of obscenity laws is and always has been to reinforce cultural taboos on sexuality and suppress feminism, homosexuality, and other forms of sexual dissidence. No pornographer has ever been punished for being a woman-hater, but not too long ago information about female sexuality, contraception, and abortion was assumed to be obscene. In a male supremacist society the only obscenity law that will not be used against women is no law at all.
– Das schlichte Ziel von Gesetzen gegen ‚Unzucht‘ ist und war es schon immer, kulturelle Tabus zur Sexualität zu bekräftigen und Feminismus, Homosexualität und andere Formen der sexuellen Gegenbewegung zu unterdrücken. Kein Pornograf ist jemals dafür bestraft worden, ein Frauenhasser zu sein, aber vor noch nicht allzu langer Zeit wurden Informationen zu weiblicher Sexualität, Verhütung und ABtreibung als ‚unzüchtig‘ angesehen. In einer männlich beherrschten Gesellschaft ist das einzige Unzuchts-Gesetz, das nicht gegen Frauen angewendet wird, *kein Gesetz*.

• ‚In contrast to the abortion-rights movement, which is struggling against a tidal wave of energy from the other direction, the anti-porn campaign is respectable. It gets approving press and cooperation from the New York City government, which has its own stake (promoting tourism, making certain neighborhoods safe for gentrification) in cleaning up Times Square. It has begun to attract women whose perspective on other matters is in no way feminist („‚I’m anti-abortion,'“ a participant in WAP’s march on Times Square told a reporter, „‚but this is something I can get into'“). Despite the insistence of WAP organizers that they support sexual freedom, their line appeals to the anti-sexual emotions that feed the backlash.
– Im Kontrast zur Bewegung für das Recht auf Abtreibung, die gegen eine Flutwelle der Energie aus der Gegenrichtung zu kämpfen hat, ist die Anti-Porn-Kampagne wohlanständig. Sie erhält zustimmende Presse und Mitarbeit der Regierung der Stadt New York, die ihre eigenen Interessen (vermehrter Tourismus, gewisse Bezirke für die Gentrifizierung sicher zu machen) daran hat, den Time Square zu säubern. Sie hat angefangen, Frauen anzuziehen, deren Perspektive in anderen Belangen in keiner Weise feministisch ist (‚Ich bin gegen Abtreibung‘, erzählte eine Teilnehmerin des WAP-Marsches auf dem Time Square einem Journalisten, ‚aber diese Bewegung ist eine, bei der ich mich wiederfinde.‘). Entgegen dem Beharren der WAP (Women Against Pornography) Organisatorinnen, dass sie sexuelle Freiheit unterstützen, klingt ihre politische Linie an bei den anti-sexuellen Gefühlen, die die Gegenreaktion verstärken.

Ich erinnere mich an den Nachhall der deutsche PorNO-Kampagne, die wohl in einer Linie steht mit dem heutigen Dogmatismus, den Alice Schwarzer für Feminismus hält; meines eigenen geringen Interesses am Porno-Konsum ungeachtet halte ich die freie, selbstbestimmte Ausübung von (selbstverständlich konsensueller) Sexualität auch als Arbeit für einen notwendigen Bestandteil der Geschlechtergerechtigkeit.


Quellen Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem entsprechend markierte Stelle:
(1) University of Oregon Art History Student Association
(2) The Whore in All of Us: Transgressive Female Sexuality in the Works of Lydia Thompson and the British Blondes, Mae West, and Annie Sprinkle

Tanja – Tagebuch einer Guerillera

DE 2023, Regie: Marcel Mettelsiefen, mit Tanja Nijmeijer, Janneke Stuulen, Jineth Bedoya, Jorge Enrique Botero u.a.

Wie kommt eine junge Frau aus dem niederländischen Bürgertum, Lehrerin von Beruf, in die Ränge der FARC – der kolumbianischen Guerilla – im kolumbianischen Dschungel? Und nein, sie wurde nicht entführt.

Tanja Nijmeijer selbst schildert ihren Weg mit einer Selbstverständlichkeit, der wir uns kaum entziehen können: Sie ging nach Kolumbien, um dort Kindern aus den Armenvierteln Englisch beizubringen. Sie erfuhr vom Kampf der ehemaligen Bauernbewegung FARC, die zu einer Guerilla-Armee geworden war, um sich kriegerisch gegen die korrupte und ausbeuterische Regierung zu wehren. Und weil sie die Position der FARC für richtig hielt und den Wunsch hatte, in der Welt etwas zum Kampf für das Gute beizutragen, schloss sie sich ihnen an, als Übersetzerin, Kämpferin und später als Delegierte für die Friedensverhandlungen. Es klingt so einfach und ist doch ein so schwer nachvollziehbarer Sprung in eine völlig andere, handgreiflich politische Welt als unser die unseres europäischen Verhandlungsdiskurses.

Der Dokumentarfilm von Marcel Mettelsiefen nähert sich seiner Protagonistin zunächst aus der Sicht der kolumbianschen Presse, lässt Nijmeijer, ihre beste Freundin und ihre Mutter zu Wort kommen und stellt sowohl die politische Situation in Kolumbien, wie auch deren Akteure und die Individuen darin, einschließlich Nijmeijer, als vielschichtig und ambivalent dar. Dass sowohl die Regierung Kolumbiens wie die FARC schreckliche Verbrechen begangen hat, dass beide Seiten sich auf unlautere Koalitionen mit anderen Regierungen und Drogenhändlern einließen, ist ebenso wahr, wie dass Nijmeijer als Mitglied der FARC als Terroristin betrachtet werden kann, dass sie für ein politisches Ideal zum Kampf bereit war und dass die Veröffentlichung ihrer Tagebücher – eigentlich ein unerhörter Eingriff in ihre Privatsphäre – sie in Gefahr brachten.

Als Betrachterin blieb ich ebenso ambivalent zurück: Sympathisch fand ich sie, bewundernswert für diese Entschlusskraft; vielleicht naiv, verblendet für die Vorstellung, sie könnte sich einer solchen Armee anschließen und nicht als Beteiligte an deren Taten betrachtet werden. Ihren Wunsch, aus der kleingeistigen, friedlichen und ereignislosen Welt der niederländischen Kleinstadt auszubrechen und mehr zu tun, mehr zu erreichen als mit Worten politische Haltung zu beziehen kann ich nachfühlen. Ihre Schilderung der unreifen, chauvinistischen und auch wieder oft eintönigen Welt des Guerillacamps im Dschungel hat mich amüsiert. Dennoch bleibt ein Unverständnis, denn da ist eben die Radikalität, mit der Nijmeijer ihrem Gewissen folgte, die auf unserer Seite der Welt fehl am Platz wirkt.


All das ist sicher diskutabel, denn ich bin selbst mit diesen Gedanken noch nicht zu Ende – als Anstoß für Gedanken über Ideale, welche Mittel der Zweck heiligt, welche Verantwortung Individuen für die Handlungen eines Kollektivs tragen, ob in unserer Politik, in unserem Leben die Radikalität fehlt, dafür ist der Film sicherlich hervorragend.


22/2023: Nancy Cárdenas, 29. Mai 1934

Zur Welt kam Nancy Cárdenas in Parras de la Fuente, einem kleinen Ort im mexikanischen Bundesstaat Coahuila. Sie studierte zunächst Philosophie und Literatur an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko, nebenher begann sie mit 20 Jahren als Radiosprecherin zu arbeiten; in diesen Fächern machte sie schließlich ihren Doktortitel. Sie studierte auch Theaterschauspiel in Yale und polnische Kultur und Literatur in Łódź. Während ihrer internationalen Studienzeit begegnete sie Menschen, mit denen sie sich über Queerness austauschte; diese Erfahrungen und Einsichten flossen auch in ihre späteren Werke ein.(2)

In den 1950ern arbeitete sie als Theaterschauspielerin, so war sie 1956 am Lyrik-Programm ‚Poesía en Voz Alta‚ (etwa ‚Poesie mit lauter Stimme‘) von Héctor Mendoza beteiligt. In der folgenden Dekade verlegte sich Cárdenas auf das Schreiben: Sie verfasste Theaterstücke und schrieb für Magazine und Zeitungen; ihr erstes Stück war der EinakterEl cantaro seco‚ (etwa ‚Der leere/trockene Krug‘). Bereits in dieser Zeit war sie politisch aktiv und trat für kommunistische und feministische Ziele ein, beides keine sehr beliebten Haltungen in der mexikanischen Gesellschaft; 1968 wurde sie bei Protesten gegen Polizeigewalt verhaftet. Auch in ihren Texte bezog sie politisch Position, etwa in dem Stück ‚SIDA… así es la vida‚ (etwa ‚AIDS… so ist das Leben‘) und in ihrer Adaption des Romans ‚Quell der Einsamkeit‚ von Radclyffe Hall. In den 70er Jahren wechselte sie schließlich ins Regiefach, ihre Produktion von ‚The Effect of Gamma Rays on Man-in-the-Moon Marigolds‚ von Paul Zindel gewann einen Kritikerpreis.

Inzwischen war ihre politische Haltung und ihr Einsatz für die Rechte Homosexueller und anderer gesellschaftlich marginalisierter Personen allgemein bekannt. Dennoch war es ein unerhörter Moment, als sie 1973 öffentlich bekannte, lesbisch zu sein. Sie war Gast in der Sendung ‚24 horas‚ (’24 Stunden‘) und sprach mit dem Moderator über die Entlassung eines homosexuellen Angestellten aufgrund seiner sexuellen Orientierung. Im Rahmen dieses Gesprächs erklärte sie ihre eigene Homosexualität und war damit die erste Lesbe, die öffentlich ihr Coming Out hatte. Nach dem Gespräch war sie zwar nicht Opfer direkter Anfeindungen, dennoch spürte sie den nachteiligen Effekt: „Niemensch sprach mich darauf an attackierte mich dafür, alles, was ich erhielt, waren Glückwünsche, aber niemensch gab mir mehr Arbeit.“(3) In dieser Phase der eingeschränkten beruflichen Tätigkeit wurde sie umso mehr gesellschaftlich aktiv: Schon im Jahr nach ihrem Coming Out gründete sie die erste Homosexuellen-Organisation Mexikos, die Frente de Liberacíon Homosexual (Link Englisch, in diesem Beitrag wird das Gründungsjahr allerdings mit 1971 angegeben). In die Aufgabe, einer Menschenrechtsorganisation vorzusitzen, stürzte sie sich mit Leidenschaft, sprach mit vielen Betroffenen und sammelte Erzählungen aus der Gemeinschaft. Als Vorsitzende der Organisation nahm sie 1975 an der ersten Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen in Mexiko-Stadt teil, sie war hier Gastgeberin eines Forums über Lesbianismus – aus der Diskussion der Beteiligten des Forums entstand das Manifesto in Defense of Homosexuals in Mexico, das sie mit Carlos Monsivaís verfasste. Die Teilnahme öffentlich bekennender lesbischer Frauen an der Konferenz wurde von außen heftig kritisiert; gegen das Forum wurde mit Schildern protestiert, allerdings soll Cárdenas mit einer der Protestierenden – die ein Schild trug, das Cárdenas‘ Tötung forderte – gesprochen und erfahren haben, dass diese von der Polizei bezahlt worden war.(3) Nach der Veranstaltung lud sie die internationalen Beteiligten zu sich nach Hause ein; dort konnten Lesben aus aller Welt ins Gespräch kommen mit den Lesben der mexikanischen Bewegung. Zur dieser Gemeinschaft gehörten nach Cárdenas auch ‚lesbians who thought they were women trapped in men’s bodies‚, also trans Frauen, sowie wahrscheinlich auch Frauen, die Frauen liebten, sich aber männlich identifizierten. Entgegen der heute so nicht mehr akzeptablen sprachlichen Ausdrücke fasste der Lesbianismus in Cárdenas Gemeinschaft nicht nur die klassische Interpretation von weiblich gelesenen Personen, die sich sexuell zu ebenso weiblich gelesene Personen hingezogen fühlen.(3, der Quellentext verweist hier ganz richtig darauf, dass zu dieser Zeit die Wahrnehmung von Transidentität und somit auch die Sprache/das Sprechen darüber nicht dem heutigem Kenntnisstand entspricht und deshalb auch nicht an heutigen Idealen gemessen werden kann)

Als eine Ikone der LGBTQ-Gemeinschaft in Mexiko führte Nancy Cárdenas am 2. Oktober 1978 auch die erste Gay Pride Parade Mexikos an, die sich einem Erinnerungsmarsch zum Jahrestag des Massakers von Tlatelolco anschloss. Ihre Aktivität insbesondere als lesbische Frau wurde von den unterschiedlichen politischen Kreisen, die sich nicht unbedingt überschnitten, nicht mit Wohlwollen betrachtet: Im heteronormativen Feminismus wurde Lesbianismus zwar still hingenommen, doch sprechen sollten die Frauen nicht darüber – lesbischer Aktivismus sei anti-feministisch, weil er von ‚echten Problemen‘ ablenke. Ebenso waren ihre Genoss*innen im kommunistischen Kampf der Meinung, lesbischer Aktivismus sei anti-kommunistisch, weil er von ‚echten Problemen‘ ablenke. Andere fanden, die Idee der Queerness – der Homosexualität, der nicht-cis Identität – sei aus den USA importiert und widerspräche den mexikanischen Traditionen. Alles Positionen also, die dem intersektionalen Feminismus auch heute noch entgegenstehen: Dass er von den ‚eigentlichen‘ Problemen ablenke oder in irgendeiner moralischen oder ideologischen Verderbtheit oder Verwahrlosung entspringe.

In den Jahren nach dieser Gründerzeit schrieb Cárdenas weiterhin Theaterstücke und Lyrik, 1979 führte sie Regie bei dem Dokumentarfilm ‚Mexico des mis amores‚. Außerdem hielt sie als Feministin und Sexologin Vorträge, trat im Fernsehen auf und organisierte Konferenzen. Sie starb am 23. März 1994 mit 69 Jahren in Mexiko-Stadt an Brustkrebs.


Quelle Biografie: Wikipedia (Link Englisch)
außerdem:
(1) LGBT History Month
(2) Making Queer History

Farewell Aunt Entity

Mein persönlicher Trauerpost für Tina Turner dreht sich um zwei Erinnerungen an sie. Zum Einen ihre Rolle in Mad Max Beyond Thunderdome, mein – let’s face itzweitliebster Mad Max. Der fantastisch bombastische Titelsong ‚We don’t need another hero‚ aus ihrer Feder adelte erst gestern meinen Nach-Hause-Lauf-Soundtrack. Synchronizität.

Zum Anderen ihren wundervoll energetischen, vor Kraft und Freude sprühenden Auftritt mit Cher. Liebe Liebe Liebe.

Scream to let Sto’Vo’Kor know a great warrior will be arriving.

21/2023: Barbara May Cameron, 22. Mai 1954

CN: In Titeln und Namen von Organisationen wird das alte englische Wort für amerikanische Ureinwohner verwendet, insbesondere jedoch als Selbstbezeichnung. In dieser Form und Funktion schreibe ich es aus.

In ihrem Essay Gee, You Don’t Seem Like An Indian From the Reservation schreibt Barbara May Cameron, dass sie bis zu ihrem fünften Lebensjahr bereits erlebt hatte, wie ein alter Mann von der Polizei tödlich in den Rücken geschossen wurde, und sie stumme Zeugin war, wie eine Gruppe Jugendlicher einen älteren Herrn zusammenschlugen. Cameron kam als Kind einer Hunkpapa Lakota Familie im Standing Rock Reservat in North Dakota zur Welt und wuchs dort bei ihren Großeltern auf. Schon als Kind, erzählte sie später, habe sie von der Stadt San Francisco gelesen und gesagt, eines Tages werde sie auch dort leben und die Welt retten.(2) In der neunten Klasse gewann sie einen Schreibwettbewerb (von Pepsi), der Preis war $1000 und eine Fahrt nach Washington, D.C.(3,4)

Sie besuchte die Highschool im Reservat, im Anschluss studierte sie Fotografie und Film am Institute of American Indian Arts (Link Englisch) in New Mexico, 1973 ging sie mit 19 Jahren nach San Francisco und studierte dort am San Francisco Art Institute. Sie war als Fotografin und Filmemacherin erfolgreich, als Aktivistin für homosexuelle Indigene schrieb sie auch zahlreiche Essays und Artikel.

1975 gründete sie mit Randy Burns (Link Englisch), einem Zuñi, die Gay American Indians, die erste Organisation, die sich für die gesellschaftliche Befreiung und Sichtbarkeit homosexueller Indigener einsetzte. Die Funktion der Organisation war nicht nur, als Homosexuelle of Color einen sicheren Raum zu finden, denn der Rassismus war auch in der hauptsächlich weißen Homosexuellen-Szene massiv – Schwarze und Indigene wurden nicht oder nicht ohne Weiteres in die Clubs gelassen. GAI diente auch als anthropologische Sammelstätte, in der die homosexuellen Indigenen ihr Wissen und ihre Erinnerungen an ihre Stammeskulturen zusammentrugen. Die Terminationspolitik (CN: I*-Wort) der 1950er-Jahre hatte diese so gut wie vernichtet, bei dem Versuch, sämtliche US-amerikanischen Indigenen zu ‚assimilieren‘: An Schule war es bei Strafe verboten, die eigenen Sprachen zu sprechen oder religiöse Rituale durchzuführen, Reservate – schon extrem begrenzte Lebensräume – sollten aufgelöst werden, dabei verloren viele die staatliche Unterstützung und jeden gesellschaftlichen Halt. Die Generation, die dies durchlebte, war schwer traumatisiert. Die Mitglieder von GAI waren zumeist die Kinder dieser Generation und erzählten sich nun gegenseitig, was sie noch von ihren Großeltern erfahren und gelernt hatten; sie sammelten auch die Namen für two spirits in ihren jeweiligen Stammessprachen. So wurde GAI auch zu einem historisch relevanten Projekt.

Zwischen 1980 und 1985 war sie an der Organisation der jährlichen Lesbian Gay Freedom Day Parade beteiligt – im ersten Jahr ihrer Beteiligung war sie nicht zufrieden mit der Repräsentation marginalisierter Gruppen als Sprecher. Diesem Gefühl gab sie in einer Rede Ausdruck, in der sie den Rassismus und Klassismus der Gemeinschaft ansprach und auf die Anfänge der Pride-Bewegung hinwies(3, Transkript und Übersetzung von mir):

Ihren Text ‚Gee, You Don’t Seem Like An Indian From the Reservation‚ schrieb sie 1981; darin beschreibt sie die Schwierigkeiten zur weißen Gesellschaft ebenso wie zu ihrer eigenen Kultur; sie nennt u.a. die Ermordung von Anna Mae Aquash als Anlass für ihren politischen Aktivismus. In den frühen 1980er begann auch die Beziehung zu ihrer Lebenspartnerin, mit der sie einen Sohn großzog. 1986 lebte sie mit einer Gruppe anderer Frauen unter dem Namen ‚Sonos Hermanas‚ (Wir sind Schwestern) eine Zeit in Nicaragua, um dort Frauen zu helfen.

Ende der 1980er Jahre war sie Vizepräsidentin des Alice B. Toklas LGBT Democratic Club, 1988 trat sie als Delegierte für Jesse Jacksons Rainbow Coalition (Link Englisch) beim Parteitag der Demokratischen Partei an. Sie leitete 1989 bis 1992 die Organisation Community United Against Violence, die Opfer von häuslicher Gewalt unterstützte. Ab Anfang der 1990er begann sich Cameron auch für die Aufklärung über HIV/AIDS und die Unterstützung Betroffener in der indigenen Gemeinschaft einzusetzen; sie besuchte 1993 die International Conference on AIDS als Delegierte des International Indigenous AIDS Network. Über ihren Besuch in Berlin schrieb sie das Essay ‚Frybread in Berlin‚ (Link Englisch, ganzer Text zum Download verfügbar). Sie war im Vorstand der San Francisco AIDS Foundation und des American Indian AIDS Institute, außerdem gründete sie das Institute on Native American Health and Wellness.

Werke von ihr erschienen in diversen Anthologien und Sammlungen:
Our right to love: a lesbian resource book (1978)
This Bridge Called My Back: Writings by Radical Women of Color (Link Englisch) (1981)
A Gathering Of Spirit: A Collection of Writing and Art by North American Indian Women (Link Englisch) (1983)
New Our Right To Love: A Lesbian Resource Book (1996)

Sie starb am 12. Februar 2002 mit nur 47 Jahren und wurde auf eigenen Wunsch, nach einem Leben vor allem in San Francisco, im Standing Rock Reservat beigesetzt. Ihr Drehbuch ‚Long Time, No See‚ blieb unvollendet.

Nicht viel mehr als dies, aber sehr charmant und lebendig erzählt Dr. Leah Leach im Gal’s Guide Podcast über Barbara May Cameron.


Quelle: Wiki englisch
außerdem:
(2) KQED
(3) Pride is a Protest
(4) Indigenous Goddess Gang

17/2023: April Ashley, 29. April 1935

Content Note: körperliche, sexuelle und emotionale Gewalt, Erwähnung von Suizid

„Lieber Gott, segne meinen Vater, segne meine Mutter, segne meine Geschwister und lass mich morgen als Mädchen aufwachen.“ So beschreibt April Ashley ihr allabendliches Gebet schon als Kind. Sie war eines von sechs überlebenden Kinder eines katholischen Vaters und einer protestantischen Mutter, sie hatte drei leibliche Brüder, zwei Schwestern und einen aus Bombay adoptierten Bruder. Nur ihr Vater liebte sie, doch war als Seeman wenig zugegen; ihre Geschwister lehnten sie ab und ihre Mutter ‚verabscheute‘ sie geradezu, weil sie so anders war.(Quelle: YouTube unten) Sie wurde auch von anderen Kindern in ihrer Heimatstadt Liverpool gehänselt und verprügelt.

Mit 16 Jahren konnte sie mit Hilfe einer Kundin, der sie Einkäufe auslieferte, bei der Handelsmarine anheuern. Doch dort wurde sie von ihrem Zimmergenossen schwer misshandelt und vergewaltigt; sie unternahm einen Suizidversuch und wurde daraufhin unehrenhaft entlassen, ein weiterer Versuch brachte sie in ein Psychiatrisches Krankenhaus, in dem sie Elektroschocktherapie erhielt und ihr Testosteron verabreicht wurde.

1955, mit zwanzig Jahren, konnte sie nach London ziehen und begann dort, als ‚cross dresser‚ zu leben. Einige Zeit später ging sie weiter nach Paris, wo sie unter dem Namen Toni April lebte und im Drag Cabarat ‚Le Carousel‚ auftrat, neben anderen trans*gender Künstlerinnen wie Coccinelle und Bambi. Sie bekam dort Östrogene und sah auch die Ergebnisse von Coccinelles geschlechtsangleichender Operation (CN: Fotos), woraufhin sie ihr Geld für eine eigene Operation ansparte. 1960 hatte sie die nötigen £3.000 zusammen und reiste nach Casablanca in Marokko zu Dr. Georges Burou. Dieser führte dort die von ihm entwickelte Vaginoplastik (Kolpopoese) bereits seit 1956 durch – Ashley sei seine neunte Patientin gewesen, schrieb sie später.

Die Operation war in Marokko verboten, Dr. Burou lebte und arbeitete dort diskret, seine Patientinnen kamen durch persönliche Kontakte mit anderen Patientinnen zu ihm. Zur Einschätzung der Lage (von Wikipedia): Im Jahr 1969 musste eine deutsche Patientin 10.000,-DM im Voraus zahlen, durfte dann zehn Tage später anreisen und erhielt bei der Aufklärung auch die Erklärung, wenn es tödliche Komplikationen gäbe, würe ihr Leichnam im Meer versenkt und ihr Ausweis verbrannt. (Laut DM-Euro-Rechner entspricht der Preis heutigen etwa 21.400,- €)

Ashley beschreibt die Operation als schmerzhaft, sie habe auch alle Haare verloren, doch habe sie niemals Reue gespürt, denn ‚wenn die Operation nicht gelungen wäre, hätte ich nicht weiterleben wollen‘.(Quelle: YouTube unten)

Nach der erfolgreichen Operation kehrte Ashley nach England zurück und lebte von nun an unter dem Namen April Ashley. Sie arbeitete als Mannequin und Model, unter anderem wurde sie von David Bailey für die British Vogue fotografiert. In dieser Zeit lernte sie auch ihren späteren ersten Ehemann, den ‚Honourable‚ Arthur Corbett, später 3. Baron Rowallan, kennen. Sie machte wie viele Fotomodelle auch erste Schritte in die Filmindustrie, mit einer kleinen Rolle in der Komödie ‚Der Weg nach Hong Kong‚, in der Bing Corsby, Bob Hope und Joan Collins die Hauptrollen spielten. Die Dreharbeiten wurden 1961 abgeschlossen, 1962 sollte der Film in die Kinos kommen. Kurz nach dem Dreh verkaufte jedoch ein*e ‚Freund*in‘ Ashleys Geschichte an die Presse und das Klatschmagazin ‚The Sunday People‚ outete sie noch 1961 als trans*gender. Daraufhin verlor Ashley ihre Angebote als Model und wurde aus dem Film herausgeschnitten. Zwei Jahre später heiratete sie Arthur Corbett, doch die Ehe hielt nicht lang. Getrennt und als Protagonistin eines ‚Skandals‘ konnte sie anschließend längere Zeit nicht seßhaft werden – immer, wenn ihre Geschichte in ihrem Umfeld bekannt wurde, verlor sie ihre Anstellung – unter anderem als Kellnerin und im Kunsthandel – und sie musste umziehen. Ihr Anwalt schrieb 1967 eine Unterhaltsforderung an Arthur Corbett, woraufhin dieser eine Klage einreichte, die Ehe annullieren zu lassen; dieser Fall wurde als Corbett v. Corbett zum traurigen Präzendenzfall. Dem Annullierungsantrag wurde 1970 stattgegeben, aufgrund der Tatsache, dass Ashley legal, nach ihren eingetragenen Angaben, noch als Mann galt – eine Tatsache, die Arthur Corbett bei der Eheschließung durchaus bewusst war.

April Ashley arbeitete in den 1970er Jahren als Empfangsdame in einem Londoner Restaurant, das sich von ihrer Geschichte mehr Zulauf von Gästen erhoffte. Die Situation führte dazu, dass Ashley vermehrt Alkohol trank, was auf lange Sicht zu gesundheitlichen Problemen bis hin zum Herzinfarkt führte. Sie heiratete ein weiteres Mal, doch auch diese Ehe endete in Scheidung, wenn auch freundschaftlich. 1982 schrieb sie gemeinsam mit einem britischen Journalisten ihre Autobiografie.

In den 1990er und 2000er Jahren versuchte Ashley mehrfach vergeblich, eine Änderung ihres Geschlechtseintrages zu erreichen und somit auch legal als Frau anerkannt zu werden, doch dies gelang ihr erst 2005 – mit 70 Jahren, 45 Jahre nach ihrer geschlechtsangleichenden Operation – nachdem das Vereinigte Königreich den Gender Recognition Act (Link Englisch) umgesetzt hatte. Sie erhielt daraufhin eine geänderte Geburtsurkunde und einen korrigierten Geschlechtseintrag in ihren persönlichen Daten. Im Folgejahr veröffentlichte Ashley eine Neuauflage ihrer Autobiografie mit einigen neuen Anekdoten, doch diese wurde wegen zu großer Übereinstimmung mit ihrer ersten Biografie – an der ein anderer Autor mitgewirkt hatte – aufgrund von Plagiarismus zurückgezogen.

Ashley verlebte den Rest ihres Lebens in Fulham als trans*gender Ikone der britischen LGBTQIA+-Community, sie verstarb im Dezember 2021 mit 86 Jahren.


Interview mit April Ashley in ‚Good Afternoon‘ (CN: Biologismus, Diskussion der ‚Toilettenfrage‘, Gefahren der Inhaftierung, körperliche und sexualisierte Gewalt u.a. gegen Kinder, Suizid – in leichtem Konversationston)
Sequenz über April Ashley in ‚What Am I?‘ (CN: verbale Transphobie)
Ausschnitt aus April Ashleys Auftritt bei ‚Loose Women‘ (CN: Deannaming, Fotografie von Ashley als Jugendliche/misgendert, emotionale Gewalt gegen Kinder, Suizidalität)

Quelle: Wiki deutsch | Wiki englisch

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