Kategorie: Kunst

22/2023: Nancy Cárdenas, 29. Mai 1934

Zur Welt kam Nancy Cárdenas in Parras de la Fuente, einem kleinen Ort im mexikanischen Bundesstaat Coahuila. Sie studierte zunächst Philosophie und Literatur an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko, nebenher begann sie mit 20 Jahren als Radiosprecherin zu arbeiten; in diesen Fächern machte sie schließlich ihren Doktortitel. Sie studierte auch Theaterschauspiel in Yale und polnische Kultur und Literatur in Łódź. Während ihrer internationalen Studienzeit begegnete sie Menschen, mit denen sie sich über Queerness austauschte; diese Erfahrungen und Einsichten flossen auch in ihre späteren Werke ein.(2)

In den 1950ern arbeitete sie als Theaterschauspielerin, so war sie 1956 am Lyrik-Programm ‚Poesía en Voz Alta‚ (etwa ‚Poesie mit lauter Stimme‘) von Héctor Mendoza beteiligt. In der folgenden Dekade verlegte sich Cárdenas auf das Schreiben: Sie verfasste Theaterstücke und schrieb für Magazine und Zeitungen; ihr erstes Stück war der EinakterEl cantaro seco‚ (etwa ‚Der leere/trockene Krug‘). Bereits in dieser Zeit war sie politisch aktiv und trat für kommunistische und feministische Ziele ein, beides keine sehr beliebten Haltungen in der mexikanischen Gesellschaft; 1968 wurde sie bei Protesten gegen Polizeigewalt verhaftet. Auch in ihren Texte bezog sie politisch Position, etwa in dem Stück ‚SIDA… así es la vida‚ (etwa ‚AIDS… so ist das Leben‘) und in ihrer Adaption des Romans ‚Quell der Einsamkeit‚ von Radclyffe Hall. In den 70er Jahren wechselte sie schließlich ins Regiefach, ihre Produktion von ‚The Effect of Gamma Rays on Man-in-the-Moon Marigolds‚ von Paul Zindel gewann einen Kritikerpreis.

Inzwischen war ihre politische Haltung und ihr Einsatz für die Rechte Homosexueller und anderer gesellschaftlich marginalisierter Personen allgemein bekannt. Dennoch war es ein unerhörter Moment, als sie 1973 öffentlich bekannte, lesbisch zu sein. Sie war Gast in der Sendung ‚24 horas‚ (’24 Stunden‘) und sprach mit dem Moderator über die Entlassung eines homosexuellen Angestellten aufgrund seiner sexuellen Orientierung. Im Rahmen dieses Gesprächs erklärte sie ihre eigene Homosexualität und war damit die erste Lesbe, die öffentlich ihr Coming Out hatte. Nach dem Gespräch war sie zwar nicht Opfer direkter Anfeindungen, dennoch spürte sie den nachteiligen Effekt: „Niemensch sprach mich darauf an attackierte mich dafür, alles, was ich erhielt, waren Glückwünsche, aber niemensch gab mir mehr Arbeit.“(3) In dieser Phase der eingeschränkten beruflichen Tätigkeit wurde sie umso mehr gesellschaftlich aktiv: Schon im Jahr nach ihrem Coming Out gründete sie die erste Homosexuellen-Organisation Mexikos, die Frente de Liberacíon Homosexual (Link Englisch, in diesem Beitrag wird das Gründungsjahr allerdings mit 1971 angegeben). In die Aufgabe, einer Menschenrechtsorganisation vorzusitzen, stürzte sie sich mit Leidenschaft, sprach mit vielen Betroffenen und sammelte Erzählungen aus der Gemeinschaft. Als Vorsitzende der Organisation nahm sie 1975 an der ersten Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen in Mexiko-Stadt teil, sie war hier Gastgeberin eines Forums über Lesbianismus – aus der Diskussion der Beteiligten des Forums entstand das Manifesto in Defense of Homosexuals in Mexico, das sie mit Carlos Monsivaís verfasste. Die Teilnahme öffentlich bekennender lesbischer Frauen an der Konferenz wurde von außen heftig kritisiert; gegen das Forum wurde mit Schildern protestiert, allerdings soll Cárdenas mit einer der Protestierenden – die ein Schild trug, das Cárdenas‘ Tötung forderte – gesprochen und erfahren haben, dass diese von der Polizei bezahlt worden war.(3) Nach der Veranstaltung lud sie die internationalen Beteiligten zu sich nach Hause ein; dort konnten Lesben aus aller Welt ins Gespräch kommen mit den Lesben der mexikanischen Bewegung. Zur dieser Gemeinschaft gehörten nach Cárdenas auch ‚lesbians who thought they were women trapped in men’s bodies‚, also trans Frauen, sowie wahrscheinlich auch Frauen, die Frauen liebten, sich aber männlich identifizierten. Entgegen der heute so nicht mehr akzeptablen sprachlichen Ausdrücke fasste der Lesbianismus in Cárdenas Gemeinschaft nicht nur die klassische Interpretation von weiblich gelesenen Personen, die sich sexuell zu ebenso weiblich gelesene Personen hingezogen fühlen.(3, der Quellentext verweist hier ganz richtig darauf, dass zu dieser Zeit die Wahrnehmung von Transidentität und somit auch die Sprache/das Sprechen darüber nicht dem heutigem Kenntnisstand entspricht und deshalb auch nicht an heutigen Idealen gemessen werden kann)

Als eine Ikone der LGBTQ-Gemeinschaft in Mexiko führte Nancy Cárdenas am 2. Oktober 1978 auch die erste Gay Pride Parade Mexikos an, die sich einem Erinnerungsmarsch zum Jahrestag des Massakers von Tlatelolco anschloss. Ihre Aktivität insbesondere als lesbische Frau wurde von den unterschiedlichen politischen Kreisen, die sich nicht unbedingt überschnitten, nicht mit Wohlwollen betrachtet: Im heteronormativen Feminismus wurde Lesbianismus zwar still hingenommen, doch sprechen sollten die Frauen nicht darüber – lesbischer Aktivismus sei anti-feministisch, weil er von ‚echten Problemen‘ ablenke. Ebenso waren ihre Genoss*innen im kommunistischen Kampf der Meinung, lesbischer Aktivismus sei anti-kommunistisch, weil er von ‚echten Problemen‘ ablenke. Andere fanden, die Idee der Queerness – der Homosexualität, der nicht-cis Identität – sei aus den USA importiert und widerspräche den mexikanischen Traditionen. Alles Positionen also, die dem intersektionalen Feminismus auch heute noch entgegenstehen: Dass er von den ‚eigentlichen‘ Problemen ablenke oder in irgendeiner moralischen oder ideologischen Verderbtheit oder Verwahrlosung entspringe.

In den Jahren nach dieser Gründerzeit schrieb Cárdenas weiterhin Theaterstücke und Lyrik, 1979 führte sie Regie bei dem Dokumentarfilm ‚Mexico des mis amores‚. Außerdem hielt sie als Feministin und Sexologin Vorträge, trat im Fernsehen auf und organisierte Konferenzen. Sie starb am 23. März 1994 mit 69 Jahren in Mexiko-Stadt an Brustkrebs.


Quelle Biografie: Wikipedia (Link Englisch)
außerdem:
(1) LGBT History Month
(2) Making Queer History

21/2023: Barbara May Cameron, 22. Mai 1954

CN: In Titeln und Namen von Organisationen wird das alte englische Wort für amerikanische Ureinwohner verwendet, insbesondere jedoch als Selbstbezeichnung. In dieser Form und Funktion schreibe ich es aus.

In ihrem Essay Gee, You Don’t Seem Like An Indian From the Reservation schreibt Barbara May Cameron, dass sie bis zu ihrem fünften Lebensjahr bereits erlebt hatte, wie ein alter Mann von der Polizei tödlich in den Rücken geschossen wurde, und sie stumme Zeugin war, wie eine Gruppe Jugendlicher einen älteren Herrn zusammenschlugen. Cameron kam als Kind einer Hunkpapa Lakota Familie im Standing Rock Reservat in North Dakota zur Welt und wuchs dort bei ihren Großeltern auf. Schon als Kind, erzählte sie später, habe sie von der Stadt San Francisco gelesen und gesagt, eines Tages werde sie auch dort leben und die Welt retten.(2) In der neunten Klasse gewann sie einen Schreibwettbewerb (von Pepsi), der Preis war $1000 und eine Fahrt nach Washington, D.C.(3,4)

Sie besuchte die Highschool im Reservat, im Anschluss studierte sie Fotografie und Film am Institute of American Indian Arts (Link Englisch) in New Mexico, 1973 ging sie mit 19 Jahren nach San Francisco und studierte dort am San Francisco Art Institute. Sie war als Fotografin und Filmemacherin erfolgreich, als Aktivistin für homosexuelle Indigene schrieb sie auch zahlreiche Essays und Artikel.

1975 gründete sie mit Randy Burns (Link Englisch), einem Zuñi, die Gay American Indians, die erste Organisation, die sich für die gesellschaftliche Befreiung und Sichtbarkeit homosexueller Indigener einsetzte. Die Funktion der Organisation war nicht nur, als Homosexuelle of Color einen sicheren Raum zu finden, denn der Rassismus war auch in der hauptsächlich weißen Homosexuellen-Szene massiv – Schwarze und Indigene wurden nicht oder nicht ohne Weiteres in die Clubs gelassen. GAI diente auch als anthropologische Sammelstätte, in der die homosexuellen Indigenen ihr Wissen und ihre Erinnerungen an ihre Stammeskulturen zusammentrugen. Die Terminationspolitik (CN: I*-Wort) der 1950er-Jahre hatte diese so gut wie vernichtet, bei dem Versuch, sämtliche US-amerikanischen Indigenen zu ‚assimilieren‘: An Schule war es bei Strafe verboten, die eigenen Sprachen zu sprechen oder religiöse Rituale durchzuführen, Reservate – schon extrem begrenzte Lebensräume – sollten aufgelöst werden, dabei verloren viele die staatliche Unterstützung und jeden gesellschaftlichen Halt. Die Generation, die dies durchlebte, war schwer traumatisiert. Die Mitglieder von GAI waren zumeist die Kinder dieser Generation und erzählten sich nun gegenseitig, was sie noch von ihren Großeltern erfahren und gelernt hatten; sie sammelten auch die Namen für two spirits in ihren jeweiligen Stammessprachen. So wurde GAI auch zu einem historisch relevanten Projekt.

Zwischen 1980 und 1985 war sie an der Organisation der jährlichen Lesbian Gay Freedom Day Parade beteiligt – im ersten Jahr ihrer Beteiligung war sie nicht zufrieden mit der Repräsentation marginalisierter Gruppen als Sprecher. Diesem Gefühl gab sie in einer Rede Ausdruck, in der sie den Rassismus und Klassismus der Gemeinschaft ansprach und auf die Anfänge der Pride-Bewegung hinwies(3, Transkript und Übersetzung von mir):

Ihren Text ‚Gee, You Don’t Seem Like An Indian From the Reservation‚ schrieb sie 1981; darin beschreibt sie die Schwierigkeiten zur weißen Gesellschaft ebenso wie zu ihrer eigenen Kultur; sie nennt u.a. die Ermordung von Anna Mae Aquash als Anlass für ihren politischen Aktivismus. In den frühen 1980er begann auch die Beziehung zu ihrer Lebenspartnerin, mit der sie einen Sohn großzog. 1986 lebte sie mit einer Gruppe anderer Frauen unter dem Namen ‚Sonos Hermanas‚ (Wir sind Schwestern) eine Zeit in Nicaragua, um dort Frauen zu helfen.

Ende der 1980er Jahre war sie Vizepräsidentin des Alice B. Toklas LGBT Democratic Club, 1988 trat sie als Delegierte für Jesse Jacksons Rainbow Coalition (Link Englisch) beim Parteitag der Demokratischen Partei an. Sie leitete 1989 bis 1992 die Organisation Community United Against Violence, die Opfer von häuslicher Gewalt unterstützte. Ab Anfang der 1990er begann sich Cameron auch für die Aufklärung über HIV/AIDS und die Unterstützung Betroffener in der indigenen Gemeinschaft einzusetzen; sie besuchte 1993 die International Conference on AIDS als Delegierte des International Indigenous AIDS Network. Über ihren Besuch in Berlin schrieb sie das Essay ‚Frybread in Berlin‚ (Link Englisch, ganzer Text zum Download verfügbar). Sie war im Vorstand der San Francisco AIDS Foundation und des American Indian AIDS Institute, außerdem gründete sie das Institute on Native American Health and Wellness.

Werke von ihr erschienen in diversen Anthologien und Sammlungen:
Our right to love: a lesbian resource book (1978)
This Bridge Called My Back: Writings by Radical Women of Color (Link Englisch) (1981)
A Gathering Of Spirit: A Collection of Writing and Art by North American Indian Women (Link Englisch) (1983)
New Our Right To Love: A Lesbian Resource Book (1996)

Sie starb am 12. Februar 2002 mit nur 47 Jahren und wurde auf eigenen Wunsch, nach einem Leben vor allem in San Francisco, im Standing Rock Reservat beigesetzt. Ihr Drehbuch ‚Long Time, No See‚ blieb unvollendet.

Nicht viel mehr als dies, aber sehr charmant und lebendig erzählt Dr. Leah Leach im Gal’s Guide Podcast über Barbara May Cameron.


Quelle: Wiki englisch
außerdem:
(2) KQED
(3) Pride is a Protest
(4) Indigenous Goddess Gang

17/2023: April Ashley, 29. April 1935

Content Note: körperliche, sexuelle und emotionale Gewalt, Erwähnung von Suizid

„Lieber Gott, segne meinen Vater, segne meine Mutter, segne meine Geschwister und lass mich morgen als Mädchen aufwachen.“ So beschreibt April Ashley ihr allabendliches Gebet schon als Kind. Sie war eines von sechs überlebenden Kinder eines katholischen Vaters und einer protestantischen Mutter, sie hatte drei leibliche Brüder, zwei Schwestern und einen aus Bombay adoptierten Bruder. Nur ihr Vater liebte sie, doch war als Seeman wenig zugegen; ihre Geschwister lehnten sie ab und ihre Mutter ‚verabscheute‘ sie geradezu, weil sie so anders war.(Quelle: YouTube unten) Sie wurde auch von anderen Kindern in ihrer Heimatstadt Liverpool gehänselt und verprügelt.

Mit 16 Jahren konnte sie mit Hilfe einer Kundin, der sie Einkäufe auslieferte, bei der Handelsmarine anheuern. Doch dort wurde sie von ihrem Zimmergenossen schwer misshandelt und vergewaltigt; sie unternahm einen Suizidversuch und wurde daraufhin unehrenhaft entlassen, ein weiterer Versuch brachte sie in ein Psychiatrisches Krankenhaus, in dem sie Elektroschocktherapie erhielt und ihr Testosteron verabreicht wurde.

1955, mit zwanzig Jahren, konnte sie nach London ziehen und begann dort, als ‚cross dresser‚ zu leben. Einige Zeit später ging sie weiter nach Paris, wo sie unter dem Namen Toni April lebte und im Drag Cabarat ‚Le Carousel‚ auftrat, neben anderen trans*gender Künstlerinnen wie Coccinelle und Bambi. Sie bekam dort Östrogene und sah auch die Ergebnisse von Coccinelles geschlechtsangleichender Operation (CN: Fotos), woraufhin sie ihr Geld für eine eigene Operation ansparte. 1960 hatte sie die nötigen £3.000 zusammen und reiste nach Casablanca in Marokko zu Dr. Georges Burou. Dieser führte dort die von ihm entwickelte Vaginoplastik (Kolpopoese) bereits seit 1956 durch – Ashley sei seine neunte Patientin gewesen, schrieb sie später.

Die Operation war in Marokko verboten, Dr. Burou lebte und arbeitete dort diskret, seine Patientinnen kamen durch persönliche Kontakte mit anderen Patientinnen zu ihm. Zur Einschätzung der Lage (von Wikipedia): Im Jahr 1969 musste eine deutsche Patientin 10.000,-DM im Voraus zahlen, durfte dann zehn Tage später anreisen und erhielt bei der Aufklärung auch die Erklärung, wenn es tödliche Komplikationen gäbe, würe ihr Leichnam im Meer versenkt und ihr Ausweis verbrannt. (Laut DM-Euro-Rechner entspricht der Preis heutigen etwa 21.400,- €)

Ashley beschreibt die Operation als schmerzhaft, sie habe auch alle Haare verloren, doch habe sie niemals Reue gespürt, denn ‚wenn die Operation nicht gelungen wäre, hätte ich nicht weiterleben wollen‘.(Quelle: YouTube unten)

Nach der erfolgreichen Operation kehrte Ashley nach England zurück und lebte von nun an unter dem Namen April Ashley. Sie arbeitete als Mannequin und Model, unter anderem wurde sie von David Bailey für die British Vogue fotografiert. In dieser Zeit lernte sie auch ihren späteren ersten Ehemann, den ‚Honourable‚ Arthur Corbett, später 3. Baron Rowallan, kennen. Sie machte wie viele Fotomodelle auch erste Schritte in die Filmindustrie, mit einer kleinen Rolle in der Komödie ‚Der Weg nach Hong Kong‚, in der Bing Corsby, Bob Hope und Joan Collins die Hauptrollen spielten. Die Dreharbeiten wurden 1961 abgeschlossen, 1962 sollte der Film in die Kinos kommen. Kurz nach dem Dreh verkaufte jedoch ein*e ‚Freund*in‘ Ashleys Geschichte an die Presse und das Klatschmagazin ‚The Sunday People‚ outete sie noch 1961 als trans*gender. Daraufhin verlor Ashley ihre Angebote als Model und wurde aus dem Film herausgeschnitten. Zwei Jahre später heiratete sie Arthur Corbett, doch die Ehe hielt nicht lang. Getrennt und als Protagonistin eines ‚Skandals‘ konnte sie anschließend längere Zeit nicht seßhaft werden – immer, wenn ihre Geschichte in ihrem Umfeld bekannt wurde, verlor sie ihre Anstellung – unter anderem als Kellnerin und im Kunsthandel – und sie musste umziehen. Ihr Anwalt schrieb 1967 eine Unterhaltsforderung an Arthur Corbett, woraufhin dieser eine Klage einreichte, die Ehe annullieren zu lassen; dieser Fall wurde als Corbett v. Corbett zum traurigen Präzendenzfall. Dem Annullierungsantrag wurde 1970 stattgegeben, aufgrund der Tatsache, dass Ashley legal, nach ihren eingetragenen Angaben, noch als Mann galt – eine Tatsache, die Arthur Corbett bei der Eheschließung durchaus bewusst war.

April Ashley arbeitete in den 1970er Jahren als Empfangsdame in einem Londoner Restaurant, das sich von ihrer Geschichte mehr Zulauf von Gästen erhoffte. Die Situation führte dazu, dass Ashley vermehrt Alkohol trank, was auf lange Sicht zu gesundheitlichen Problemen bis hin zum Herzinfarkt führte. Sie heiratete ein weiteres Mal, doch auch diese Ehe endete in Scheidung, wenn auch freundschaftlich. 1982 schrieb sie gemeinsam mit einem britischen Journalisten ihre Autobiografie.

In den 1990er und 2000er Jahren versuchte Ashley mehrfach vergeblich, eine Änderung ihres Geschlechtseintrages zu erreichen und somit auch legal als Frau anerkannt zu werden, doch dies gelang ihr erst 2005 – mit 70 Jahren, 45 Jahre nach ihrer geschlechtsangleichenden Operation – nachdem das Vereinigte Königreich den Gender Recognition Act (Link Englisch) umgesetzt hatte. Sie erhielt daraufhin eine geänderte Geburtsurkunde und einen korrigierten Geschlechtseintrag in ihren persönlichen Daten. Im Folgejahr veröffentlichte Ashley eine Neuauflage ihrer Autobiografie mit einigen neuen Anekdoten, doch diese wurde wegen zu großer Übereinstimmung mit ihrer ersten Biografie – an der ein anderer Autor mitgewirkt hatte – aufgrund von Plagiarismus zurückgezogen.

Ashley verlebte den Rest ihres Lebens in Fulham als trans*gender Ikone der britischen LGBTQIA+-Community, sie verstarb im Dezember 2021 mit 86 Jahren.


Interview mit April Ashley in ‚Good Afternoon‘ (CN: Biologismus, Diskussion der ‚Toilettenfrage‘, Gefahren der Inhaftierung, körperliche und sexualisierte Gewalt u.a. gegen Kinder, Suizid – in leichtem Konversationston)
Sequenz über April Ashley in ‚What Am I?‘ (CN: verbale Transphobie)
Ausschnitt aus April Ashleys Auftritt bei ‚Loose Women‘ (CN: Deannaming, Fotografie von Ashley als Jugendliche/misgendert, emotionale Gewalt gegen Kinder, Suizidalität)

Quelle: Wiki deutsch | Wiki englisch

12/2023: Sunaura Taylor, 21. März 1982

Das US-amerikanische Militär hatte in der Gegend um Tucson, Arizona seit Mitte des 20. Jahrhunderts toxischen Müll seiner Flugzeugherstellung abgelassen, darunter Trichlorethen. Sunaura Taylor kam dort 1982 mit Arthrogryposis multiplex congenita auf die Welt, einer Gelenkversteifung meist der Extremitäten, die eine lebenslange körperliche Beeinträchtigung nach sich zieht. In Taylors Fall wird die Ursache in der Grundwasservergiftung mit Trichlorethen vermutet; ihre Eltern schlossen sich einer Sammelklage mehrerer betroffener Familien an, denen 1995 Recht und monetäre Entschädigung zugesprochen wurde.

Sunaura Taylor wuchs in einer Familie von Künstlern und Friedensaktivist*innen auf und begann mit zwölf Jahren zu malen(1). Sie wurde zu Hause beschult und war auch künstlerisch eine Autodidaktin, studierte jedoch später am Goddard College und an der University of California, Berkeley, wo sie ihren Bachelor of Arts machte.

Im März 2004 veröffentlichte die Monthly Review ein Essay von Taylor: The Right Not To Work: Power And Disability (Link Englisch). Sie spricht darin über das gesellschaftliche Phänomen, den ‚Wert‘ eines Menschen in seiner Produktivität zu bemessen, und welche Folgen dies für alle Menschen hat, insbesondere aber die, deren Körper nicht – ohne weiteres – für industrielle Produktivität eingesetzt werden können. Sie erläutert den Unterschied von impairment, am ehesten übersetzt mit ‚Beeinträchtigung‘, als die körperlichen Eigenschaften, die nicht der statistischen Norm entsprechen, und disability, Behinderung, als die soziale, kulturelle Folge einer Beeinträchtigung in unserer Welt; kurz, das soziale Modell von Behinderung, in der der Mensch beeinträchtigt ist, aber von der Umwelt behindert wird. Das Magazin druckte auch ihr Selfportrait with Trichlorethene (TCE) ab, auf dem sie sich selbst als Akt portraitiert. Das Bild und einige andere sind auf ihrer Galerieseite der Wynn Newhouse Awards (Link Englisch) zu sehen; sie war 2011 Empfängerin des Preises.

Ihre Schwester, Astra Taylor (Link Englisch), drehte 2008 den Dokumentarfilm Examined Life (Link Englisch), mit einem Segment, in dem sie ihre Schwester Sunaura bei einem Spaziergang mit Judith Butler begleitet. Die Künstlerin und die Philosophin sprechen auch hier über die gesellschftliche Wahrnehmung von Körpern, die normativen Erwartungen an Körper und die Bedrohung von Ausgrenzung und Gewalt, wenn Körper diesen gesellschaftlichen Erwartungen nicht entsprechen.

Segment aus Examined Life: Sunarua Taylor und Judith Butler im Gespräch (Englisch)

Taylor denkt darin auch laut über die Grenzen nach, wann Körper – gesellschaftlich betrachtet – als ‚menschlich‘ betrachtet werden, und wo die Grenze zwischen Mensch und Tier gezogen wird bzw. werden kann. Sie entwickelte diesen Gedanken weiter und formulierte 2009 ihre Begründung, warum sie als abolitionistische Veganerin lebt: Is it possible to be a conscientious meat eater? (Link Englisch) Sie argumentiert darin unter anderem, dass unsere Unterscheidung von Mensch und Tier auch auf den Fähigkeiten beruht, die wir Menschen, aber nicht Tieren zusprechen, dass aber etwa die Fähigkeit, sich eine Zukunft vorzustellen, oder ein Verständnis des eigenen Ichs zu haben, auch Säuglinge nicht aufweisen, wir diese aber dennoch nicht schlachten und essen. Sie weist auf die Überschneidungen zwischen dem Kampf für die Rechte behinderter Menschen und dem Kampf für Tierrechte hin, und darauf, dass Speziesismus Gemeinsamkeit hat mit der Diskriminierung aufgrund körperlicher Beeinträchtigung – wo Körper nicht einer normativer Erwartung an ‚Mensch‘ entspricht.

Just wondering…: Animal & Disability Liberation – with Sunaura Taylor (Transkript Englisch)

Sunaura Taylor unterrichtet inzwischen als Assistenzprofessorin an der University of California, Berkeley. Sie ist aktiv in der Society for Disability Studies, 2017 brachte sie das Buch Beasts Of Burden heraus, eine ausführliche philosophische Auseinandersetzung mit den Gedanken, die sie im obigen Artikel begonnen hatte.


Quellen Biografie: Wiki deutsch | Wiki englisch
außerdem:
(1) NPR Beitrag

08/2023: Heather MacAllister, 25. Februar 1968

Heather MacAllister wurde in Michigan geboren, lebte in verscheidenen Städten in dem Bundesstaat, aber auch in Tuscon, Arizona und schließlich in San Francisco. Mit dreißig Jahren machte sie einen Bachelor Degree in Anthropologie und African-American Studies. Sie war aktiv in verschiedenen Netzwerken und Organisationen gegen Gewichtsdiskriminierung und für fat acceptance (Link Englisch), sowie gegen die Verfolgung und Diskriminierung von trans Menschen; nach dem 11. September 2001 setzte sie sich auch für die Bürgerrechte von muslimischen und Arab-US-Amerikanern ein. Sie arbeitete unter anderem für NoLose, in der sich dicke queere Menschen organisieren, und leistete Lobbyarbeit für eine Gesetzgebung gegen Gewichtsdiskriminierung, die 2000 in San Francisco umgesetzt wurde.

Hauptsächlich bekannt ist sie für ihre Burlesque*-Truppe ‚Big Burlesque and the Fat Bottom Revue‚, in der ausschließlich dicke Künstlerinnen tanzten. Für ihre Auftritte verwendete MacAllister die Bühnennamen Ms Demeanor (a misdemeanour = ein Vergehen) und Reva Lucian (ein Wortspiel mit Revolution, falls es nicht aufgefallen sein sollte), ihre Truppe trat bei unterschiedlichsten Gelegenheiten wie etwa dem Burning Man und Konferenzen politischer Organisationen, aber auch privaten Veranstaltungen auf. Neben dem Entertainment setzte MacAllister mit ihrer Truppe auch Körper-Akzeptanz-Workshops um.

Die Anthropologin und Künstlerin war überzeugt, dass Burlesque eine wirksame Form des Aktivismus sei: „Jedes Mal, wenn eine dicke Person auf der Bühne etwas anderes als eine Witzfigur darstellt, ist es politisch. Füge dem noch Bewegung hinzu, dann Tanz, dann Sexualität, und du hast einen revolutionären Akt.“ (Zitatquelle: Wikipedia, Übersetzung von mir)

Ebenso ein Akt körperpolitischer Revolution war es, als MacAllister und Big Burlesque 2005 für eine Kunstgalerie von Leonard Nimoy fotografiert wurden – das Kunstprojekt hieß The Full Body. In seiner Erläuterung dazu erklärt Nimoy, dass Frauenkörper in seinen bisherigen Fotografien dem gesellschaftlichen Standard von Schönheit entsprachen und sie auch von Betrachtenden als ’schön‘ bezeichnet wurden. Die Fotografien der Burlesquetänzerinnen seien eine Abweichung davon, diese Frauen zeigten sich selbst, im Gegensatz zu den Modellen, die er sonst fotografiert und die seinen Anweisungen folgten. In den Bildern ginge es daher auch mehr um die Frauen als um ihn als Künstler. Er stellt mit den Frauen ansatzweise die Bilder anderer Künstler nach, wie Herb Ritts, Helmut Newton oder auch Matisse, zum Teil bekleidet, zu großem Teil nackt. Seiner Aufforderung, sich stolz zu zeigen, kamen die Burlesquetänzerin mit Leichtigkeit nach, auch ihre spürbare Entspanntheit miteinander und sich selbst beschreibt Nimoy. Die Reaktionen auf diese Bilder, schließt er, sei eine andere, die Betrachtenden sprächen anders von den Bildern. Kommentare führten zu Fragen, Fragen zu Diskussionen, über Schönheitsideale, soziale Akzeptanz, kosmetische Eingriffe und anderes. „In diesen Bildern tragen die Frauen ihre eigene Haut. Sie respektieren sich selbst und ich hoffe, meine Bilder vermitteln dies an andere.“ (Quelle: web.archive.org, Übersetzung meine)

2006 erhielt MacAllister vom Harvey Milk LGBTQ Democratic Club (Link Englisch) den Queer Cultural Activist Award. Im Folgejahr starb Heather MacAllister 38jährig durch Sterbehilfe, nachdem sie vorher an Eierstockkrebs erkrankt war. Ein Bildband von The Full Body Project erschien 2008, es ist ihr gewidmet.


Quelle Biografie: Wiki englisch


*Mit Burlesque ist hier New Burlesque gemeint. Für eine interessante, zeitgeschichtliche Einordnung von (New/Neo) Burlesque in Abgrenzung zum Striptease ist der englische Wikipedia-Artikel zu Neo-Burlesque lesenswert. Meine Paraphrasierung für die kurze Lesezeit:

Das ursprüngliche Burlesque-Theater, in dem bekannte Stücke parodiert wurden und Frauen in Männerrollen auftraten, kam in den 1860er Jahren aus Großbritannien in die USA und zwar mit den British Blondes unter der Leitung von Lydia Thompson. Bis in die 1930er Jahre veränderte sich die US-amerikanische Burlesque hin zu einer Form des Striptease, was wiederum dazu führte, dass es in dieser moralisch strengen Dekade** stark reguliert wurde. Damit verschoben sich die Inhalte weg vom strip hin zum tease, doch durch politische Reglementierung und Unterdrückung verschwand das Burlesque-Theater fast vollständig von der Entertainment-Bildfläche. Mit sich lockerndem moralischen Zeitgeist konnten direkter auf sexuelle Erregung abzielende Striptease-Lokale Fuß fassen – und da ab den 1960ern auch Nacktheit in Filmen und anderen Entertainments gängiger wurde, schien das Spiel mit neckischem Entblößen der Burlesque überkommen. Seit 1994 feiert Neo-Burlesque ein Revival als eine ‚vintage‚ Form der Unterhaltung. Das moderne Burlesque-Theater spielt wieder mit Andeutung statt full frontal nudity, hat eher sinnliche als sexuelle Erregung zum Ziel und setzt schlüpfrigen Humor ebenso wie Gesangs- und Tanzeinlagen für ein breiteres Kulturerlebnis ein. Während in seiner Frühzeit die Burlesque gemeinsam mit den rassistischen Minstrel Shows und den ableistischen Freak Shows zu den anspruchslosen Formen der Unterhaltung zählte, hat die moderne Form diese diskriminierenden Zurschaustellungen in ihr Gegenteil verkehrt. Statt als passive, stereotype und abstoßende Objekte erscheinen im Neo-Burlesque diverse Menschen mit unterschiedlichen Körpern als aktive, individuelle und sinnliche Subjekte. Ein normatives Schönheitsideal wird verweigert, weshalb es für Aktivistys der body positivity wie Heather MacAllister ein fruchtbares politisches Instrument ist – Aktivitainment, sozusagen. Mit der Boylesque erwuchs dem Burlesque auch eine verwandte Kunstform, in der statt der weiblichen Darstellung – Frauen und Drag Queens – männliche Darstellende Burlesque-Akte aufführen.

**Auch der Hays-Code wirkte von 1934 an „reinigend“ auf Filme und führte hier ebenfalls zu kreativen Ideen, Anzüglichkeiten und sexuelle Inhalte zu verbrämen.

Elizabeth Fulhame

18. Jhdt.

Elizabeth Fulhame (Link Englisch) war vermutlich Schottin, sicher war sie mit einem Arzt verheiratet und lebte in Edinburgh.

Sie begann ihre Forschungen in der Chemie, weil sie eine Möglichkeit suchte, Stoffe mit Metallen und unter Lichteinfluss zu färben. 1780 hatte sie die Idee, Textilien mittels chemischer Reaktionen mit Gold, Silber oder anderen Metallen zu gestalten, ein Plan, der von ihrem Mann und dem Freundeskreis als „unwahrscheinlich“ abgelehnt wurde. Daraufhin machte sich Fulhame an ihre Untersuchungen und Experimente zu dem, was heute als Redoxreaktionen bekannt ist, die sie 14 Jahre lang beschäftigen sollten.

Sie versuchte, Metalle aus ihren Salzen zu gewinnen, in dem sie diese in unterschiedlichen Lösungszuständen – in wässrigen oder alkoholischen Lösungen oder trocken – verschiedenen Reduktionsmitteln aussetzte. Dabei entdeckte sie, wie durch chemische Reaktionen Metalle aus ihren Salzen herausgefällt werden konnten. Ihre Entdeckung, dass Metalle bei Raumtemperatur allein mit wässrigen Lösungen bearbeitet werden können, statt auf Höchsttemperatur geschmolzen zu werden, zählt zu den wichtigesten ihrer Zeit. Fulhame erreichte theoretische Erkenntnisse zu Katalysatoren, die als entscheidender Schritt in der Geschichte der Chemie gelten – und sie gelangte zu diesen noch vor Jöns Jakob Berzelius und Eduard Buchner.

Es ist interessant, dass Fulhames Entdeckungen über die Gewinnung von Metallen aus ihren Verbindungen in der europäischen Welt ein solches Ereignis war, wo doch Alchemist:innen im östlichen Mittelmeerraum und in China dies schon mehrere Jahrhunderte vorher vermutlich beherrschten (namentlich Fang im 1. Jahrhundert vor Christus, Maria Prophitessa um das 2. Jahrhundert nach Christus, Kleopatra die Alchemistin etwa 300 nach Christus und Keng Hsien-Seng zu Beginn des europäischen Mittelalters). Möglicherweise finde auch nur ich dies verwunderlich, weil ich die tatsächlichen chemischen Prozesse nicht vollständig begreife und/oder mir die Kenntnisse der Wissenschaftsgeschichte fehlen.

Eine weitere Hypothese, die Fulhame aufstellte und experimentell untermauerte, besagte, dass viele Oxidationsreaktionen nur durch Wasser möglich sind, Wasser an der Reaktion beteiltigt ist und als Endprodukt der Reaktion auftritt. Sie schlug als möglicherweise erste Wissenschaftlerin überhaupt Formeln für die Mechanismen dieser Reaktionen vor. Gleichzeitig wich ihre Theorie über die Rolle des Sauerstoff stark von herrschenden wissenschaftlichen Meinung ab.

Im 18. Jahrhundert war ein Großteil der Chemiker von der Phlogiston-Theorie von Georg Ernst Stahl überzeugt, die eine flüchtige Substanz für die chemischen Vorgänge bei Erwärmung und Verbrennung anderer Stoffe verantwortlich machte; Luft habe hingegen keinen Anteil an den Reaktionen. Dem Gegner der Phlogistontheorie, Antoine Lavoisier, konnte sie jedoch auch nicht in allen Hypothesen zur Rolle des Sauerstoff zustimmen.

Den gesamten Experimenten Fulhames lag ja der Wunsch zugrunde, Textilien mit lichtempfindlichen Chemikalien zu färben, und so machte sie auch Versuche mit Silbersalzen. Auch wenn sie nicht versuchte, Bilder mit dieser Methode zu gestalten, kam sie damit doch den Fotogramm-Versuchen Thomas Wedgwoods zuvor. Der Kunsthistoriker Larry J. Schaaf (Link Englisch) hält ihre Erforschung der chemischen Eigenschaften des Silbers daher für wegweisend in der Entwicklung der Fotografie.

1794 brachte Elizabeth Fulhame ihr Buch „Ein Essay über Verbrennung mit einem Blick auf die neue Kunst des Färbens und Malens, in welchem phlogistische und antiphlogistische Hypothesen als fehlerhaft bewiesen werden“ (An Essay On Combustion with a View to a New Art of Dying and Painting, wherein the Phlogistic and Antiphlogistic Hypotheses are Proved Erroneous). Ihre Experimente wurden im Vereinigten Königreich von Wissenschaftlern wahrgenommen und besprochen, Sir Benjamin Thompson und Sir John Herschel (Neffe von Caroline Herschel) äußerten sich lobend über Fulhames Arbeit.

Das Buch wurde vier Jahre später von Augustin Gottfried Ludwig Lentin (Link Englisch) ins Deutsche übersetzt, 1810 folgte eine Veröffentlichung in den Vereinigten Staaten. Noch im gleichen Jahr wurde sie zum Ehrenmitglied der Philadelphia Chemical Society ernannt; sie wurde von ihrem Zeitgenossen Thomas P. Smith gelobt: „Mrs. Fulhame erhebt nun so kühne Ansprüche auf die Chemie, dass wir ihrem Geschlecht nicht mehr das Privileg verweigern können, an dieser Wissenschaft teilzuhaben.“

Trotz des Erfolges hielt der amerikanische Herausgeber des Buches im Vorwort fest, dass Fulhames Arbeit längst nicht so bekannt sei, wie sie sein könnte oder sollte: „Der Stolz der Wissenschaft lehnte sich gegen den Gedanken auf, von einer Frau (‚a female‚) belehrt zu werden.“ Und auch Fulhame selbst gestand in der Einleitung ihres Textes, dass sie mit ihren Erkenntnissen auf Ablehnung gestoßen sei, aufgrund ihres Geschlechtes.

Doch Mißbilligung ist wohl unausweichlich: denn einige sind so dumm, dass sie mißmutig und still werden, und vom kalten Schauer des Schreckens erfasst werden, wenn sie etwas ansichtig werden, das sich auch nur einer Anmutung des Lernens nähert, in welcher Form dies auch auftrete; und sollte das Gespenst in der Form einer Frau erscheinen, die Stiche, unter denen sie leiden, sind wahrlich jämmerlich.“

übersetzt von Wikipedia

Fulhame war sich ihrer Rolle als Frau in der Wissenschaft durchaus auch bewusst; zwar hatte sie das Essay ursprünglich dafür niedergeschrieben, um mit ihren Entdeckungen und Erfindungen (zum metallischen Färben von Textilien) nicht plagiarisiert werden könnte. Doch ihr Werk sollte auch als ‚Leuchtturm für zukünftige Matrosen‘ dienen, womit weitere Frauen in der Wissenschaft gemeint waren.

Lavoisier konnte auf Fulhames Kritik an seinen Sauerstoff-Theorien nicht mehr reagieren: Sechs Monate vor der Veröffentlichung war er in der Französischen Revolution unter der Guillotine gestorben (begonnen hatte sein Abstieg wohl damit, dass er eine Abhandlung Marats über Verbrennungen kritisiert hatte). William Higgins, irischer Chemiker und ein weiterer Gegner der Phlogistontheorie, drückte sein Bedauern aus, dass sie seine Arbeiten nicht berücksichtigt hätte, in denen er die Rolle des Wassers bei der Entstehung von Rost beschrieben hatte. Doch hätte er ihr Buch mit großem Vergügen gelesen und wünsche innigst, dass ihrem löblichen Beispiel vom Rest ihres Geschlechtes gefolgt würde.

51/2019: Mutsumi Aoki, 16. Dezember 1959

Geboren in Saitama in Japan, lebt Mutsumi Aoki heute in Düsseldorf. Sie entwirft Skulpturen aus natürlichen Materialien wie Papier, Moos, Algen und Sand. Ein kleines Juwel moderner Kunst zum Jahresabschluss.

Google-Ergebnisse für Mutsumi Aoki 2018
Google-Ergebnisse für Mutsumi Aoki 2019

49/2019: Elfriede Lohse-Wächtler, 4. Dezember 1899

Elfriede Lohse-Wächtler kam in Dresden auf die Welt, sie wurde eigentlich auf den Namen Anna Frieda getauft, den Namen Elfriede wählte sie später selbst. Mit 16 Jahren zog sie aus dem Elternhaus aus und begann ihre dreijährige Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Dresden, zuerst im Fachbereich Mode, nach dem ersten Jahr wechselte sie jedoch in den Fachbereich Angewandte Graphik und nahm zusätzliche Zeichen- und Malkurse.

Sie wurde Mitglied der Dresdner Sezessions Gruppe 1919 und arbeitete als freie Künstlerin. Sie heiratete einen Maler und Opernsänger, mit dem es sie schließlich bis 1926 nach Hamburg verschlug. Auch dort wurde sie Teil mehrerer Künstlervereinigungen und sie war an verschiedenen Ausstellungen der Neuen Sachlichkeit beteiligt.

Ihre Ehe war unglücklich und der Verdienst als Künstlerin gering; unter den schwierigen Lebensumständen erlitt Lohse-Wächtler mit 30 Jahren einen Nervenzusammenbruch, mit dem sie in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg (heute Schön Klinik Hamburg Eilbek) eingeliefert wurde. Dort blieb sie zwei Monate, in ihrer Zeit dort zeichnete sie die Friedrichsberger Köpfe, eine Werkserie mit sechzig Bildern, darunter Selbstportraits und Portraits von anderen Patienten.

Als sie die Krise überwunden hatte, trennte sie sich endgültg von ihrem Mann und erreichte ihren Schaffenshöhepunkt. Sie malte Selbstbildnisse und Eindrücke ihrer Umgebung, der Hamburger Hafengegend mit ihrem Milieu.

Doch leben konnte sie von ihrer Kunst noch immer nicht und sie fand auch keinen sozialen Anschluss, weshalb sie 1931 zu ihren Eltern nach Dresden zurückkehrte. Ihre psychische Gesundheit verbesserte sich dadurch aber nicht, im Gegenteil: Im Folgejahr ließ ihr Vater sie in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Arnsdorf einweisen, wo sie mit Schizophrenie diagnostiziert wurde. Sie blieb die folgenden drei Jahre als Künstlerin tätig, doch 1935 beendeten die politischen Umstände ihre Karriere. Nachdem die Scheidung von ihrem Ehemann abgeschlossen war, wurde sie wegen „unheilbarer Geisteskrankheit“ für unmündig erklärt.

Im Jahr zuvor war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft getreten, das neben anderen die Eugenik des Nationalsozialismus gesetzlich legitimierte. Lohse-Wächtler verweigerte die Einwilligung zu ihrer Sterilisation, woraufhin ihr zunächst verboten wurde, die Pflegeanstalt zu verlassen. Im Dezember 1935 unterzog man sie auf Anweisung der Erbgesundheitsgerichte einer Zwangsterilisation. Mit diesem Eingriff in ihre Selbstbestimmung verlor Lohse-Wächtler völlig ihre kreative Energie, sie malte kein weiteres Bild mehr. Fünf Jahre lebte sie noch in der Pflegeanstalt in Arnsdorf, 1940 wurde sie dann, mit zahlreichen anderen Patienten dort, in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein deportiert.

Schon 1939 hatte der nationalsozialistische Staat die Vorbereitungen begonnen, die Ermordung psychisch Kranker – und der Menschen, die zu dieser Zeit als solche diagnostiziert wurden – zu planen. Unter solchen Euphemismen wie Aktion Gnadentod errichtete das medizinische System, unter Leitung des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti, eine Mordmaschinerie, in der insgesamt 200.000 Menschen getötet wurden. Heute ist die systematische Tötung von 70.000 Patienten von Heil- und Pflegeanstalten, in den Jahren 1940/41 unter dem Namen Aktion T4 bekannt, da sich die Zentraldienststelle der Aktion in der Tiergartenstraße 4 in Berlin befand.

Die Opfer von Aktion T4 wurden in ihren heimischen Einrichtungen erfasst und auf den Transport vorbereitet, von dort wurden sie mit Bussen zu Zwischenanstalten transportiert. Diese Zwischenstationen dienten der Verschleierung, denn nur bis dort durften Begleitpersonen mitreisen, außerdem waren sie eine Art Schleuse, um eine „Überlastung“ der Tötungsanstalten zu verhindern. Von dort aus fuhren die Patienten alleine weiter zur „Aufnahme“ in der letzten Station. Dort wurde ihnen ihre Kleidung genommen, sie wurden statistisch mit Größe und Gewicht erfasst und Ärzten vorgeführt, die sie auf gesundheitliche Merkmale hin untersuchten, etwa Narben vorangegangener Operation. Dies diente ebenfalls der Verschleierung des Massenmordes, denn bei dieser Untersuchung fanden die Ärzte Hinweise auf Erkrankungen, die als Todesursache vorgegeben werden konnten. Anschließend wurden die Opfer in Gruppen um die 30 Personen in die Gaskammern geführt, in denen Brauseköpfe weiterhin vortäuschten, dass sie für einen Aufenthalt gereinigt werden sollten. Über die Brauseköpfe wurde dann Kohlenmonoxid eingelassen.

Elfriede Lohse-Wächtler war eine von über 14.500 Menschen, die in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein ermordet wurde. Als offizielle Todesursache wurde „Lungenentzündung mit Herzmuskelschwäche“ eingetragen.

Ihre Kunst galt den Nationalsozialisten – wenig überraschend – als „entartete Kunst„, viele ihrer Werke wurden in beschlagnahmt und vernichtet. In den 1990ern erfuhr ihre Kunst eine erneute Anerkennung, 1997 drehte Heide Blum einen Dokumentarfilm über die Künstlerin. Im Sächsischen Krankenhaus in Arnsdorf wurde ihr zu Ehren eine Stele errichtet, auf dem ehemaligen Krankenhausgelände in Hamburg, in dem sie sich aufgehalten hatte, wurde 2004 ein Rosengarten mit einem Gedenkstein für sie errichtet.

47/2019: Marianne Breslauer, 20. November 1909

Marianne Breslauer begann mit 18 Jahren ihre Ausbildung als Fotografin an der Photographischen Lehranstalt Lettehaus, weil sie zwei Jahre zuvor eine Ausstellung der Riess besucht hatte und sich seither für diese neue Kunstrichtung begeisterte. Mit 20 schloss sie diese Ausbildung mit einer Gesellenprüfung (bzw. Gehilfenprüfung) ab; sie nahm im selben Jahr mit ihren Bildern an einer Ausstellung in Stuttgart teil und ging anschließend nach Paris.

Dort entwickelte sie sich von den festen handwerklichen Regeln der Portraitfotografie, die sie in ihrer Ausbildung erlernt hatte, weiter hin zu den innovativen Ideen des Neuen Sehens, auch der Impressionismus nahm Einfluss auf ihre Bilder. Über eine Freundin wurde sie kurzfristig Schülerin von Man Ray, doch der riet ihr, mit ihren Fähigkeiten ihren eigenen Weg, unabhängig von ihm, zu gehen.

Bei einer Anstellung in einem Berliner Fotoatelier erlernte sie die Entwicklung und Negativvergrößerung, bis in die 1930er Jahre konnte Breslauer ihre Bilder erfolgreich an diverse Zeitungen und Magazine verkaufen. 1931 erschloss sie sich mit einer Reise nach Palästina auch das Gebiet der Reisereportage, etwa mit Annemarie Schwarzenbach über die spanischen Pyrenäen. Doch Breslauers jüdische Herkunft wurde bei Veröffentlichungen in Deutschland zum Problem. Sie weigerte sich, ihre Bilder unter einem Pseudonym erscheinen zu lassen und ging 1933 schließlich, ohne festen Wohnsitz, ins Ausland. Erst 1936 ließ sie sich mit ihrem Ehemann, dem Kunsthändler Walter Feilchenfeldt, in Amsterdam nieder, die Fotografie gab sie auf zugunsten des Geschäfts, das sie mit ihrem Mann betrieb. Die beiden befanden sich mit ihrem neugeborenen ersten Sohn in der Schweiz, als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, und sie blieben dort in verhältnismäßiger Sicherheit. 1944 bekamen sie einen zweiten Sohn, nach Kriegsende gründeten sie ein Kunsthandelsunternehmen. Als Walter senior 1953 starb, übernahm Marianne Breslauer Feilchenfeldt das Geschäft zunächst alleine, sie wurde die erste Frau, die sich erfolgreich in dem (natürlich) männerdominierten Metier behauptete. Später stieg ihr ältester Sohn mit in das Unternehmen ein.

In den 1980er Jahren wurden Breslauers Arbeiten von der Kunstszene wiederentdeckt. Nachdem sie 2001 starb, ging ihr Nachlass an die Fotostiftung Schweiz; auf deren Seite findet sich auch eine ausführliche Biografie mit einigen Bildern. Zur Ausstellung Marianne Breslauer – Unbeachtete Momente, die die Berlinische Galerie 2010 zeigte, schrieb die Jüdische Allgemeine einen Bericht mit kritischer Perspektive.

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41/2019: Carolee Schneemann, 12. Oktober 1939

Die New Yorker Künstlerin Carolee Schneemann setzte sich schon im College mit der unterschiedlichen wechselseitigen Wahrnehmung des männlichen und weiblichen Körpers auseinander. Vor allem die unterschiedliche Wertung der weiblichen Eigenwahrnehmung und -betrachtung durchzieht als Thema ihre Werke: Wie der weibliche Körper als Objekt (männlicher) künstlerischer Betrachtung geschätzt, aber als Subjekt der (weiblichen) künstlerischen Wahrnehmung verpönt ist – diese Diskrepanz begegnete ihr in ihrer Ausbildung und wurde zu einem Thema ihres Schaffens. (In diesem Artikel vom Observer wird dieser Sexismus der Kunst anhand eines Memes sehr schön dargestellt; die darin erwähnte Analyse von John Berger – Ways of Seeing, Episode 2 – habe ich auch gefunden und empfehle die Sichtung!)

„Eine Malerin, die Leinwand verlassen habe, um den Raum der Gegenwart und gelebte Zeit zu aktivieren“ (Quelle: Wikipedia) nannte Schneemann sich selbst. Der Wikipedia-Eintrag ist ausführlich und lädt zu einer weiteren Beschäftigung mit ihrer Kunst (und der ihrer Kollaborateure und Beeinflusser) ein. Ich möchte mich auf nur vier Werke beschränken, die mich persönlich besonders interessieren oder berühren.

Fuses (explizit) ist eine filmische Collage, in der Schneemann Bilder ihrer selbst und ihres damaligen Partners James Tenney nackt und bei sexuellen Handlungen, in nicht-chronologischem Schnitt und mit künstlerischer, analoger Bildbearbeitung – immer wieder erscheint auch ihre Katze wie ein neutraler Beobachter des Gezeigten. Angestoßen zur filmischen Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper in der Kunst und beim Sex wurde Schneemann von Stan Brakhage und dessen Window Water Baby Moving (explizit), welcher künstlerisch bearbeitet eine Geburt zeigt. Mit Fuses setzte sich Schneemann mit der Frage auseinander, ob die Darstellung des eigenen sexuellen Aktes sich von Prongraphie und klassischer Kunst unterscheidet. Obwohl das Video nicht ausgesprochen „pornographisch“ ist, wurden ihr Zügellosigkeit und narzisstischer Exhibitionismus vorgeworfen. Schneemann selbst merkte an, dass die künstlerische Bearbeitung für viele Betrachter hinter dem expliziten sexuellen Inhalt zurücktritt.

Ein Malerei-Happening, bei dem sich Schneemann in ein Geschirr hängte, um sie umgebende Wände mit Wachsmalstiften zu bemalen, ist Up to and Including Her Limits. Auch hier die Beschäftigung mit den Begrenzungen und Beschränkungen des weiblichen Körpers in der Kunst.

Von Interior Scroll gab es zwei Ausgaben. Eine erste fand auf einer Kunstausstellung namens Women Here and Now statt, zu Ehren des Jahres der Frau der Vereinten Nationen 1975. Schneemann stand unbekleidet bis auf ein Tuch und eine Schürze auf einem Tisch und las aus ihrem Buch Cézanne, she was a great painter, während sie wechselnde Posen einnahm, wie sie in Übungsklassen zum Aktzeichnen üblich sind. Nachdem sie die Schürze ausgezogen hatte, zog sie eine fortlaufende Papierrolle aus ihrer Vagina, von der sie einen Text vorlas, der aus einem ihrer Experimentalfilme stammte. Sie wiederholte diese Performance zwei Jahre später auf einem Filmfestival, zu dem Brakhage sie eingeladen hatte, namens The Erotic Woman. Aus Protest gegen diesen eingrenzenden Titel verlas dieses Mal von der Papierrolle eine Unterhaltung mit einem ungenannt bleibenden Filmkritiker (welchen sie später als die Filmkritikerin Annette Michelson enttarnte), in welcher sie für ihre „weibliche“ Kunst kritisiert wird. Sie wollte mit dieser Performance „die unsichtbare, marginalisierte und zutiefst unterdrückte Geschichte der Vulva [physikalisieren], diese mächtige Quelle des orgasmischen Vergnügens, der Geburten, der Transformation, der Mesntruation, der Mutterschaft, um zu zeigen, dass sie kein toter, unsichtbarer Ort ist“. (Quelle: Hyperallergic.com, Forty Years of Carolee Schneemann’s „Interior Scroll“)

Eine Variation dieser Veräußerung des vaginalen Inneren ist übrigens Casey Jenkins‘ Casting Of My Womb.

Mit einem jüngeren Werk stieß Schneemann wiederum auf Sensibilität: Die Bilder von Terminal Velocity entstanden wenige Monate nach dem 11. September 2001. Schneemann scannte Zeitungsfotos von neun Menschen, die aus dem World Trade Center in den Tod sprangen, und zoomte mit digitaler Technik soweit in die Bilder, dass diese als Individuen in einer verzweifelten Situation begreifbar wurden. Kritik erntete sie dafür aufgrund der Möglichkeit, dass diese Personen auf den Bildern von ihren Angehörigen erkannt werden könnten und damit Leid verursacht würde.

Carolee Schneemann starb am 6. März dieses Jahres. Deutschlandfunk Kultur führte anlässlich ihres Todes ein Interview mit Sabine Breitwieser, die Schneemanns Kunst 2015 für das Museum der Moderne in Salzburg kuratierte.

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