Kategorie: Archäologie

38/2020: Ursula Franklin, 16. September 1921

Ursula Franklin kam als Ursula Martius in München zur Welt, als Tochter eines Ethnographen und einer Kunsthistorikerin; der Vater war Protestant, die Mutter Jüdin. Als Deutschland in Polen einmarschierte, versuchten ihre Eltern, sie auf eine englische Schule zu senden, doch es fehlten ihr wenige Tage für zum notwenigen Alter von 18 Jahren, um ein Studentenvisum zu erhalten. Ursula ging stattdessen 1940 nach Berlin, um an der Universität Berlin Physik und Chemie zu studieren. Sie sollte später einmal sagen, dass sie sich für diese Fächer entschied, weil es ihr eine ’suberversive Freude‘ bereitete: „Kein Wort der Autorität konnte die Gesetze der Physik oder die Abläufe der Mathematik verändern“. (Quelle: Wiki Englisch) 1942 wurde sie jedoch als ‚Halbjüdin‚ zwangsexmatrikuliert und in ein Arbeitserziehungslager verbracht, in dem sie dazu eingesetzt wurde, zerbombte Häuser wieder aufzubauen. Ihre Eltern wurden beide in Konzentrationslager deportiert. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Familie in Berlin wiedervereint.

Ursula Martius kritisierte bald nach Kriegsende bereits den zweifelhaften Umgang der deutschen Gesellschaft mit dem Faschismus. Sie schrieb 1946 an Otto Hahn über die deutschen Physikerkollegen: „Was die Leute aufbauen, es wird immer eine Kaserne, eine Kaserne, in der ich nicht sehr große Lust habe, zu leben.“ (Quelle: Wiki Deutsch) Im kommenden Jahr griff sie in einem Artikel in der Deutschen Rundschau die Deutsche Physikalische Gesellschaft dafür an, mit den Mitgliedern, die offen und zu ihrem Vorteil Nationalsozialisten waren, nachsichtig zu sein: „Menschen, die mir immer noch in meinen Angstträumen erscheinen, saßen da lebendig und unverändert in den ersten Reihen.“ (Quelle: Quelle: „Physiker zwischen Autonomie und Anpassung: Die Deutsche Physikalische Gesellschaft im Dritten Reich“) Sie nannte neben Hans Otto Kneser, mit dem sie möglicherweise selbst bei ihrer Zwangsexmatrikulierung zu tun hatte, auch Pascual Jordan, Herbert Arthur Stuart und Erich Schumann. Während die DPG darüber diskutierte und abwiegelnd reagierte, machte Ursula Martius ihren Doktortitel in Experimentalphysik an der Technischen Universität Berlin bei Hartmut Kallmann, der selbst von der Judenverfolgung betroffen gewesen war. Sie suchte verständlicherweise nach Möglichkeiten für eine Emigration aus Deutschland, dass sie sowohl im Dritten Reich wie auch in seinem anschließenden apologetischen Umgang mit den verbleibenden Nationalsozialisten enttäuscht hatte. Als sie 1949 eine Postdoktorand:innen-Stelle an der University of Toronto antreten konnte, verließ sie ihr Geburtsland für immer.

Sie heiratete Fred Franklin, der ebenfalls in Deutschland als Jude verfolgt worden war und im Exil in England mit dem Quäkertum in Berührung gekommen war. Gemeinsam mit ihm sollte sie später, auf der Suche nach einer spirituellen Heimat für ihre Familie, ganz zum Quäkertum konvertieren.

Im Jahr ihrer Eheschließung, 1952, begann sie bei der Ontario Research Foundation zu arbeiten, zunächst als Forschungsstipendiatin, später als leitende Wissenschaftlerin. Sie wurde zur Spezialistin für Archäometrie, also der Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden zur Klärung von archäologischen Fragen. Zum Beispiel fand Franklin mit Hilfe physikalischer Analysemethoden heraus, dass das schwarze Eisenoxid auf prähistorischen, chinesischen Bronze-Fundstücken kein zufälliges Ergebnis war, sondern mit Absicht auf die „Schwarzen Spiegel“ aufgetragen worden war. Auch die Altersermittlung von Glas gehörte zu ihrer Expertise, so leitete sie eine Studie zu Überresten von Glasperlen, die zur Bezahlung unter anderem im Sklavenhandel verwendet wurden (Link Englisch).

1967 wurde sie an der University of Toronto die erste außerordentliche Professorin für den Fachbereich Metallurgie und Materialwissenschaft. Sechs Jahre später wurde sie volle Professorin. In den 1970er Jahren saß sie einer Studie vor, die die Möglichkeiten des Ressourcenerhalts und des Naturschutzes untersuchte – ihre Arbeit daran lag ihrer späteren Philosophie der Technik zugrunde.

Franklin war auch politisch aktiv, unter anderem in der Organistation Voice of Women (heute Canadian Voice of Women for Peace, Link Englisch). Durch diese war sie an der Baby Tooth Survey (Link Englisch) beteiligt, einer Studie, die anhand der Untersuchung von Milchzähnen menschlicher Kinder die Auswirkungen von Kernwaffenttests untersuchte. Mit Postern in Klassenzimmern wurden Grundschulkinder aufgefordert, ihre ausgefallenen Milchzähne an die Studienausführenden zu senden, dafür bekamen sie einen Anstecker. Schon früh im Laufe der Studie konnten in den Zähnen erhöhte Strontium-90-Werte festgestellt werden; später zeigte die Studie, dass die Milchzähne von Kindern aus dem Jahr 1963 fünfzig Mal mehr Strontium-90 angesammelt hatten als die von Kindern aus den 1950er Jahren. Eine radioaktive Belastung dieser Generation war damit eindeutig nachgewiesen. Die Studie trug dazu bei, die überirdischen Kernwaffentests der USA zu beenden (damit ist Ursula Franklin im Übrigen „Kollegin“ von Katsuko Saruhashi).

Ihre politische Arbeit stand stets im Zeichen feministischen Pazifismus. In den 1980er Jahren nahm sie an einer Kampagne teil, die von der kanadischen Regierung für Kriegsdienstverweigerer das Recht forderte, Einfluss auf die Verwendung der von ihnen gezahlten Steuern zu nehmen – dass diese also nicht für militärische, sondern nur für friedliche Zwecke ausgegeben würden. Die Kampagne wurde leider nicht vom Obersten Gerichtshof angehört und scheiterte. Nachdem sie 1987 emeritierte, schloss sie sich mit einigen anderen weiblichen Fakultätsmitgleidern im Ruhestand zusammen und verklagte die University of Toronto auf Schadensersatz: Die Universität habe sich bereichert, indem sie Frauen mit gleicher Qualifikation wie ihre männlichen Kollegen schlechter bezahlt habe. Im Jahr 2002 erkannte die Universität ihre Schuld an und zahlte an etwa 60 Frauen Ausgleichszahlungen.

Sie blieb auch im akademischen Ruhestand philosophisch und politisch tätig. In einem Artikel On Theology and Peace (Über Theoligie und Frieden) von 1987 schrieb sie: „Frieden ist nicht die Abwesenheit von Krieg, Frieden ist die Abwesenheit von Angst.“ (‚Peace is not the absence of war, peace is the absence of fear‚, Quelle: Wiki Englisch; ein fundamental anderer Ansatz als Ronald Reagans Peace is not the absence of conflict, but the ability to cope with conflict by peaceful means, der vom Konflikt als gegeben ausgeht.) Diese Angst, die den Frieden stört, sei nicht nur Angst vor Krieg und Gewalt, sondern auch die Angst, die durch wirtschaftliche Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und drohender Obdachlosigkeit entsteht. Über diese Ängste steuere das, was Franklin als ‚das Bedrohungssytem‘ bezeichnet, die Menschen, indem es gerade wirtschaftliche Unsicherheit und Angst schüre. Frieden, also die Freiheit von Angst, sei laut Franklin allein durch soziale Gerechtigkeit zu erreichen, die Gleichberechtigung/Gleichheit (equality) für alle bringe. Sie deutet an, dass in einer Gesellschaft, die am Konsum orientiert ist, Krieg und Gewalt das unausweichliche Resultat eines raffgierigen Lebensstil seien, der Fürsorge und soziale Gerechtigkeit ablehne.

Nachdem sie 1989 die Massey-Vorträge an der University of Toronto gehalten hatte, veröffentlichte sie 1992 das Buch The Real World of Technology (Link: Goodreads), das auf ihren Vorträgen basierte.

In einem lesenwerten Brief an eine Studentin (PDF zum Download auf Englisch) spricht sie 1993 über die Möglichkeit – und die Dringlichkeit –, als Feministin eine wissenschaftliche Karriere zu verfolgen. Sie führt das Beispiel der Anitbabypille an, deren gesundheitliche ‚Nebenwirkungen‘ verharmlost würden, weil sie Frauen betreffen, und zitiert ihre Kollegin Margaret Benston (Link Englisch): „Als Frauen und als Feministinnen müssen wir anfangen, mit der Wissenschaft und der Technologie umzugehen, die unser Leben und sogar unsere Körper bestimmt. Wir sind die Objekte schlechter Wissenschaft gewesen; jetzt müssen wir die Erschaffer einer neuen sein.“ (übersetzt nach Quelle: Canadian Woman Studies)

Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 unterstrich Ursula Franklin ihre bereits zuvor geäußerte Meinung, dass Krieg und Gewalt nicht nur moralisch falsch sind, sondern auch nicht zielführend, noch dazu unpraktisch und teuer: „Krieg funktioniert nicht, nicht einmal für die Krieger.“ (übersetzt nach Quelle: Wiki Englisch) Gewalt habe in den vergangenen 50 Jahren nichts gelöst. Zum ersten Jahrestag der Anschläge schrieb sie, es wäre hilfreicher gewesen, 9/11 nicht als kriegerischen Akt, sondern als ‚politisches Erdbeben‘ zu betrachten, denn soziale und politische Strukturen seien nun mal so instabil wie geologische. „Geologische Brüche und menschliche Terroristen entstehen in einem Zusammenspiel der Kräfte, die verstanden und – manchmal – gemildert werden können. Beide können nicht durch Bomben verhindert werden.“ (übersetzt nach Quelle: Wiki Englisch) Für ihre Friedensarbeit wurde ihr 2001 die Pearson Medal of Peace verliehen (überreicht: 2002).

2006 kam The Ursula Franklin Reader: Pacifism as a Map heraus, eine Sammlung ihrer Texte, in denen sie sich der Möglichkeit einer friedlichen Gesellschaft nähert, insbesondere beeinflusst von ihrer Überzeugung vom Quäkertum. Im Clip unten spricht sie darüber.

3D Dialogue: Jesse Hirsch im Gespräch mit Ursula Frnaklin über Pacifism as a Map (Englisch)

In einem Text im Reader spricht sie etwa über die Globalisierung, die sie nicht für eine friedliche Lösung hielt, sondern für eine Verlagerung der bestehenden Konflikte in andere gesellschaftliche Bereiche. Das Ende des Kalten Krieges habe gewaltvolle Auseinandersetzungen regional auf kleinere Staaten verlagert, gleichzeitig sei der politische Konflikt durch den wirtschaftlichen Konflikt ersetzt worden. Der neue Feind dieses Konflikt sei jede:r, di_er die Werte der Gemeinschaft schätze über den materiellen Werten: „Was immer nicht ge- oder verkauft werden kann, was immer nicht in Geld oder Gewinn-Verlust-Rechnungen ausgedrückt werden kann, steht dem ‚Markt‘ als Feindesland im Weg und muss besetzt, verändert und bezwungen werden.“ (übersetzt nach Quelle: Wiki Englisch) Wer dagegen Widerstand leisten wolle, müsse sich der Sprache des Besatzers widersetzen und Begriffe wie stakeholder, Nutzer, Gesundheitsdienstleister, Bildungsdienstleister ablehnen, wenn von Lehrenden, Pflegenden, Heilenden die Rede sei. Auch die kreative Nutzung elektronischer Medien sei wichtig, um die Informationskontrolle der Besatzungsmacht zu umgehen.

Im April 2013 spendete Franklin ihre Schriftensammlung von insgesamt 220 Texten, die sich aus westlicher Perpsektive mit der chinesischen Kultur befassten, an das Konfuzius-Institut des Seneca College Toronto. Drei Jahre später, am 22. Juli 2016, starb Ursula Franklin mit 94 Jahren.

So sehr mich die Fülle des englischen Wikipedia-Eintrags zu Ursula Franklin beglückt hat und so begeistert ich von ihren Zitaten und Gedanken war, so schwierig fand ich die zeitliche Einordnung dieser Gedanken – der deutsche Beitrag geht auf ihre Technikphilosophie nur mit einem Satz ein, der englische Beitrag stellt die Inhalte ihrer Philosophie hingegen losgelöst von ihrer Biografie vor. Auch die oben aufgeführten Inhalte zu Pazifismus und Feminismus mehr inhaltlich denn chronologisch gegliedert. Dennoch empfehle ich die Lektüre des englischen Beitrags, weil er recht ausführlich auf ihre Thesen eingeht. Ich hätte ihre Philosophie gerne eingehender vorgestellt, nicht nur, weil sie faszinierende Gedankengänge beinhaltete, sondern auch, weil sie mir aktueller denn je erscheint. Möglicherweise werde ich mir die Übersetzung des englischen Beitrags für die deutsche Wikipedia auf den Zettel schreiben.

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Ebenfalls diese Woche

17. September 1888: Michiyo Tsujimura (Link Englisch)
Mit ihrer biochemische Analyse des Grünen Tees erlangte die Japanerin als erste Frau ihres Landes einen Doktortitel in Agrarwissenschaft.

19. September 1915: Elizabeth Stern (Link Englisch)
Die kanadische Pathologin lieferte entscheidende Erkenntnisse über die Zusammenhänge von Zelldysplasie und späteren Krebserkrankungen, insbesondere der Gebärmutter. Ihr verdanken wir, dass Gebärmutterkrebs nicht mehr mit SIcherheit tödlich endet, sondern ein Risiko früh erkannt und der Krebs erfolgreich behandelt werden kann. Auch den Einfluss der Hormonmenge in frühen Verhütungspillen erkannte sie.

25/2020: Muazzez İlmiye Çığ, 20. Juni 1914

Die Eltern von Muazzez İlmiye Çığ stammten beide aus Familien von Krimtataren, die in die Türkei ausgewandert waren; die Familie ihres Vaters lebte in Merzifon, die ihrer Mutter in Bursa, wo auch Muazzez İlmiye zur Welt kam. Einige Wochen nach ihrer Geburt begann der Erste Weltkrieg, und als das Osmanische Reich an dessen Ende aufgeteilt wurde und griechische Truppen einmarschierten, flohen Muazzez‘ Eltern mit ihr zunächst nach Izmir, später nach Çorum.

Nachdem sie dort die Grundschule abgeschlossen hatte, bestand sie mit 12 Jahren die Aufnahmeprüfung einer Schule für angehende Lehrerinnen in Bursa; nach fünf Jahren machte sie dort ihren Abschluss. Danach erhielt sie eine Anstellung als Lehrerin in Eskişehir, wo auch ihr Vater arbeitete, später kehrte sie nach Bursa zurück.

Im Rahmen seiner Reformen hatte Mustafa Kemal Atatürk an der Universtiät Ankara eine Fakultät für Sprache, Geschichte und Geografie (der Türkei?) gegründet, an der ausdrücklich auch weibliche Studentinnen erwünscht waren. İlmiye bewarb sich 1938 und wurde für den Studiengang der Altertumswissenschaft angenommen. Ihre Professoren in diesem Fachbereich waren unter anderem Hans Gustav Güterbock und Benno Landsberger, beides deutsche Juden, die vor dem Faschismus in die Türkei geflohen waren. Neben Sumerologie studierte Muazzez İlmiye auch Hethitologie und Deutsch, das Studium schloss sie 1940 ab. Im gleichen Jahr heiratete sie Kemal Çığ, den Direktor des Topkapi Museums in Istanbul, wo Muazzez İlmiye Çığ am Archäologischen Museum eine Aufgabe für die weiteren Jahrzehnte fand. 75.000 sumerische Tontafeln in Keilschrift lagerten in den Beständen des Museums, bis dahin noch nicht übersetzt oder eingeordnet. Gemeinsam mit Samuel Noah Kramer restaurierte und übersetzte sie die Tontafeln und veröffentlichte die Ergebnisse. Im Laufe der Jahre wurde dank ihrer Arbeit das Museum zu einem Lehrzentrum für die Sprachen des Nahen Ostens.

Mit 92 Jahren erlangte die Sumerologin weltweite Öffentlichkeit, nachdem sie in ihrem Buch ‚Fruchtbarkeitskulte und Heilige Prostitution‘ (Bereket Kültü ve Mabet Fahişeliği/Cult of Fertility and Holy Prostitution) die These aufgestellt hatte, dass das Kopftuch im Islam – oft als Zeichen von Keuschheit und Züchtigkeit gewertet – möglicherweise auf den Kopfschmuck sumerischer Tempelhuren zurückginge (deren Existenz inzwischen allerdings grundsätzlich angezweifelt wird). Sie wurde daraufhin der Beleidigung des Islam angeklagt, jedoch freigesprochen, was internationale Beachtung fand.

In diesem Interview vom 13. Mai 2020 erscheint die inzwischen 106-jährige noch sehr kregel, leider ist es nur in türkischer Sprache ohne deutsche Untertitel verfügbar.

TEDxtalks: Gespräch mit Muazzez İlmiye Çığ im Mai 2020

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Ebenfalls diese Woche

16. Juni 1902: Barbara McClintock
Die amerikanische Zytogenetikerin entdeckte die „springenden Gene“ im Mais und gewann dafür als dritte Frau – nach dreimaliger Nominierung – endlich 1983 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin.

20. Juni 1919: Isabella Abbott (Link Englisch)
Als erste Kanaka Maoli mit einem Doktortitel in Naturwissenschaft wurde die Ethnobotanikerin eine Expertin für die Algen im Pazifik.

21. Juni 1927: Ye Shuhua (Link Englisch)
In den 1960er Jahren gelang der chinesischen Astronomin eine der präzisesten Messung der Universal Time.

Titia Brongersma

* ca. 1648-50 • † ca. 1687-1700

Titia Brongersma war nicht eigentlich in dem Bereich tätig, für den sie hier erscheint. Die Tochter eines friesischen Chirurgen unternahm allerdings zum Pfingstfest 1685 die Ausgrabung eines Hünengrabes bei Borger.

Gemeinhin galt auch zu dieser Zeit noch die Annahme, dass es sich bei den offensichtlich absichtlich gestalteten Steinformationen um das Werk von Riesen handelte. In ihrem Gedichtband, den Brongersma ein Jahr später veröffentlichte, lässt das Gedicht über diese Ausgrabung darauf schließen, dass sie dass Grab für einen Tempel hielt, den die prähistorischen Menschen der Natur gewidmet hatten. Für die Initiative, das Großsteingrab wissenschaftlich zu untersuchen, gilt Brongersma als Pionierin der prähistorischen Archäologie.

11/2020: Lady Hester Stanhope, 12. März 1776

frauenfiguren lady hester stanhope
Lady Hester Stanhope on horseback from her memoirs, as related by herself in conversations with her physician [C.L. Meryon]; comprising her opinions and anecdotes of some of the most remarkable persons of her time Rare Books Keywords: Hester Lucy Stanhope By Wellcomeimages.org Gallery: Wellcome Collection gallery (2018-03-30): CC-BY-4.0, CC BY 4.0

Lady Hester Stanhope kam als ältestes Kind des 3. Earl of Stanhope, Charles Stanhope, und seiner ersten Frau, der Viscountess Lady Hester Pitt (Link Englisch), in England auf die Welt. Ihre leibliche Mutter bekam noch zwei Töchter, doch nach der Geburt des dritten Kindes starb Hester Stanhope 24-jährig an einem Fieber. Im Jahr darauf heiratete Charles Stanhope Louisa Grenville (Link Englisch), die Cousine seiner ersten Frau, die in den folgenden Jahren drei Söhne gebar.

Mit 14 wurde sie ans andere Ende des Landes (von Kent nach Somerset) geschickt, um bei ihrer Großmutter mütterlicherseits Hester Pitt, Countess of Catham, zu leben. Drei Jahre später zog sie zu ihrem Onkel mütterlicherseits, William Pitt der Jüngere. Für ihn war sie als Haushaltsvorsteherin und Gastgeberin tätig, da er als Premierminister soziale Verpflichtungen hatte, aber keine Ehefrau, die diese übernehmen konnte. In dieser Funktion wurde sie für ihre Schönheit ebenso wie für ihre Konversationsführung gerühmt. Nachdem William Pitt von seinem Amt als Premierminister zurückgetreten war, diente Lady Hester im noch bis zu seinem Tod (am Durchbruch eines Magengeschwürs) als Privatsekretärin.

Die englische Regierung gestand ihr als Hinterbliebene des ehemaligen Premierministers eine Pension von jährlich 1.200£ zu. Sie verblieb nach dem Tode Pitts 1806 noch einige Zeit in London und zog dann nach Wales. 1809 starb bei der Schlacht bei La Coruña wohl nicht nur ihr Halbbruder, sondern auch John Moore, mit dem sie möglicherweise Heiratspläne gehabt hatte. (Dies entnehme ich dem englischen Wikipedia-Beitrag über Lady Hester Stanhope, den ich aus diversen Gründen lieber als den deutschen empfehlen möchte.) Dieser soll jedenfalls in seinen letzten Momenten zu Charles Banks Stanhope gesagt haben, er möge seine Schwester an ihn erinnern.

So schiffte sich Lady Hester Stanhope 1810, in Begleitung ihrer Zofe, ihres Leibarztes Charles Lewis Meryon, der ihre Memoiren schrieb, und des Abenteurers Michael Bruce (Link Englisch), der ihr Liebhaber wurde, in Richtung Athen ein. In Athen soll Lord Byron ins Meer gesprungen sein, um ihr entgegenzuschwimmen. Von dort reiste die Gruppe nach Konstantinopel und wollte weiter nach Kairo, das sich inzwischen von NapoleonsÄgyptischer Expidition“ erholt hatte. Doch auf dem Weg dorthin geriet ihr Schiff in einen Sturm und kenterte, die Schiffbrüchigen wurden auf der damals osmanischen Insel Rhodos angespült. Da ihr Hab und Gut im Mittelmeer versunken war, mussten sich die Reisenden Kleidung leihen. Lady Hester Stanhope weigerte sich, den Schleier einer osmanischen Frau anzulegen, und wählte stattdessen die Bekleidung eines Mannes, mit Turban, Kaftan und Pantoffeln. Auf der Weiterreise auf einer britischen Fregatte erstand sie die gesamte Ausstattung eines orientalischen Mannes: Einen samtenen Kaftan, eine bestickte Hose, Weste und Jacke, einen Sattel und einen Säbel. So ausstaffiert, schaffte sie es in Kairo bis vor den Pascha. In folgenden zwei Jahren bereiste sie – stets als Mann gekleidet – durch den Mittleren Osten.

Eine Wahrsagerin sagte ihr, dass sie dazu geboren sei, der neue Messias zu werden, daraufhin trat sie mit einem Heiratsangebot an den Imam der Wahhabiten, Saud I. ibn Abd al-Aziz, heran. Nachdem er abgelehnt hatte, beschloss sie, als erste westliche Frau Palmyra zu betreten, und setzte diesen Plan auch in die Tat um, trotz der feindlich gestimmten Beduinen, die in der Wüste um die Oasenstadt herrschten. Sie kleidete sich wie einer von ihnen und reiste mit 22 Kamelen an, vom Emir Mahannah el Fadel (Link Englisch) wurde sie als Königin Hester empfangen.

Zu einem unbestimmten Zeitpunkt kam Stanhope in den Besitz eines mittelalterlichen italienischen Manuskriptes, aus dem Fundus eines alten Klosters in Syrien. Demzufolge solle sich unter den Ruinen einer Moschee in Aschkelon ein großer Schatz befinden, der dort seit 600 Jahren verborgen läge. 1815 überzeugte Stanhope die ottomanische Verwaltung davon, sie dort nachforschen zu lassen, der Gouverneur von Jaffa, Muhammad Abu Nabbat (Link Englisch), wurde zu ihrer Begleitung abgestellt. Dies sollte die erste archäologische Ausgrabung in Palästina werden, was Lady Hester Stanhope zu einer Pionierin auf diesem Gebiet machte. Nach Meryons Aufzeichnungen hielten sie dabei auch stratigrafische Erkenntnisse fest, eine für die Zeit ungewöhnliche Vorgehensweise, wurden doch andernorts nur die Menge und der Reichtum einzelner Funde und nicht ihre Verortung in einer Chronologie festgehalten und ausgelobt.

Statt eines reichen Goldschatzes fand Stanhope jedoch eine zwei Meter hohe, kopflose Marmorstatue, wohl aus der grecoromanischen Zeit. Aus politischen Gründen ließ Stanhope diese Statue in tausend Stücke zerschlagen und im Mittelmeer versenken: Sie wollte dem ottomanischen Sultan damit beweisen, dass sie diese Ausgrabung nicht getätigt hatte, um ihrem Heimatland archäolgische Funde zukommen zu lassen. Gefundenes Gold hätte sie dem Sultan als ihm zustehenden Schatz ausgeliefert. Auch wenn sie bei der Ausgrabung methodisch vorging und der Fund der Statue detailliert dokumentiert wurde, zerstörte sie doch ein historisches Relikt, welches ihr Biograf Meryon für das Abbild eines vergöttlichten Königs, möglicherweise gar Alexander des Großen oder Herodes‚, hielt. Strategisch umsichtig, wissenschaftlich jedoch schwer verzeihlich. Nichtsdestotrotz gilt Lady Hester Stanhope mit dieser Ausgrabung den Weg bereiten für weitere archäologische Forschungen im Heiligen Land.

Anschließend ließ sich Stanhope im Gebiet des heutigen Libanon nieder, zunächst in einem alten Kloster in der Nähe von Jezzine. Für einige Zeit lebten ihre Zofe und ihr Leibarzt Meryon dort mit ihr, doch ihre Zofe starb 1828, drei Jahre später verließ Meryon sie und kehrte nur einmal für ein Jahr zurück. Als er ihr zum zweiten und letzten Mal den Rücken kehrte, zog sie in ein anderes verfallenes Kloster in der Nähe von Joun (Link Englisch), das sie für seine günstige Lage auf einem Hügel schätzte, von welchem aus sie herannahende Fremde von allen Seiten früzeitig entdecken konnte. Ihre Residenz wurde bei den Dorfbewohnern bekannt als Deir el-Sitt (Brunnen der Herrin). Der im Gebiet herrschende Emir Bashir Shihab II (Link Englisch) begrüßte ihre Anwesenheit zunächst, doch mit den Jahren erlangte Stanhope in der Region um ihre Residenz eine Form der Herrschaft, die ihm durchaus unbequem war, außerdem mischte sie sich in die Uneinigkeiten zwischen den Drusenklans untereinander und dem ottomanischen Reich ein, indem sie einigen Gruppierungen in ihrer Residenz Zuflucht gewährte. Ihr Einfluss in dem Gebiet war soagr so groß, dass Ibrahim Pascha, ein osmanisch-ägyptischer General, sie um Neutralität ersuchte, als er in Syrien einmarschierte.

Lady Hester Stanhope war wohl nicht nur eine charismatische Person, die Menschen glaubten auch, sie könne die Zukunft vorhersagen; sie stand in schriftlichem Kontakt mit zahlreichen einflussreichen Persönlichkeiten und die Menschen in ihrer britischen Heimat verfolgten Berichte und Erzählungen von ihr mit Spannung. Schließlich häufte sie jedoch Schulden an, die sie versuchte mit ihrer Pension der englischen Regierung abzubezahlen. Nach und nach zog sie sich von der Öffentlichkeit zurück, ihre Bediensteten bestohlen und verließen sie; sie litt höchstwahrscheinlich an Depressionen und verlor den Überblick über ihren Haushalt. Möglicherweise wurde sie auch sehr früh senil. In jedem Fall empfing sie Besucher am Ende ihres Lebens nur noch in der Dunkelheit und ließ sie auch dann nur ihre Hände und ihr Gesicht unter einem Turban auf dem rasierten Kopf sehen. 1839 starb sie allein und verarmt. Als der englische Konsul anlässlich der Nachricht ihres Todes aus Beirut nach Deir el-Sitt kam, soll er sie nackt bis auf ihren Schmuck vorgefunden und unter Maulbeer-Feigen beerdigt haben.

Es lohnt sich in ihrem Fall, die Beiträge der englischen und der deutschen Wikipedia zu vergleichen. Die Perspektive auf diese ungewöhnliche Frau könnte unterschiedlicher nicht sein, in der Schilderung (und Auslassung) der entscheidenden Punkte ihres Lebens und in der augenfälligen Wortwahl.

Zu ihrem 240. Geburtstag sendete der WDR einen 15-minütigen Beitrag über die Abenteurerin (verfügbar bis 10.03.2026).

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Ebenfalls diese Woche

9. März 1903: Hertha Wambacher
Die österreichische Physikerin entdeckte gemeinsam mit ihrer Kollegin Marietta Blau „Zertrümmerungssterne“ auf Photoplatten, die auf 2.300m Seehöhe kosmischer Strahlung ausgesetzt waren, sternförmige Teilchenbahnspuren von Kernreaktionen, wenn Teile der kosmischen Strahlung auf die photografische Emulsion trafen.
Während ihre jüdische Kollegin Blau wegen des Anschlusses Österreichs 1938 nach Oslo auswandern musste, was einen tiefen Schnitt für ihre wissenschaftliche Karriere bedeutete, war Wambacher seit 1934 Mitglied der NSDAP.

Hatschepsut

ca. 1495 – 14. Januar 1457 v. Chr.

Hatschepsut war – wie bei den Regierenden des Alten Ägypten üblich – Halbschwester und Ehefrau des Pharaos Thutmosis II.; beide waren Kinder des Thutmosis I., doch Thutmosis II. wurde von ihm mit einer Nebenfrau gezeugt, während Hatschepsut Tochter der ersten Ehefrau Ahmose war (Thutmosis I. hatte tatsächlich nur durch die Eheschließung mit ihr, einer Tochter eines Pharaos, die Legitimation als Herrscher erhalten). Hatschepsut jedoch berief sich auch auf eine göttliche Herkunft ähnlich der griechischen Halbgötter, nämlich dass Amun-Re in Gestalt des Thutmosis I. zu ihrer Mutter gekommen sei und sie gezeugt habe. Thutmosis II. starb jung, im Jahr 1479 v. Chr. mit 20bis 30 Jahren. Der gemeinsame Sohn Thutmosis III. war zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind, die Forschung ist sich nicht einig, ob etwa 3 bis 4 Jahre oder bereits 7 Jahre alt. Hatschepsut nahm daher für ihn den Pharaonenthron ein und regierte 21 oder 22 Jahre erfolgreich. 1457 v. Chr. starb sie mit etwa 35 Jahren eines natürlichen Todes (mögliche Ursachen könnten Krebs oder Diabetes gewesen sein).

Die Erinnerungen an Hatschepsut als Pharao – ihre Namenskartusche auf Reliefs und Statuen – wurden irgendwann in der Folgezeit zu großen Teilen zerstört; ihr Sohn war zunächst im Verdacht, ihm wurde ein Groll gegen seine Stiefmutter unterstellt, weil sie so lange statt seiner geherrscht habe. Da die Zerstörungen inzwischen aber genauer datiert werden konnten und jüngeren Datums sind, wird derzeit angenommen, dass ein späterer Regent die Erinnerung an eine weibliche Pharao, noch dazu mit derartigen Errungschaften, wie sie Hatschepsut zu verzeichnen hat, nicht ertragen konnte. (Dieses Phänomen nennt sich Damnatio memoriae, wie ich just lerne.)

Auf dem Zeitstrahl der Frauen in der Wissenschaft hat Hatschepsut einen Platz als erste Initiatiorin einer botanischen Expedition. In ihrem neunten Regierungsjahr entsandte sie ihren Schatzmeister mit Gefolgschaft nach Punt – einem an Boden- und pflanzlichen Schätzen reichen Land, von dem heute nicht sicher ist, wo es genau lag. Wahrscheinlich östlich von Ägypten am Meer, die heutigen Erkenntnisse über die Einwohner Punts beschränken sich darauf, dass sie nach ihren Frisuren und Kleidern zu urteilen in drei Bevölkerungsgruppen geteilt waren und in Pfahlbauten lebten. Hatschepsuts Expeditionsgruppe kehrte vor allem mit Myrrhe, Zedern, Weihrauch und Ebenholz nach Ägypten zurück; an der Wand einer Pfeilerhalle in Hatschepsuts Totentempel ist die Expedition raumgreifend dargestellt.

Auf diesem Relief ist auch Ati, die Königin des Landes Punt dargestellt, deren Körperform auf den Bildern, so die englische Wikipedia, „verhältnismäßig groß und großzügig proportioniert, mit großen Brüsten und Speckrollen am Körper“ ist. Aufgrund dieser Bilder wird von manchen angenommen, dass sie eine Steatopygie hatte. Nun ist schon der deutsche Begriff dafür, „Fettsteiß“, unschön, die Annahme, dass es sich um etwas pathologisches oder abnormes handelt, noch mehr. Interessant bei der Suche nach einem Bild der afrikanischen Königin fand ich bei academia.edu die Synopsis einer Arbeit, die Ati „ent-hottentottisieren“ möchte. Außerdem auch noch einen Blogbeitrag, der die Lage Punts etwas enger einzugrenzen behauptet.

Merit-Ptah und Peseschet

zwischen 2.700 und 2.400 v. C.

Merit-Ptah und Peseschet galten als die ersten Ärztinnen der Geschichte. Von Merit-Ptah sollen im Tal der Könige Bilder zu finden sein, deren Inschrift sie als „Vorsteherin über die Ärzte“ bezeichnen. Allerdings scheint es, dass sie mit einer anderen Ärztin aus einer späteren Zeit, nämlich Peseschet, verwechselt bzw. zusammengeworfen wurde. Während diese mit Sicherheit existierte, ist auch bei ihr nicht gesichert, dass der Titel „Vorsteherin über die Ärzte“ auf ihre eigene medizinische Tätigkeit hinweist. Wahrscheinlich ist hingegen, dass sie zumindest Hebammen unterrichtete.

Dieser Artikel von Wolfram Grajetzki im Ancient Egypt Magazine von 2019 legt die ganze wissenschaftliche Ungenauigkeit und sich selbst fortschreibende Verwechslungskomödie dar. Wobei im Eifer über unzuverlässige und ideologisierte Quellen nicht vergessen sein sollte, dass nur die Existenz von Merit-Ptah in Frage steht. Dass es Peseschet dreihundert Jahre später tatsächlich gab, bleibt Tatsache und dieser Artikel bei Ancient History Encyclopedia von 2017 – der auch Merit-Ptah als Fakt voraussetzt, aber ansonsten seriös und gut recherchiert scheint – erörtert einige Gründe, warum die Annahme, dass es weibliche Medizinerinnen im Alten Ägypten gab, nicht unwahrscheinlich ist.

4/2019: Tatiana Avenirovna Proskouriakoff, 23. Januar 1909

Tatiana Avenirovna Proskouriakoff war sechs Jahre alt, als sie mit ihren Eltern, einem Chemiker und einer Ärztin, aus Russland in die USA übersiedelte; ihr Vater war vom Zar beauftragt, die Munitionsproduktion beim Alliierten im Ersten Weltkrieg zu überwachen. Nach der Russischen Revolution 1917 war es der Familie unmöglich, in ihre Heimat zurückzukehren, und Tatiana wuchs als amerikanische Staatsbürgerin an der Ostküste der Vereinigten Staaten auf.

Mit 17 begann Proskouriakoff ihr Architekturstudium an der Pennsylvania State University (damals noch College) und schloss dort 1930 mit 21 als einzige Frau ihres Jahrgangs das Grundstudium ab. Sie begann, als archäologische Illustratorin zu arbeiten und kam so als Mitarbeiterin des Maya-Archäologen Linton Satterthwaite an die Piedras Negras in Guatemala.

Ihre Aufgabe war es, Zeichnungen zu erstellen davon, wie die Gebäude einst aussahen, deren Ruinen Satterthwaite untersuchte. Sie erfüllte diese Aufgabe mit beeindruckender Klarsicht, doch ihr größter Beitrag zur Archäologie der Maya war ein anderer. Sie hatte die Doktorarbeit eines jungen sowjetischen Ägyptologen gelesen, Juri Knosorow, der sich mit der bis dahin unentzifferten Maya-Schrift befasst hatte und zu wegweisenden Schlüssen über die Art der Glyphen gekommen war. Allerdings war Knosorows Arbeiten vom sowjetischen Regime mit politischen Konnotationen veröffentlicht worden und wurden gemeinhin, insbesondere vom führenden britischen Archäologen Eric Thompson, als marxistische Propaganda abgelehnt.

Der russisch-stämmige Proskouriakoff jedoch verhalf die Vorarbeit Knosorows zu der Erkenntnis, während sie ihre Zeichnungen anfertigte, dass es sich bei den stets wiederholten Glyphen und bereits identifizierten Zahlen um Daten handelte: Um Geburt, Regierungsdauer und Tode der Maya-Könige. Es gelang ihr, anhand der Forschung Knosorows und eigener Untersuchungen, eine Abfolge von sieben Maya-Königen innerhalb einer Zeitspanne von 200 Jahren zu isolieren und einige Worte zu identifizieren; aufgrund dieser Zusammenhänge konnte die Maya-Schrift inzwischen bis zu 80 Prozent übersetzt werden.

Proskouriakoff starb 1985 mit 76 Jahren; doch erst dreizehn Jahre später, am Ostersonntag 1998, konnte ihr Kollege David Stuart ihren letzten Wunsch erfüllen, nämlich dass ihre Asche am Fuße der Akropolis in Piedras Negras beerdigt werden sollte – zuvor hatte politischer Unfrieden diese Beisetzung verhindert.

Zur Entzifferung der Maya-Schrift gibt es einen Dokumentarfilm, die Trailer dazu sind auf YouTube zu sehen.

Bei der Beschäftigung mit der Maya-Schrift fällt auf, wie die christlich-abendländische Kultur heute darum bemüht ist, die Schäden wieder notdürftig zu beheben, die ihre Kolonisation angerichtet hat: Als die Spanier nach Südamerika kamen, gab es unter den Maya noch zahlreiche derer, die diese Schrift lesen konnten. Mit der katholischen Kirche kam das Verbot, die „heidnischen Zeichen“ zu verwenden, und der Bischof von Yucatan Diego de Landa ließ 1562 alle in der Schrift verfassten Codices, derer er habhaft werden konnte, verbrennen. Von den auf Huun verfassten Schriftstücken existieren nach wissenschaftlicher Kenntnis nur noch vier. Die Forschungen nach dem verlorenen Wissen wurde lange Zeit dominiert von amerikanischen und europäischen Wissenschaftlern; auch diese Spätfolge der Kolonialzeit wird in den Bildern des Dokumentarfilms überdeutlich.

08/2018

3. August 1902: Regina Jonas

Regina Jonas kam als Tochter eines Kaufmanns im stark jüdisch geprägten Berliner Scheunenviertel (heute Mitte) geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf; als sie elf Jahre alt war, starb ihr Vater. Sie besuchte das Lyzeum in Berlin-Weißensee und erlangte eine Lehrerlaubnis für höhere Mädchenschulen. Mit dem Unterricht an verschiedenen anderen Lyzeen finanzierte sie sich ein Studium an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, mit dem erklärten Ziel, Rabbinerin zu werden.

Nach zwölf Semestern schloss sie 1930 das Studium mit einer Arbeit ab, die den provokanten Titel „Kann eine Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ trug, und zumindest zwei ihrer Prüfer, Dr. Leo Baeck und Eduard Baneth, unterstützten sie wohl in ihrem Ehrgeiz. Baneth verstarb leider plötzlich und konnte ihr nicht mehr das Diplom des Rabbiners erteilen. Fünf Jahre lang erprobte sie ihre Fähigkeiten mit Übungspredigten und Unterricht in religiösen Einrichtungen. Schließlich erklärte sich der Offenbacher Rabbiner Max Dienemann bereit, entgegen die Vorbehalte in der deutschen jüdischen Gemeinde, ihr die mündliche Prüfung abzunehmen und, nach Bestehen, sie zu ordinieren. Ihr ehemaliger Doktorvater Baeck begrüßte sie am nächsten Tag mit „Liebes Fräulein Kollegin“. Trotzdem sie als Rabbi voll ausgebildet und geprüft war, setzte die Berliner jüdische Gemeinde sie weiterhin hauptsächlich für den Religionsunterricht ein; auch seelsorgerische Betreuung durfte sie nun ausüben und religiöse Feste im Ornat leiten, doch nicht einmal die schriftlichen Anfragen von Gemeindemitgliedern, sie als Rabbi auf den Kanzeln der Synagogen oder bei religiösgesetzlichen Zeremonien zu sehen, konnten diese letzte Hürde des männlichen Monopols einreißen. Dahingegen erlangte sie die Aufmerksamkeit und Anerkennung der jüdischen Frauenvereinigungen wie der WIZO.

Ihre Argumentation, dass sie als Frau zur Rabbinerin geeignet war, basierte nicht so sehr auf der feministischen Theorie der Gleichberechtigung der Frau, als vielmehr darauf, dass Gott die Menschheit in zwei Geschlchtern geschaffen habe, die beide ihren geschlechtsspezifischen Beitrag zur Förderung der Menschheit beitragen können – gegen eine Frau als Rabbiner spräche „außer Vorurteil und Ungewohntsein fast nichts“. Sie befürwortete die Keuschheit und Ehelosigkeit der Rabbinerin sowie die Geschlechterttrennung in der Synagoge, doch manche Dinge könne sie als Frau von der Kanzel oder bei der Jugend sagen, die ein Mann nicht sagen könne.

Erst 1938, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, als der nationalsozialistische Druck auf die jüdischen Gemeinden die Zahl auch der Rabbiner in Deutschland durch Ausreise oder Deprotation dezimiert hatte, wurde sie neben der Seelsorge auch als voll anerkannter Rabbi eingesetzt und zwar im ganzen Land. Wohl weil ihre noch immer lebende Mutter zu alt für die Reisestrapazen war, machte sie selbst keine Anstalten, Deutschland zu verlassen. So wurde sie zunächst 1942 zu Zwangsarbeit verpflichtet und Ende des Jahres nach Theresienstadt deportiert. Dort hatte der jüdische Psychiater Viktor Frankl ein Referat „für psychische Hygiene“ eingerichtet, das den KZ-Häftlingen bei der Verarbeitung des Schocks helfen und ihre Überlebenschancen somit verbessern sollte. In diesem Referat hielt Jonas in zwei Jahren mindestens 44 aktenkundige Vorträge, bis sie am 12. Oktober 1944 nach Auschwitz-Birkenau verbracht und dort zwei Monate später ermordet wurde.

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6. August 1965: Yuki Kaijura

Die japanische Komponistin ist vor allem für zahlreiche Anime-Soundtracks verantwortlich.

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7. August 1913: Carmen Velasquez

Carmen Velasquez‘ Entdeckung der Fadenwurmart Capillaria philippensis rettete seit 1963 unzähligen Menschen auf den Philippinen das Leben. Dort starben die Menschen an einer unbekannten Krankheit, die sich mit Magenknurren, Bauchschmerzen und Durchfall bemerkbar machte. Velasquez stellte den bis dahin unbekannten Parasiten als Auslöser fest; seither können Befallene bereits bei Verdacht einer Infektion behandelt werden.

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10. August 1889: Zofia Kossak-Szczucka

Die polnische Autorin und Gewinnerin zweier Literaturpreise erlebte mit 50 Jahren in Warschau den Überfall Deutschlands auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann. Die Katholikin wurde sofort im Untergrund aktiv als Redakteurin einer Zeitung des Widerstands.

1942, einige Wochen, nachdem die Deutschen mit der „Liquidation“ des Warschauer Ghettos, also mit den Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka begonnen hatten, schrieb und veröffentlichte Kossak eine Protestschrift gegen die Duldung dieser Tatsachen in Polen und der internationalen Gemeinschaft. 5.000 Exemplare von „Protest!“ wurden gedruckt; Kossak machte darin durchaus keinen Hehl aus dem generell noch bestehenden Antisemitismus der katholischen Polen, doch seien sie als Christen von Gott dazu verpflichtet, gegen die Greuel, die verübt wurden, zu protestieren. Dadurch, dass die Polen und die Weltgemeinschaft zu dem schweige, was die Deutschen den Juden antaten, würden sie zu Komplizen.

Nach dieser Protestschrift begründete sie die Widerstandsorganisation Zegota, die zwischen 1942 und 1945 daran beteiligt war, Juden vor der Ermordung in Konzentrationslagern zu retten: In Warschau allein rettete die Zegota an die 4.000 Juden, darunter 2.500 Kinder aus dem Ghetto, in ganz Polen geht die höchste Schätzung an die 75.000 Menschen. Für ihre Beteiligung am Widerstand wurde Kossak 1943 verhaftet und nach Auschwitz-Birkenau deportiert, dem polnischen Untergrund gelang es jedoch, sie zunächst in ein Frauengefängnis überführen zu lassen, aus dem sie schließlich entlassen wurde. So konnte sie 1944 am Warschauer Aufstand teilnehmen.

Die kommunistische Regierung Polens nach dem Krieg war den nicht-kommunistischen Widerstandskämpfern nicht freundlich gesonnen. Kossak verdankte es nun ihrem Einsatz für die jüdische Bevölkerung, dass sie einer Inhaftierung mit möglicher Todesfolge entkam: Der jüdisch-stämmige Innenminister der neuen Regierung wusste von seinem Bruder, was Kossak geleistet hatte, und warnte sie, sodass sie einer Verfolgung nach England entkam. Sie ging zunächst nach London und lebte dann 12 Jahre lang in Cornwall. 1957 konnte sie nach Polen zurückkehren, schrieb und lebte dort bis zu ihrem Tod 1968.

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15. August 1830: Mária Lebstück

Die Kroatin kam mit 13 Jahren nach Wien und schloss sich mit 18, als Mann verkleidet, den Juristen-Corps in der Revolution gegen die Monarchie an. Im späteren Verlauf ihrer Karriere in Ungarn schaffte sie es bis zum Rang des Oberleutnants, gleichzeitig brachte sie eine Eheschließung und Schwangerschaft unter. Letztere verriet jedoch ihre Verkleidung und sie musste ihr Kind in Kriegsgefangenschaft zur Welt bringen. Ihr Mann wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt und starb im Gefängnis, sie selbst wurde nach Kroatien ausgewiesen, kehrte jedoch drei Jahre später nach Ungarn zurück und heiratete erneut. Nachdem ihr zweiter Mann gestorben war, ging sie mit ihrem Sohn nach Budapest, wo sie mit 62 Jahren starb. Obwohl (oder weil?) ich mich eher als Pazifistin betrachte, stellen Soldatinnen für mich ein besonderes Faszinosum dar. Es braucht doch ein ordentliches Maß an Chuzpe und den sprichwörtlichen Gonaden, so eine Verkleidung unter solchen Umständen zu erwägen und auszuführen.

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24. August 1890 oder 1894: Jean Rhys

Die Tochter eines Walisers und einer dominicanischen Kreolin hieß in Wirklichkeit Ella Gwendolyn Rees Williams und lebte bis zu ihrem 16. Lebensjahr in der Karibik und wurde dann für eine weiterführende Schulbildung nach England geschickt, wo sie bei einer Tante lebte. In der Schule wurde sie für ihren Akzent gehänselt und auch in der Schauspielschule in London sah man 1909 aufgrund ihrer Redeweise keine Chance für ihren Erfolg. Sie arbeitete zunächst als Revuetänzerin (chorus girl, also Teil der größeren Produktion); nachdem ihr Vater 1910 starb, kämpfte sie gegen die Armut, indem sie sich „aushalten ließ“. Der Börsenmakler, dessen Geliebte sie wurde, heiratete si ezwar nicht, unterstützte sie aber über die Jahre immer wieder finanziell. In den folgenden 13 Jahren arbeitete sie zeitweise als Nacktmodel, wurde schwanger und trieb ab, arbeitete während des Ersten Weltkriegs in einer Militärkantine und nach dem Krieg im Versorgungsamt; sie lebte in England und auf dem europäischen Festland, heiratete und bekam zwei Kinder, von denen eines starb; sie entwickelte eine Alkoholsucht und begann zu schreiben. Sie ließ sich von ihrem ersten Mann scheiden und unterhielt eine Verbindung zum Autoren und Verleger Ford Madox Ford, der sie zwar künstlerisch förderte, ihr auch zum Pseudonym riet, aber im Privatleben wenig wertschätzend mit ihr umging.

Bis 1939 schrieb sie vier Romane und mehrere Erzählungen. Sie heiratete erneut und wurde 1945 Witwe, heiratete anschließend ein drittes Mal und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Tatsächlich arbeitete sie an einem weiteren Roman, der 1967 erschien, ein Jahr, nachdem sie ein zweites Mal verwitwete. Ihr letzter Roman „Sargassomeer“ ist eine Vor-Geschichte zu Charlotte Brontës „Jane Eyre“ und brachte ihr schließlich größeren Erfolg: Sie wurde als postkoloniale Autorin vor allem in feministischen Leserkreisen gefeiert.

Sie empfand Enttäuschung über den „zu späten“ Ruhm und äußerte einmal, dass sie bei einer zweiten Chance wohl ein glückliches Leben dem Schriftstellertum vorgezogen hätte. Sie starb mit 88 Jahren, bevor sie ihre Autobiografie beenden konnte.

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27. August 1916: Halet Çambel

Die dritte Tochter türkischer Eltern wurde in Berlin geboren – der Großvater mütterlicherseits war türkischer Botschafter, der Vater Militärattaché in der deutschen Hauptstadt. Nach dem Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Republik lebte die Familie in Österreich und der Schweiz, 1922 ließen sie sich in Istanbul nieder. Halet besuchte die amerikanische High School for Girls im Stadtteil Arnavutköy, in dieser Zeit entwickelte sich ihr Interesse für Geschichte sowie ihr sportlicher Ehrgeiz im Fechten. 1933 bis 1939 studierte sie an der Pariser Sorbonne unter anderem Archäologie, 1936 war sie eine der ersten Frauen, die bei Olympia antrat, in der Disziplin Fechten.

Ab 1940, inzwischen verheiratet, arbeitete sie an der Universität Istanbul als Assistentin und schrieb an ihrer Doktorarbeit, die sie 1944 beendete. 1946 wurde im Süden der Türkei die neo-hethitische Ruinenstätte Karatepe-Arslantas entdeckt und im Auftrag der Universität Istanbul vom Entdecker Helmuth Theodor Bossert und Çambel erforscht. Sie trug maßgeblich zur Entschlüsselung des Hethitischen bei, indem sie die Bilingue von Karatepe mit übersetzte. Sie wurde Vorreiterin des Vor-Ort-Schutzmodells in der Türkei, als sie die türkische Regierung überzeugen konnte, die Ruinen von Karatepe nicht in eine Museum abtransportieren zu lassen, sondern aus der Stätte selbst ein Museum zu machen.

1960 wurde Çambel eine der ersten weiblichen Professoren der Türkei, als sie den den Lehrstuhl für Vorderasiatische Archäologie übernahm. Sie wurde 1984 emeritiert und starb erst 2014 in Istanbul.

Sie beeinflusste eine Generation von türkischen und internationalen Archäologiestudenten im Umgang mit den Anwohnern und lokalen Helfern an Grabungsstätten. Ihre burschikose Art verhinderte sexuelle Ambiguität im patriarchalisch geprägten Grabungsumfeld von Karatepe, sie galt als ehrlich und direkt und wurde dafür von den Menschen auf dem Land respektiert. Außerdem setzte sie sich sehr für die Bildung der Kinder ihrer lokalen Helfer ein.

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