Kategorie: Soziologie

01/2023: Alicia Garza, 4. Januar 1981

Alicia Garza lebte die ersten vier Jahre ihres Lebens mit ihrer alleinerziehenden Mutter und deren Zwillingsbruder, bis ihre Mutter ihren Stiefvater heiratete. Weil sie den Großteil ihrer Kindheit mit dessen jüdischer Kultur aufwuchs, identifiziert sich Garza als Jüdin.

Bereits mit 12 Jahren wurde Garza aktivistisch tätig: Sie setzte sich für Sexualerziehung, insbesondere hinsichtlich der Empfängnisverhütung, an ihrer damaligen Schule ein. Später an ihrer Universität, University of California, San Diego (UCSD), arbeitete sie als Freiwillige im Gesundheitszentrum, sie war auch daran beteiligt, als sich Studierende dafür einsetzten, dass die Hausmeister der Universität mehr Gehalt bekommen. In ihrem Abschlussjahr 2002 war sie Mit-Orgnisatorin der ersten Women of Color Conference an der Universität. Sie machte in diesem Jahr ihren Abschluss in Anthropologie und Soziologie.

Bei ihrer Tätigkeit als politische Aktivistin traf sie ihren späteren Ehemann, Malachi Garza; das Paar heiratete 2008, inzwischen sind die beiden wieder geschieden.

Zwischen 2003 und 2014 war Alicia Garza in verschiedenen Organisationen und Institutionen in der San Francisco Bay Area politisch aktiv. Sie arbeitete in der politischen Bildung, um Jugendlichen of Color zu zeigen, wie sie sich organisieren können, um Veränderungen zu bewirken; sie war an der PUEBLO- Kampagne beteiligt (People United for a Better Life in Oakland), die sich gegen den Bau eines Walmart in Oakland einsetzte; 2005 trat sie POWER bei (People Organized to Win Employment Rights), einer Graswurzelbewegungs-Organisation, die sich für bessere Lebensverhältnisse afroamerikanischer und latino Arbeiter der Region einsetzte.

Als am 13. Juli 2013 George Zimmermann für den Mord an Trayvon Martin freigesprochen wurde, schrieb Alicia Garza auf ihrem Facebook-Profil:

stop saying we are not surprised. that’s a damn shame in itself. I continue to be surprised at how little Black lives matter. And I will continue that. stop giving up on black life. Black people. I love you. I love us. Our lives matter.

Quelle: Wikipedia

Patrisse Cullors teilte diesen Beitrag mit dem Hashtag #BlackLivesMatter. Garza fühlte sich vom Fall Trayvon Martin besonders betroffen, weil das Opfer sie an ihren jüngeren Bruder erinnerte. Garzas, Cullors‘ und Ayo Tometis* Aktivismus wurde befeuert vom beständigen Sterben afroamerikanischer Menschen durch die Waffen der Polizei oder ziviler Bewaffneter. Als am 9. August 2014 der 18-jährige Michael Brown in Ferguson, Missouri, von einem Polizisten durch zwölf Schüsse getötet wurde, nahm die Nutzung des Hashtags größere Fahrt auf. Garza führte 2015 den Freedom Ride to Ferguson an, mit dem die Gründung zahlreicher Ortsverbände der BlackLivesMatter-Bewegung initiiert wurde. Mit dem Erfolg hinsichtlich Reichweite und politischer Wirksamkeit gilt die BLM-Bewegung als Musterbeispiel für die mediated mobilisation, die Nutzung der sozialen Medien für die Mobilisierung der Massen, um gesellschaftliche und politische Veränderungen zu erreichen.

*(auf der dt. Wikipedia noch unter ihrem früheren Namen gelistet)

Garza selbst betrachtet die Bewegung nicht als etwas, das sie selbst ins Leben gerufen hat, sondern als eine Fortsetzung des Widerstandes gegen die gesellschaftlichen Missstände der Schwarzen US-Bevölkerung.

Seit 2020 führt Garza den Podcast Lady don’t take no, einen „politische[n] Kommentar mit einer Beilage Schönheitstipps“. Sie schrieb außerdem das Buch The Purpose of Power, einen Leitfaden dafür, wie wir Bürgerbewegungen ins Leben rufen können, die gesellschaftliche Veränderungen erreichen. Garza schrieb und schreibt für diverse Magazine on- und offline, setzt sich weiterhin für die Rechte Marginalisierter ein und rangiert auf unterschiedlichen Ranglisten als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten der vergangenen Jahre. Seit 2020 ist sie Leiterin des Black Futures Lab.


Im Folgenden drei Videos von Alicia Garza: Ihre Rede für die Abschlussklasse 2017 der San Francisco State University (ein Transkript sowie eigene Übersetzung füge ich an), ein Interview mit dem TV-Magazin Sunday Morning sowie ein Intervierw mit Trevor Noah für THe Daily Show.

Alicia Garza: Rede zur Abschlussfeier der San Francisco State University 2017

Die Frauen, die Garza in ihrer Rede nennt, sind nicht alle auf Wikipedia vertreten:

Dr. Dorothy Tsuruta (engl. Universitätsseite)
Dr. Dawn Elissa Fisher (engl. Universitätsseite)
• Lynette Schwartz
• Patrisse Cullors
• Ada Bogan Trawick
• Myrtle Buckhaulter (Garzas Urgroßmutter)
June Jordan (engl Wiki)
Barbara Smith
Lateefah Simon (engl. Wiki)


Harriet Tubman
Malaika Parker (engl. Webseite der Organisation)
Angela Davis
Ericka Huggins (engl. Wiki)
Linda Burnham (engl. Wiki)
Diane Nash
Ella Baker
Brittney Cooper (engl. Wiki)
Sojourner Truth
Ida B. Wells
Audre Lorde
Nina Simone

Mya Hall (engl. EBwiki, CN Transfeindlichkeit in Zitaten)
Penny Proud
Patricia Hill Collins
• Jessie Powell
Betty Higgins (?, engl. Wiki)
• Joanne Abernathy
Emma Harris (engl. Wiki)
Espanola Jackson (engl. Nachruf einer SF Zeitung)
Islan Nettles (engl. Wiki)

Assata Shakur (auch frauenfiguren 29/2013)
Renisha McBride (engl. Wiki)
Janetta Johnson (engl. Wiki)
Kimberlé Crenshaw
Janet Mock
Miss Major Griffin Gracy (engl. Wiki)
dream hampton (engl. Wiki)
Michelle Obama
• Maeetta Buckhaulter
Korryne Gaines (engl. Wiki)

Das Gedicht von June Jordan, das Alicia Garza auf ihrem Brustkorb tätowiert trägt, lautet:

I am not wrong: Wrong is not my name

My name is my own my own my own

and I can’t tell you who the hell set things up like this

but I can tell you that from now on my resistance

my simple and daily and nightly self-determination

may very well cost you your life[8]

Ich bin nicht falsch: Falsch ist nicht mein Name
Mein Name ist meiner meiner meiner
und ich kann dir nicht sagen, wer zum Teufel die Dinge so eingerichtet hat
aber ich kann dir sagen dass von jetzt an mein Widerstand
meine schlichte und tägliche und nächtliche Selbstbestimmung
dich sehr wohl das Leben kosten kann.

Interview mit Alicia Garz bei Sunday Morning

Trevor Noah im Gespräch mit Alicia Garza

Quellen Biografie: Wiki deutsch | Wiki englisch

05/2018

3. Mai 1960: May Ayim

Geboren als Sylvia Andler, Tochter einer unverheirateten deutschen Mutter und eines ghanaischen Medizinstudenten, wurde sie als illegtimes Kind in staatliche Obhut genommen – der Vater wollte sie bei seiner kinderlosen Schwester aufwachsen lassen, doch hatte keinerlei Anspruch auf Bestimmung. Sie wurde von der Familie Opitz in Münster adoptiert, die sie May nannten, und verlebte dort keine glückliche Kindheit. Nach einer Ausbildung zur Krankenschwesternhelferin studierte sie in Regensburg Pädagogik. Aus ihrer Diplomarbeit wurde später in Kooperation mit Dagmar Schultz und Katharina Oguntoye das Buch Farbe bekennen – nicht ohne zunächst von einem Professor abgelehnt zu werden, dass es Rassismus vielleicht in Amerika, aber nicht in Deutschland gäbe. Während ihres Studiums baute Ayim eine stärkere familiäre Bindung zu ihrem Vater in Ghana auf; er hatte sie zwar bei der Adoptivfamilie besucht, aber nun lernte sie ihre in Ghana lebende weitere Familie kennen und nahm in späteren Jahren auch den Namen ihres Vaters, Ayim, an.

Ab 1984 lebte sie in Berlin und machte nach der Reise unter anderem nach Ghana und dem Studium auch noch eine eine Ausbildung zur Logopädin. Sie kam in der Weltstadt in Kontakt mit Audre Lorde, der afro-amerikanischen, feministischen Lyrikerin. Diese motivierte und inspirierte sie dazu, die ISD zu gründen: die Initiative Schwarze Deutsche und Schwarze in Deutschland. Ihre 1986 veröffentlichte Diplomarbeit gab auch den Anstoß für die Gründung der ADEFRA – Schwarze Frauen in Deutschland e.V.

Ayim hielt Vorträge zum Thema Rassismus, schrieb Gedichte und gilt als die Begründerin der kritischen Weißseinsforschung. Sie begann in den 1990ern unter der Belastung ihrer Arbeit, unter psychostischen Schüben zu leiden; als bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert wurde und im Rahmen der MS-Behandlung die Psychopharmaka abgesetzt wurden, fiel sie in schwere Depression und nahm sich am 9. August 1996, mit 36 Jahren, das Leben.

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8. Mai 1923: Cheikha Rimitti

Saadia Bedief wurde früh zur Waise und musste sich allein im Algerien der 1930er Jahre durchschlagen. Sie verdingte sich als Haushaltshilfe für französische Kolonisten und schloss sich mit 15 einer Truppe von Wandermusikern an. Sie sang Lieder, die ihr eigenes Leben und das vieler Algerier zum Thema hatten: die Armut und das massenhafte Sterben während der Typhusepidemien, aber auch Liebe, Lust, Sexualität und Alkoholgenuss. Sie schrieb diese Lieder selbst, obwohl sie Zeit ihres Lebens Analphabetin bleiben sollte, und sie sang sie öffentlich, während vorher die kruden, provokaten Texte nur in kleinem privaten Kreis geschätzt wurden.

Bis zum Zweiten Weltkrieg mehrte sich der Ruhm ihres Gesang allein durch Hörensagen, bis der bekannte algerische Musiker Cheikh Mouhammed Ould Ennems sie entdeckt und in Algier an die Radiomikrophone brachte. Bald, 1952, nahm sie unter ihrem neuen Künstlernamen – zunächst Cheikha Remettez Reliziane – erste Platten auf. Remettez oder Rimitti, wie sie sich schließlich nannte, stammt vom französischen „Schenk nach!“ und die freizügige Lebenslust, die sie in ihren Liedern transportierte, gefiel den Autoritäten des post-kolonialen Algerien gar nicht. Hatte sie den nationalistischen Widerstand gegen die französischen Besatzer noch unterstützt und den neuen Stil der traditionellen Raï-Musik entscheidend mitgeprägt, wurde sie nach dem Unabhängigkeitskrieg vom ersten Präsidenten des jungen Staates, Boumedienne, mit einem Auftrittsverbot belegt und faktisch aus der Kultur verbannt.

Rimitti sang weiter auf privaten Veranstaltungen, lag nach einem Autounfall, der drei ihrer Musikerkollegen tötete, drei Wochen im Koma, unternahm 1979 die Haddsch und trat anschließend vor allem vor algerischen Auswanderern in Frankreich auf. Als Mitte der 1980er der Raï wiederentdeckt wurde, gewann auch Rimitti wieder an Bekanntheit, und so konnte sie in den letzten zwanzig Jahren ihres Lebens noch einmal weltweiten Erfolg genießen. Sie starb 2006 nur wenige Tage nach einem Konzert in Paris an einem Herzinfarkt.

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15. Mai 1930: Grace Ogot

Grace Emily Akinyi kam in einem kenianischen Dorf zur Welt, das vor allem von der christlichen Luo-Bevölkerung geprägt war. Ihr Vater war einer der ersten im Ort, der eine westliche Schulbildung erfuhr; dank seiner Konvertierung zum anglikanischen Glauben hörte Grace als Kind von ihm die alttestamentarischen Geschichten, während ihre Großmutter ihr die traditionellen Volksmärchen und Göttersagen der Luo erzählte. Grace machte nach der Schule zunächst eine Ausbildung zur Krankenschwester und Hebamme in Uganda und England; sie arbeitete anschließend auch in Kenia in diesem Beruf.

Sie heiratete den kenianischen Historiker Bethwell Alan Ogot und bekam vier Kinder mit ihm. Außerdem begann sie ihre Karriere als eine der ersten Schriftstellerinnen Afrikas, mit Kurzgeschichten in ihren Muttersprachen Englisch und Luo. Ihr erster Roman The Promised Land war nicht nur das Werk, mit dem sie 1966 größere Bekanntheit erlangte, sondern auch der erste vollständige Roman, der in einem afrikanischen Verlagshaus publiziert wurde. Sie arbeitete auch für die BBC und hatte später verschiedene Botschafterposten bei UNO und UNESCO inne. Ihre Romane sind von spannungsreichen weiblichen Figuren geprägt und vereinen christliche mit traditionell afrikanischen Themen.

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22. Mai 1983: Lina Ben Mhenni

Die tunesische Bloggerin, Tochter wohlhabender Eltern, die ebenfalls Aktivisten waren, startete bereits 2007 ein Blog mit zunächst rein persönlichem Inhalt. Nach einem Aufenthalt in den USA allerdings beschloss sie, die Möglichkeiten des Internet für politischen Aktivismus zu nutzen und begann im Juni 2009 ihr Blog A Tunisian Girl, in dem sie sich für Menschenrechte und Redefreiheit in Tunesien einsetze. Gemeinsam mit anderen Bloggern und mit Hilfe der Möglichkeiten in den sozialen Netzwerken befeuerte und dokumentierte sie die Revolution in Tunesien, die zum Arabischen Frühling werden sollte. Ihr Blog wurde zensiert und verboten; da sie von den Brennpunkten der Revolution (Sidi Bouzid, wo sich Mohamed Bouazizi selbst anzündete, und Kasserine, wo die Polizei zahlreiche Revolutionäre niederschoss) berichtete und Information über die Gewalt des Staates an seiner Bevölkerung verbreitete, war sie selbst auch den Repressalien durch die Regierung Zine al-Abidine Ben Alis ausgesetzt. Beschattung, Einbrüche, Todesdrohung, Verhaftung ihres Freundes gehörten zu den Methoden, wie sie zum Schweigen gebracht werden sollte. Ihr Kontakt zu ausländischen Journalisten half ihr dabei, weiter zu arbeiten und zu überleben.

Als nach einem Jahr der Revolution – nach der Flucht Ben Alis und einer Übergangsregierung – die gemäßigt islamische Ennahda zur Regierung gewählt wurde, zeigte sich Ben Mhenni enttäuscht. Sie setzte sich weiterhin für die Demokratie und gegen Korruption und Doppelmoral der tunesischen Regierung ein. Während sie das Internet als Hilfsmittel für die Revolution betrachtet, betont sie jedoch, dass die tatsächliche Revolution auf der Straße stattfand, und zwar blutig, was nicht mit euphemistischen Bezeichnungen wie Jasminrevolution verheimlicht werden sollte.

Ihr Blog wurde von The BOBs 2011 als Bestes Weblog ausgezeichnet, Ben Mhenni war als Repräsentantin der tunesischen Revolution im Gespräch für eine Nominierung für den Friedensnobelpreis desselben Jahres.

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30. Mai 1985: Maria Amelie Salamowa

Als Maria Salamowa 15 Jahre alt war, floh sie mit ihren Eltern aus ihrem Heimatland Nordossetien, dass in den Tschetschenienkonflikt verwickelt war. Zunächst beantragten sie in Finnland Asyl wegen politischer Verfolgung, nachdem sie dort abgelehnt wurden, gingen sie nach Norwegen. Auch dort wurde ihnen zwar kein Asyl gewährt, sie mussten sich also als ohne Aufgenthaltserlaubnis oder Duldung niederlassen. Während ihr Asylantrag bearbeitet wurde, ging Maria zur Schule und später, nun als ausgesprochen „Illegale“ noch immer in Norwegen lebend, zur Universität. Sie machte ihren Bachelor in Anthropologie und ihren Master in Technologie und Wissenschaft – noch immer ohne gültige Papiere.

Die Jahre der Angst vor Deportation und die bizarren, widersprüchlichen Lebensverhältnisse als illegal Eingewanderte einerseits, Akademikerin und nach eigenem Gefühl Norwegerin andererseits bewegten sie schließlich dazu, ein Buch über ihr Leben zu verfassen. 2010 erschienen ihre editierten Tagebücher unter dem Titel Illegal norwegisch. Es löste eine Debatte über Immigration und Menschenrechte in Norwegen aus und Salamowa wurde eingeladen, Vorträge zu halten über ihre Erfahrungen. Nach einem solchen Vortrag am 12. Januar 2011 an der Nansen-Akademie in Lillehammer wurde sie festgenommen und in Abschiebehaft nach Trandum verbracht – einem Asylgefängnis, das von der UN für seine Foltermethoden und Haftbedingungen kritisiert wurde. Salamowa verbrachte dort sechs Tage, von denen sie sich nach eigenen Aussagen drei Jahre lang zu erholen versuchte, und wurde schließlich nach Russland abgeschoben.

Während ihrer Haftzeit und nach ihrer Abschiebung regt sich allerdings großes Medieninteresse und ein so großer Protest gegen das Vorgehen des Staates – eine Facebook-Seite zu ihrer Unterstützung hat bis zum 23. Januar mehr als 88.000 Mitglieder und die Unterschriftenaktion von Amnesty International zählt über 28.000 Unterschriften. In Island schlagen zwei Abgeordnete dem Althing vor, ihr die isländische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Doch am 16. April 2011 darf Salamowa, nun mit gültigen Papieren und einer Arbeitserlaubnis, nach Norwegen zurückkehren.

Heute arbeitet sie als Journalistin und Start-Up-Entrepreneur. Im unten verlinkten TEDx Talk erzählt sie eindringlich ihre Geschichte und ihre Entwicklung unten schwierigen Bedingungen.

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§218!