Schlagwort: eugenik des nationalsozialismus

28/2023: Gunilla Gerland, 13. Juli 1963

Der Vater von Gunilla Gerland war gewalttätig; nachdem er die Familie verließ, blieb sie mit der alkoholkranken Mutter zurück. Mit 16 zog sie aus ihrem Zuhause in Stockholm aus und ging nach Spanien.

Mit 29 Jahren erhielt Gerland eine Autismus-Diagnose; ihre Form des Autismus läuft im ICD-10 noch immer unter Asperger-Syndrom*. Der Arzt, der sie diagnostizierte, ermutigte sie zum Schreiben, und so brachte sie 1996 ihre Autobiografie heraus über das Aufwachsen als neurodivergentes Kind in einem gewalttätigen, vernachlässigenden Elternhaus. Unter dem Titel ‚Ein richtiger Mensch sein: Autismus – das Leben von der anderen Seite‘ ist es auch in Deutschland erhältlich.

Sie ist heute eine Fürsprecherin für autistische Menschen, schriebt Beiträge, hält Vorträge und nimmt an Podiumsdiskussionen teil, um über Autismus aufzuklären und mehr Akzeptanz für neurodivergente Menschen zu erreichen. Außerdem beteiligt sie sich an der Autismusforschung und trägt die Perspektive der Betroffenen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen bei.


*Um den Begriff Asperger-Syndrom gibt es seit einiger Zeit eine Diskussion, da der Namensgeber, Hans Asperger, nicht nur mindestens ein Mitläufer der Nazis war, sondern explizit seine Unterscheidung zwischen hochfunktionalen und anderen Formen des Autismus dazu diente, Betroffene in die Jugendfürsorgeanstalt Am Spiegelgrund einzuweisen, wo sie im Namen der ‚Rassenhygiene‚ ermordet wurden. Asperger muss sich dessen bewusst gewesen sein. Die Diagnose des ‚Asperger-Syndroms‘ bedeutete, dass die Betroffenen noch in irgendeiner Weise nützlich sein könnten für den nationalsozialistischen Staat. Tiefgehend mit Hans Asperger und seiner Rolle in der ‚Euthanasie‘ befasst sich zum Beispiel Linus Mueller bei Autismus-Kultur. Auch die Einteilung des Autismus-Spektrums in ‚hochfunktional‘ und ’niedrigfunktional‘ steht zur Debatte; dem Maßstab einer Funktionalität in einer neurotypischen Welt wird die Bemessung gegenübergestellt, wie stark oder ‚erfolgreich‘ autistische Menschen ‚maskieren‚, also den Eindruck einer neurotypischen ‚Normalität‘ vermitteln können – oft auf Kosten ihrer mentalten und physischen Gesundheit. Eine prägnante Erläuterung liefert etwa Melanie Theissler im Beitrag ‚Warum der Begriff ‚hochfunktional‘ problematisch ist‘ auf Autistic Psychologist. Seit Ende der 1990er Jahre ist auch der Begriff der Neurodiversität für die Varianten des Autismus, aber auch andere Arten der kognitiven, neurologischen und informationsverarbeitenden Diversität im Gespräch. Der Verein Neurodivers e.V. bietet hierzu einige weiterführende Informationen aus Wissenschaft und Gesellschaft. Etwa diese Gesprächsrunde auf dem Kanal 100percentme:


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch

49/2019: Elfriede Lohse-Wächtler, 4. Dezember 1899

Elfriede Lohse-Wächtler kam in Dresden auf die Welt, sie wurde eigentlich auf den Namen Anna Frieda getauft, den Namen Elfriede wählte sie später selbst. Mit 16 Jahren zog sie aus dem Elternhaus aus und begann ihre dreijährige Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Dresden, zuerst im Fachbereich Mode, nach dem ersten Jahr wechselte sie jedoch in den Fachbereich Angewandte Graphik und nahm zusätzliche Zeichen- und Malkurse.

Sie wurde Mitglied der Dresdner Sezessions Gruppe 1919 und arbeitete als freie Künstlerin. Sie heiratete einen Maler und Opernsänger, mit dem es sie schließlich bis 1926 nach Hamburg verschlug. Auch dort wurde sie Teil mehrerer Künstlervereinigungen und sie war an verschiedenen Ausstellungen der Neuen Sachlichkeit beteiligt.

Ihre Ehe war unglücklich und der Verdienst als Künstlerin gering; unter den schwierigen Lebensumständen erlitt Lohse-Wächtler mit 30 Jahren einen Nervenzusammenbruch, mit dem sie in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg (heute Schön Klinik Hamburg Eilbek) eingeliefert wurde. Dort blieb sie zwei Monate, in ihrer Zeit dort zeichnete sie die Friedrichsberger Köpfe, eine Werkserie mit sechzig Bildern, darunter Selbstportraits und Portraits von anderen Patienten.

Als sie die Krise überwunden hatte, trennte sie sich endgültg von ihrem Mann und erreichte ihren Schaffenshöhepunkt. Sie malte Selbstbildnisse und Eindrücke ihrer Umgebung, der Hamburger Hafengegend mit ihrem Milieu.

Doch leben konnte sie von ihrer Kunst noch immer nicht und sie fand auch keinen sozialen Anschluss, weshalb sie 1931 zu ihren Eltern nach Dresden zurückkehrte. Ihre psychische Gesundheit verbesserte sich dadurch aber nicht, im Gegenteil: Im Folgejahr ließ ihr Vater sie in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Arnsdorf einweisen, wo sie mit Schizophrenie diagnostiziert wurde. Sie blieb die folgenden drei Jahre als Künstlerin tätig, doch 1935 beendeten die politischen Umstände ihre Karriere. Nachdem die Scheidung von ihrem Ehemann abgeschlossen war, wurde sie wegen „unheilbarer Geisteskrankheit“ für unmündig erklärt.

Im Jahr zuvor war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft getreten, das neben anderen die Eugenik des Nationalsozialismus gesetzlich legitimierte. Lohse-Wächtler verweigerte die Einwilligung zu ihrer Sterilisation, woraufhin ihr zunächst verboten wurde, die Pflegeanstalt zu verlassen. Im Dezember 1935 unterzog man sie auf Anweisung der Erbgesundheitsgerichte einer Zwangsterilisation. Mit diesem Eingriff in ihre Selbstbestimmung verlor Lohse-Wächtler völlig ihre kreative Energie, sie malte kein weiteres Bild mehr. Fünf Jahre lebte sie noch in der Pflegeanstalt in Arnsdorf, 1940 wurde sie dann, mit zahlreichen anderen Patienten dort, in die Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein deportiert.

Schon 1939 hatte der nationalsozialistische Staat die Vorbereitungen begonnen, die Ermordung psychisch Kranker – und der Menschen, die zu dieser Zeit als solche diagnostiziert wurden – zu planen. Unter solchen Euphemismen wie Aktion Gnadentod errichtete das medizinische System, unter Leitung des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti, eine Mordmaschinerie, in der insgesamt 200.000 Menschen getötet wurden. Heute ist die systematische Tötung von 70.000 Patienten von Heil- und Pflegeanstalten, in den Jahren 1940/41 unter dem Namen Aktion T4 bekannt, da sich die Zentraldienststelle der Aktion in der Tiergartenstraße 4 in Berlin befand.

Die Opfer von Aktion T4 wurden in ihren heimischen Einrichtungen erfasst und auf den Transport vorbereitet, von dort wurden sie mit Bussen zu Zwischenanstalten transportiert. Diese Zwischenstationen dienten der Verschleierung, denn nur bis dort durften Begleitpersonen mitreisen, außerdem waren sie eine Art Schleuse, um eine „Überlastung“ der Tötungsanstalten zu verhindern. Von dort aus fuhren die Patienten alleine weiter zur „Aufnahme“ in der letzten Station. Dort wurde ihnen ihre Kleidung genommen, sie wurden statistisch mit Größe und Gewicht erfasst und Ärzten vorgeführt, die sie auf gesundheitliche Merkmale hin untersuchten, etwa Narben vorangegangener Operation. Dies diente ebenfalls der Verschleierung des Massenmordes, denn bei dieser Untersuchung fanden die Ärzte Hinweise auf Erkrankungen, die als Todesursache vorgegeben werden konnten. Anschließend wurden die Opfer in Gruppen um die 30 Personen in die Gaskammern geführt, in denen Brauseköpfe weiterhin vortäuschten, dass sie für einen Aufenthalt gereinigt werden sollten. Über die Brauseköpfe wurde dann Kohlenmonoxid eingelassen.

Elfriede Lohse-Wächtler war eine von über 14.500 Menschen, die in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein ermordet wurde. Als offizielle Todesursache wurde „Lungenentzündung mit Herzmuskelschwäche“ eingetragen.

Ihre Kunst galt den Nationalsozialisten – wenig überraschend – als „entartete Kunst„, viele ihrer Werke wurden in beschlagnahmt und vernichtet. In den 1990ern erfuhr ihre Kunst eine erneute Anerkennung, 1997 drehte Heide Blum einen Dokumentarfilm über die Künstlerin. Im Sächsischen Krankenhaus in Arnsdorf wurde ihr zu Ehren eine Stele errichtet, auf dem ehemaligen Krankenhausgelände in Hamburg, in dem sie sich aufgehalten hatte, wurde 2004 ein Rosengarten mit einem Gedenkstein für sie errichtet.

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