Schlagwort: georg-august-universität göttingen

26/2020: Maria Goeppert-Mayer, 28. Juni 1906

Maria Goeppert wurde in Katowice, damals Preußen, in eine Familie von Professoren geboren. Als sie 10 Jahre alt war, zog sie mit ihren Eltern nach Göttingen. Dort besuchte sie eine höhere Schule, die speziell Mädchen für ein Universitätsstudium vorbereiten sollte; mit 17, ein Jahr früher als ihre Komiliton:innen, machte sie als eines von drei oder vier Mädchen das Abitur.

Zunächst studierte sie an der Universität Göttingen Mathematik, zu dieser Zeit um 1924 müsste sie auch Emmy Noether dort angetroffen haben. Nach drei Jahren Studium wechselte Goeppert jedoch zur Physik, in der sie nach weiteren drei Jahren ihre Dissertation über die Theorie der Zwei-Photonen-Absorption schrieb. Diese Theorie, dass ein Molekül oder Atom zur gleichen Zeit (innerhalb von 0,1 Femtosekunde) zwei Photonen aufnehmen kann und dabei in einen energetisch angeregten Zustand übergeht, konnte zu dieser Zeit nicht experimentell nachgewiesen werden. Dieses Ereignis ist extrem unwahrscheinlich: Die Absorption eines Photons in einem Molekül oder Atom geschieht in etwa einmal pro Sekunde unter guten Bedingungen, das heißt bei hoher Lichteinstrahlung. Die gleichzeitige Absorption zweier Photonen tritt hingegen unter den gleichen Bedingungen nur alle 10 Millionen Jahre auf. Erst 1961 konnte Goepperts Theorie dank der Erfindung des Lasers nachgewiesen werden, die Einheit, in der die Wahrscheinlichkeit einer Zwei-Photonen-Absorption gemessen wird, heißt ihr zu Ehren GM (Goeppert-Mayer). Ihre Prüfer im Rigorosum waren Max Born, James Franck und Adolf Windaus, alles drei zu diesem Zeitpunkt oder spätere Nobelpreisträger. Eugene Wigner, ebenfalls Nobelpreisträger, bezeichnete ihre Arbeit später als „Meisterwerk der Klarheit und Greifbarkeit“.

Im gleichen Jahr, in dem sie ihren Doktortitel errang, hatte sie auch Joseph Edward Mayer geheiratet, einen Fellow der Rockefeller Foundation und Assistent von James Franck. Mit ihm zog sie nach ihrer Promotion in die USA, wo Mayer als außerordentlicher Professor an der Johns Hopkins University lehrte. Goeppert-Mayer konnte dort keine Anstellung finden, denn die Hochschule hatte strenge Nepotismus-Regeln, die die gleichzeitige Beschäftigung von Ehepaaren untersagten. Diese waren ursprünglich eingerichtet worden, um Gönnerschaft zu unterbinden, doch inzwischen hielten sie hauptsächlich die Ehefrauen der Professoren von beruflicher Tätigkeit auf dem Campus ab. Goeppert-Mayer konnte sich schließlich gegen sehr kleines Gehalt im Fachbereich für Physik an der deutschen Korrespondenz beteiligen, so hatte sie auch Zugang zu den Laboren. In dieser Zeit arbeitete sie mit Karl Herzfeld an seinen Forschungen zur Quantenmechanik, sie unterrichtete auch unentgeltlich und schrieb eine Arbeit über doppelten Betazerfall. Sie kehrte bis 1933 noch dreimal nach Göttingen zurück, unter anderem um dort mit Max Born an einem Artikel für das Handbuch der Physik zu arbeiten. 1933 verloren Born und James Franck aufgrund der Judenverfolgung unter der faschistischen Regierung Deutschlands ihre Stellen an der Göttinger Universität, James Franck folgte seinem ehemaligen Assistenten nach Baltimore.

1937 wurde Mayer allerdings von der Johns Hopkins Universität entlassen, die Gründe dafür sind unklar. Mayer vermutete Misogynie, nämlich dass der Dekan es nicht gerne sähe, wie frei Mayer seiner Frau Zugang zu den Laboren gewährte. Herzfeld stimmte ihm zu, möglicherweise fühle sich aber auch das amerikanische Kollegium von „zu vielen Deutschen“ (das Ehepaar Goeppert-Mayer, Herzfeld und Franck) überrannt. Es soll auch Beschwerden über die Inhalte des Chemie-Unterrichts gegeben haben, den Goeppert-Mayer hielt: Sie spreche zu viel über moderne Physik. Goeppert-Mayer lehrte noch bis 1939 in Baltimore, dann wechselte das Ehepaar gemeinsam an die Columbia University in New York. Joseph Mayer konnte dort als Professor lehren, Maria Goeppert-Mayer bekam hier zwar ein eigenes Büro, doch für ihre Tätigkeit an der Fakultät wiederum kein Gehalt.

An der Columbia University freundete sich Goeppert-Mayer mit dem Chemiker Harold Urey und dem Physiker Enrico Fermi an und schloss sich deren Forschungen an, zu den Valenzelektronen der bis dahin noch unentdeckten transuranischen Elementen. Die Anzahl der Valenzelektronen, das heißt der Elektronen auf der äußersten Schale eines Elements, die an chemischen Verbindungen beteiligt sein können, bestimmen die Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Gruppen des Periodensystems und lassen Vermutungen über ähnliche chemikalische Eigenschaften zu. Basierend auf dem Thomas-Fermi-Modell, das die Elektronenhülle wie eine Gaswolke interpretiert, stellte Goeppert-Mayer die Voraussage auf, dass die Elemente, die im Periodensystem hinter dem Uran folgen müssten, zur Gruppe der Metalle der Seltenen Erden gehören würden. Diese Voraussage sollte sich als wahr herausstellen.

1941 wurde Maria Goeppert-Mayer zur Fellow der American Physical Society und im Dezember dieses Jahres trat sie ihre erste bezahlte Lehrtätigkeit am Sarah Lawrence College an. Nachdem die USA in den Zweiten Weltkrieg eingetreten waren, schloss sie sich im Folgejahr in Teilzeit dem Manhattan-Projekt an. Ihre Aufgabe wurde es, einen Weg zu finden, das Isotop 235U, einen wichtigen Spaltstoff, in natürlichem Uran auszusondern. Dafür untersuchte Goeppert-Mayer die chemischen und thermodynamischen Eigenschaften von Uranhexafluorid (Uran(VI)-fluorid), einer Verbindung von Uran und Fluor. Sie erwog die Möglichkeit, das gewünschte Isotop mit Hilfe einer photochemischen Reaktion aus dem Stoff auszufällen, doch dies war zu dem Zeitpunkt noch nicht praktikabel; auch hier wurde die Erfindung des Lasers notwendig, um Goeppert-Mayers Theorien in die Praxis umzusetzen.

Ihr Freund Edward Teller holte sie auch kurzzeitig ins Team seines Opacity Project, das die Erschaffung einer Superbombe (Link Englisch) anstrebte. Ihr Mann wurde an die Front im Pazifik berufen, und Goeppert-Mayer beschloss, die beiden Kinder in New York zu lassen und mit Teller in Los Alamo am Project Y zu arbeiten.

Nach dem Ende des Krieges wurde Joseph Mayer Professor für Chemie an der University of Chicago, Maria Goeppert-Mayer wurde von der Hochschule als freiwillige außerordentliche Professorin eingestellt. Teller folgte ihr nach Illinois, um die Entwicklung thermonuklearer Waffen voranzutreiben. Als ihr eine Teilzeitstelle am Argonne National Laboratory angeboten wurde, als leitende Physikerin in der Abteilung für theoretische Physik, antwortete sie erstaunlicherweise: „Ich verstehe nichts von Kernphysik!“ Sie trat die Stelle jedoch an. Außerdem programmierte sie den ENIAC des Aberdeen Proving Ground auf eine bestimmte Vorgehensweise für Schnelle Brüter.

Ihre wichtigeste, erfolgreichste Arbeit leistete Goeppert-Mayer trotz dieser vielseitigen Einsätze in den 1940ern. Während sie an der University of Chicago und dem Argonne angestellt war, entwickelte sie ein mathematisches Modell für den Aufbau des Schalenmodells, das sie 1950 veröffentlichte. Sie erklärte, warum eine bestimmte Anzahl Nukleone (Protonen und Neutronen) in Atomkernen besonders häufig vorkamen und besonders stabil sind. Diese Zahlen nannte Eugene Wigner die ‚Magischen Zahlen‚, die Reihe der „stabilen“ Protonen- und Neutronen-Anzahlen lautet 2, 8, 20, 28, 50, 82 und 126. Das Schalenmodell war für die Elektronen-aufenthaltswahrscheinlichkeitsräume des Atoms bereits erfolgreich, doch vom Atomkern bestand zu diesem Zeitpunkt noch ein anderes Modell, welches jedoch nicht die Inseln der Stabilität in den Elementen erklärte. Im Gespräch mit Enrico Fermi stellte dieser Goeppert-Mayer die Frage, ob es einen Hinweis auf Spin-Bahn-Kopplung gäbe – einen Zusammenhang des Spin, also der Eigendrehung eines Teilchens, und seiner Bahn, also seiner Bewegung innerhalb des Atoms, der sich in der Stärke der Wechselwirkung des Teilchens bemerkbar macht. Diese Kopplung war für Elektronen bekannt, doch angestoßen von Fermis Frage stellte Goeppert-Mayer die Theorie auf, dass dieser Effekt auch im Atomkern wirke und konnte so die Bedeutung der ‚magischen Zahlen‘ in der Kernphysik erklären. Sie erläuterte es kurz und anschaulich wie folgt:

Denken Sie an einen Raum voller Walzertänzer:innen. Nehmen wir an, sie durchtanzen den Raum in Kreisen, jeder Kreis umschlossen von einem weiteren Kreis. Nun stellen Sie sich vor, Sie könnten zweimal so viele Tänzer:innen in einem Kreis unterbringen, indem Sie ein Paar mit und das andere Paar entgegen dem Uhrzeigersinn tanzen lassen. Nun bringen Sie noch weitere Variationen ein; alle Paare drehen sich um sich selbst wie Kreisel, während sie durch den Raum kreisen, jedes Paar dreht sich also um sich selbst (twirling) und durch den Raum (circling). Aber nur einige von denen, die gegen den Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen, drehen sich auch im Uhrzeigersinn um sich selbst. Die anderen drehen sich im Uhrzeigersinn um sich selbst, während sie gegen den Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen. Das gleiche ist wahr für die, die im Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen: Einige drehen sich im Uhrzeigersinn um sich selbst, andere dagegen.

Übersetzt nach dem Abschnitt ‚Nuclear shell modell‘ des englischen Wikipediabeitrags

Zum gleichen Schluss waren zeitgleich die Physiker Otto Haxel, Hans D. Jensen und Hans E. Suess in Hamburg gekommen; Goeppert-Mayers Arbeit wurde zur Prüfung im Februar 1949 eingereicht, die der Hamburger Forscher im erst im April. Als Goeppert-Mayer in Juni 1949 die Ankündigung der Ergebnisse ihrer Kollegen las, versuchte sie noch, ihre Veröffentlichung zu verschieben, damit beide Arbeiten nebeneinander erscheinen könnten, doch dies ließ sich nicht mehr einrichten. So wurde zuerst Goeppert-Mayer als die Entdeckerin des Schalenmodells für den Atomkern bekannt. Es entstand jedoch ein gutes kollegiales Verhältnis zwischen Goeppert-Mayer und Jensen und die beiden brachten 1950 gemeinsam ein Buch zu ihrer Theorie heraus.

In den 1950er Jahren wurde Maria Goeppert-Mayer Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der National Academy of Sciences, doch erst 1960 wurde sie endlich vollwertiges Mitglied einer Fakultät, als sie den Lehrstuhl für Physik an der University of California übernahm. Bereits kurz darauf erlitt sie einen Schlaganfall, der sie jedoch nicht von der Arbeit abhalten sollte. 1963 erhielt sie gemeinsam mit Hans D. Jensen eine Hälfte des Nobelpreises für Physik, die andere Hälfte erhielt Eugene Wigner. Goeppert-Mayer war die zweite weibliche Gewinnerin dieses Preises nach Marie Curie, 60 Jahre zuvor. Zu dieser Errungenschaft titelte damals die San Diego Tribune: ‚S.D. Mother Wins Nobel Physics Prize‘ (‚Mutter aus San Diego gewinnt Physik Nobelpreis‘). Hierzu bezog die Nachfolgepublikation The San Diego Union-Tribune im Oktober 2018 Stellung, anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Physik an die dritte Frau überhaupt, Donna Strickland, 55 Jahre nach Goeppert-Mayer.

Zwei Jahre später wurde sie zum Fellow der American Academy of Arts and Sciences. 1971 erlitt sie einen Schlaganfall, in dessen Folge sie ein Jahr lang im Koma lag, bis sie am 20. Februar 1972 verstarb. Die American Physical Society rief 1986 den Maria Goeppert-Mayer Award ins Leben, der jugnen Physikerinnen verliehen wird. Gewinnerinnen müssen einen Doktortitel innehaben, sie erhalten einen Geldbetrag und die Möglichkeit, an vier größeren Institutionen Vorträge über ihre Arbeit zu halten. Auch das Argonne National Laboratory verleiht jedes Jahr im Namen Goeppert-Mayers einen Preis an herausragende Wissenschaftlerinnen, ihre letzte Universität in Kalifornien hält ein jährliches Symposium in ihrem Namen, in dem Wissenschaftlerinnen zusammenkommen. Ein Krater auf der Venus von 35 Kilometer Durchmesser ist nach Maria Goeppert-Mayer benannt.

*

Ebenfalls diese Woche

22. Juni 1939: Ada Yonath
Über diese Chemikerin schrieb ich im Juni 2018.

23. Juni 1871: Jantine Tammes
Die Leidtragende des Matilda-Effektes trug entscheidende Erkenntnisse zur Pflanzengenetik bei, die jedoch ihrem männlichen Kollegen zugeschrieben wurden.

23. Juni 1951: Maria Klawe
Die amerikanische Informatikerin leitet seit 2006 als erste Frau das Harvey Mudd College in Kalifornien.

26. Juni 1862: Ella Church Strobell (Link Englisch)
Gemeinsam mit ihrer Kollegin Katharine Foot trug die Zellbiologin mit Fotografien zum besseren Verständnis der Chromosomen und ihrer Funktion bei.

3/2020: Sofja Wassiljewna Kowalewskaja, 15. Januar 1850

Als Kind in einer russische Militärfamilie geboren, kam Sofja Wassiljewna Kowalewskaja früh und auf ungewöhnlichem Weg mit der Mathematik wortwörtlich in Kontakt: Nachdem ihr Vater, General der russischen Armee, seinen Abschied vom Dienst nahm und mit der Familie auf Land zog, wurden die Wände des Kinderzimmers neu tapeziert. Als die Tapete nicht ausreichte, griff man auf Papiere vom Dachboden des Hauses zurück. Dabei handelte es sich zufällig um das Skript einer Vorlesung, die ihr Vater in seiner Jugend bei Michail Ostrogradski gehört hatte.

Das Mädchen Sofja wurde von Gouvernanten und mit wenig familiären Begegnungen aufgezogen, dennoch entwickelte sie eine enge Bindung zu ihrer sechs Jahre älteren Schwester Anna. Ihr mathematisches Interesse wurde hingegen von einem Onkel väterlicherseits gefördert, der sich selbst laienhaft mit der Mathematik befasste und sie an seinem Zeitverterib teilhaben ließ. Sie erhielt zwar auch Unterricht in den Grundlagen der Mathematik von ihrem Hauslehrer, doch ihre Leidenschaft ging weit darüber hinaus. Als der Vater es als ungebührlich empfand, wie sehr sie in die Materie einstieg, verbot er ihr zunächst weitere Beschäftigung damit – diesem Verbot widersetzte sie sich jedoch heimlich. So bekam sie mit 15 ein Buch über Physik in die Hand, das ein Nachbar der Familie geschrieben hatte. Als sie dem Autor ihre eigenen, autodidaktischen Herleitungen erläuterte, setzte der sich dafür ein, dass sie in höherer Mathematik unterrichtet werden sollte. So durfte sie schließlich bei einem Professor in St. Petersburg Intensivkurse besuchen. In dieser Zeit entstand über ihre Schwester Anna auch ein Kontakt mit der politischen Bewegung des russischen Nihilismus.

Mit 18 Jahren war Wassiljewna entschlossen, in Europa zu studieren, da sie wie viele Frauen glaubte, bei den westlichen Nachbarn hätten sie mehr Rechte als in Russland. In ihrer Heimat durften sie weder studieren noch als Gasthörerin zu Vorlesungen gehen, sie besaßen allerdings auch keinen Reisepass und waren so als alleinstehende Frauen nachgerade gefangen. Wassiljewnas Willen, die Mathematik und Naturwissenschaften offiziell zu studieren, war so stark, dass sie gegen den Willen des Vaters eine Ehe mit Wladimir Onufrijewitsch Kowalewski einging. Ihr Ehemann war Anhänger des russischen Nihilismus und Jurastudent, er ging jedoch mit ihr nach Europa, um sich der Paläontologie zu widmen. Als reine Zweckehe unterlag die Bindung der beiden vielen räumlichen Trennungen, doch sie lebten auch immer wieder zusammen.

Zuerst ging das Ehepaar Kowalewski nach Wien, wo Sofja Physikvorlesungen hören durfte, doch das Leben dort war zu teuer. In Heidelberg durfte Kowalewskaja sich zwar auch nicht immatrikulieren, aber indem sie das persönliche Gespräch mit den Professoren suchte, konnte sie erreichen, zumindest als Gasthörerin zugelassen zu werden. Sie besuchte in dem Jahr in Heidelberg Vorlesungen von Robert Wilhelm Bunsen zur Chemie, von Hermann von Helmholtz und Gustav Kirchhoff zur Physik und Mathematik bei Paul du Bois-Reymond und Leo Koenigsberger. Letzterer empfahl ihr einen Wechsel nach Berlin, um bei Karl Weierstraß zu studieren.

Im Winter 1870 ging Kowalewskaja also ohne ihren Mann und ihre Schwester, mit denen sie in Heidelberg gelebt hatte, dorthin und bewarb sich als Schülerin bei Weierstraß. Obwohl ihre Professoren sie wärmstens empfahlen, unterzog der Mathematiker sie vorab einer schweren Prüfung. Ihre Antworten, eine Woche später geliefert, überzeugten ihn und legten den Grundstein für ein vierjähriges Privatstudium. Dabei besuchten sie sich gegenseitig jeweils einmal die Woche; da der Professor unverheiratet war und Kowalewskajas Ehe zu dieser Zeit nur auf dem Papier bestand, ist es möglich, dass sich auch eine persönliche Beziehung zwischen den beiden entwickelte. Kowalewskaja unterbrach ihr Studium nur einmal, um 1871 der Schwester Anna in Paris zur Seite zu springen (deren Ehemann wurde als politischer Aktivist verhaftet, doch die Wassiljewna-Schwestern konnten mit den Beziehungen ihres Vaters eine Freilassung erwirken). Schon im Folgejahr begann sie mit der Arbeit an drei Dissertationen gleichzeitig, unterstützt von Weierstraß und in höchster Intensität bis zu sechzehn Stunden am Tag. Dabei wusste sie noch nicht einmal, wo sie diese einreichen sollte, da sie offiziell an keiner deutschen Universität promovieren konnte – als Frau. Karl Weiertraß, der im übrigen grundsätzlich kein Freund des Studiums für Frauen war, riet ihr nach längerer Suche dazu, es an der Georg-August-Universität Göttingen zu versuchen. Als Kowalewskaja dort ihre drei Dissertationen einreichte, stellte Ernst Schering, die sie begutachtete, fest, dass sie mit jeder davon den Doktortitel verdient hatte. Sie erhielt ihre Doktorwürde schließlich 1874 summa cum laude. Damit war sie die erste Frau, die an einer europäischen Universität promovierte.

Nach diesem erfolgreichen Abschluss kehrte Kowalewskaja nach Russland zurück, doch hier erwartete sie ein Rückschlag. Doktorgrad hin oder her, ohne Magisterexamen durfte sie in Russland nicht unterrichten, und das Magisterexamen bekam sie nicht ohne Studium in Russland, zu dem sie als Frau nicht zugelassen war. Diese Enttäuschung veranlasste sie, sich von der Mathematik gänzlich abzuwenden; sie versuchte, mit ihrem Mann ein geregeltes Eheleben zu führen, und gebar 1878 eine Tochter, der sie sich in den ersten zwei Lebensjahren vollständig widmete. Doch ihr Mann verspekulierte ihr gemeinsames Geld, sodass sie sich nach sechs Jahren Mathematik-Abstinenz wieder ihrer Leidenschaft zuwandte. Sie übersetzte ihre bisher noch nicht veröffentlichte dritte Dissertation ins Russische und besuchte damit den 6. Kongress der Naturwissenschaftler und Ärzte, außerdem zog die Familie nach Moskau, wo sie regelmäßig Veranstaltungen der Moskauer Mathematischen Gesellschaft besuchte. Als ihr Mann sich schließlich mit erfolglosen Ölgeschäften vollständig finanziell ruiniert hatte, beschloss sie, sich mit der Tochter Fufa erneut nach Europa aufzumachen.

1881 ging sie zunächst nach Berlin, dann weiter nach Paris. Dorthin nahm sie jedoch ihre Tochter nicht mit, stattdessen sandte sie Fufa zurück nach Russland, wo das Kind von nun an bei ihrer Freundin und Kollegin Julia Lermontowa aufwuchs. In Paris fand sie 1882 ein anderer ehemaliger Schüler Karl Weierstraß‘, Gösta Mittag-Leffler, der sie dank seines Ansehens mit den wichtigsten französischen Mathematikern bekannt machen konnte. Das führte dazu, dass sie schon wenige Monate später in die Pariser Mathematische Gesellschaft gewählt wurde und wiederum eine Arbeit auf dem 7. Kongress der Naturwissenschaftler und Ärzte vortrug.

Der Selbstmord ihres Mannes traf sie zwar als persönliches Ereignis, doch ermöglichte ihr der Witwenstatus nun etwas, was weder als alleinstehende noch als verheiratete Frau möglich gewesen war: Sie war nun auf respektable Weise unabhängig und für sich selbst verantwortlich. So konnte Mittag-Leffler sie endlich als Privatdozentin an der Universität Stockholm einladen, eine Tatsache, die Schweden unverhältnismäßig stark bewegte. Die Zeitung befassten sich mit der Frau, die alleine für eine Dozentur in ein ihr völlig unbekanntes Land zog; es war jedoch nicht nur Bewunderung, die laut wurde. August Strindberg (alter weißer Mann seiner Zeit) schrieb über ihre Professur:

Ein weiblicher Mathematikprofessor ist eine gefährliche und unerfreuliche Erscheinung, man kann ruhig sagen, eine Ungeheuerlichkeit. Ihre Einladung in ein Land, in dem es so viele ihr weit überlegene männliche Mathematiker gibt, kann man nur mit der Galanterie der Schweden dem weiblichen Geschlecht gegenüber erklären.

Quelle: Wikipedia

Kowalewskaja nahm es gelassen; sie hatte Grund genug für ein stabiles Selbstbewusstsein, nicht nur aufgrund ihrer mathematischen Fähigkeiten, sie hielt auch bereits nach einem Jahr, in dem sie zu erst auf Deutsch (für sie Fremdsprache) unterrichtete, ihre Vorlesungen auf Schwedisch. Das Strindbergs Urteil sie nicht verunsicherte, beweist ein Brief, den sie an Mittag-Leffler schrieb:

Als Weihnachtsgeschenk erhielt ich von Ihrer Schwester einen Artikel von Strindberg, in dem er so klar beweist, wie zweimal zwei vier ist, daß eine solche Ungeheuerlichkeit wie ein weiblicher Professor der Mathematik schädlich, unnütz und unangenehm ist. Ich finde, daß er im Grunde ganz recht hat, nur gegen eines protestiere ich, daß nämlich in Schweden eine große Anzahl Mathematiker leben soll, die mir weit überlegen seien und daß man mich nur aus Galanterie berufen habe.

Quelle: Wikipedia

In Mittag-Lefflers Auftrag trug sie für Acta Mathematica, die einzige mathematische Fachzeitschrift Skandinaviens, verschiedene Veröffentlichungen russischer, deutscher und französischer Mathematiker zusammen und wurde in Folge 1884 die erste Frau, die als Herausgeberin an einer wissenschaftlichen Zeitung beteiligt war. Im gleichen Jahr wurde ihre Privatdozentur in eine ordentliche Dozentur umgewandelt – nicht ohne Widerstand der männlichen Kollegen und auf fünf Jahre befristet. Damit war sie die erste Professorin in Europa seit fast hundert Jahren, als verspätete Nachfolgerin von Laura Bassi (1776 Professorin für Physik in Bologna) und Maria Gaetana Agnesi (1748 ebenfalls für Physik in Bologna, jedoch ohne Lehrtätigkeit).

1886 löste Kowalewskaja ein in der Mathematik bestehendes Problem in der Rotation fester Körper. Soweit ich das als mathematisch völlig Ahnungslose verstehen kann, fand sie einen Kreiseltypen, dessen Bewegungen sich mathematisch berechnen und vorhersagen lässt, unabhängig davon, wie die Bewegung anfänglich aussieht. Dies war in zwei anderen Fällen vorher nur Leonhard Euler (1707-1783) und Joseph-Louis Lagrange (1736-1813) gelungen, nach Kowalewskaja nur noch Dmitri Nikanorowitsch Gorjatschew (1867-1949) und Sergei Alexejewitsch Tschaplygin (1862-1942). Als sich diese Entdeckung herumsprach, wurde der renommierte Bordin-Preis der Académie des sciences im Jahr 1888 ausdrücklich für einen Beitrag zur Rotation fester Körper ausgeschrieben – damit Kowalewskaja ihn gewinnen konnte. Die Einreichungen für den Preis waren grundsätzlich anonym, doch Kowalewskajas Abhandlung wurde nicht nur als beste gekürt, der Preis wurde aufgrund der Qualität ihrer Arbeit von den üblichen 3.000 auf 5.000 Francs hochgesetzt. Ihre Erkenntnis ist heute als Kowalewskaja-Kreisel bekannt.

Im Jahr zuvor war ihre Schwester gestorben, die Trauer darüber hatte sie mit der vertieften Arbeit für den Bordin-Preis verarbeitet. Nachdem sie die Ausschreibung gewonnen hatte, schrieb sie ihre Kindheitserinnerungen und veröffentlichte sie mit großem Erfolg in Schweden, ebenso verfasste sie Jugenderinnerungen und eine Novelle mit dem absolut charmanten Namen „Die Nihilistin“. 1889 lief ihre Professur in Stockholm eigentlich aus und sie bewarb sich in Frankreich und Russland auf andere Stellen. Wieder war es Mittag-Leffler, der ihr zu Hilfe kam, durch seinen Einsatz wurde ihre Professur in Stockholm doch auf Lebenszeit verlängert. Weder in Frankreich noch in Russland hätte sie eine Beschäftigung gefunden; Frankreich ehrte sie nur mit einer Urkunde, in Russland wurde sie nur zum „korrespondierenden Mitglied Russischen Akademie der Wissenschaft“ gewählt.

Bereits zwei Jahre später jedoch zog sie sich in Cannes eine Grippe zu, die sich auf dem Heimweg nach Stockholm über Paris und Berlin zu einer Lungenentzündung auswuchs. Nach ihrer Ankunft in der schwedischen Heimat starb sie daran, mit nur 41 Jahren. Ein Kollege, Leopold Kronecker (der ein halbes Jahr später ebenfalls an Bronchitis starb), schrieb in seinem Nachruf:

Die Geschichte der Mathematik wird von ihr als einer der merkwürdigsten Erscheinungen unter den überhaupt äusserst seltenen Forscherinnen zu berichten haben.

Quelle: Wikipedia

*

Ebenfalls diese Woche

Januar 1968: Zeng Fanyi (Link Englisch)
Die in Shanghai tätige Genetikerin bewies 2009 mit ihrem Team, dass sich ein vollständiger Säugetierkörper aus induzierten pluripotenten Stammzellen heranzüchten lässt.

14. Januar 1862: Carrie Derick (Link Englisch)
Die Botanikerin und Genetikerin war die erste Professorin an einer kanadischen Universität.

14. Januar 1938: Indira Nath
Als Spezialistin in der Pathologie, Immunologie und Infektiologie forscht Nath zur Immunantwort und Nervenschädigung, die eine Infektion mit Lepra auf zellulärer Ebene anrichtet.

17. Januar 1647: Elisabetha Hevelius
Nach der Heirat mit dem Bierbrauer und Astronom Johannes Hevelius assistierte sie ihm bei der Errichtung einer Sternwarte und der Erstellung eines Sternenkatalogs, den sie nach seinem Tod allein fertigstellte.

17. Januar 1877: Marie Zdenka Baborová-Čiháková (Link Englisch)
Sie war die erste Botanikerin und Zoologin Tschechiens.

17. Januar 1917: Ruth Smith Lloyd (Link Englisch)
1941 erhielt die Medizinerin als erste Afroamerikanerin die Doktorwürde, an der Western Reserve University im Fach Anatomie. Sie forschte zur weiblichen Fruchtbarkeit, dem Einfluss der Geschlechtshormone auf das Körperwachstum und zum weiblichen Zyklus.

19. Januar 1859: Alice Eastwood
Die kanadisch-stämmige Botanikerin rettete die Typus-Sammlung des Herbariums der California Academy of Science vor dem Feuer, ausgelöst durch das große Erdbeben von San Francisco 1906.

WEG MIT
§218!