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46/2020: Josephine Silone Yates, 15. November 1859

CN: In den englischen Titeln aus der Zeit der Jahrhundertwende 18./19. in diesem Beitrag wird eine Form des N-Wortes verwendet.

Josephine Silone Yates (Link Englisch) kam möglicherweise auch schon 1852 zur Welt – ich richte mich mit Altersangaben in diesem Beitrag jedoch nach dem alternativen, genaueren Datum.

Josephine war die zweite Tochter von Alexander und Parthenia Reeve Silone und lebte mit ihren Eltern und ihrer Schwester bei ihrem Großvater mütterlicherseits, einem befreiten Sklaven, in Mattituck, New York. Die Mutter brachte ihr mit der Bibel das Lesen bei, in der Grundschule zeigte sich bereits ihr großes Potential. So zog sie mit 11 Jahren zu ihrem Onkel, einem Pastor in Philadelphia, um dort das Institute for Coloured Youth (Link Englisch) zu besuchen. Die Direktorin Fanny Jackson Coppin (Link Englisch) wurde dort ihre Mentorin. Allerdings musste Josephine Silone schon im nächsten Jahr umziehen, da ihr Onkel an eine Universität versetzt wurde. Mit 12 Jahren zog sie also zu ihrer Tante mütterlicherseits nach Newport, Rhode Island. Dort besuchte sie eine weiterführende Schule und anschließend die Highschool; an beiden Schulen war sie einzige Schwarze Schülerin, doch erfuhr sie von Lehrer:innen und Schüler:innen wohl Respekt. Ihr Lehrer (oder Lehrerin) in Naturwissenschaften hielt sie für eine der begabtesten Schüler:innen und ermöglichte ihr Zugang zum Chemielabor für eigenverantwortliche Arbeiten.

1877, also vermutlich mit 18 Jahren, machte sie mit Auszeichnung ihren Highschool-Abschluss, als erste Schüler:in of Colour an der Schule. Sie war die Schülerin mit dem besten Abschluss und durfte daher traditionsgemäß die Abschiedsrede des Jahrgangs halten, außerdem erhielt sie eine Medaille und ein Stipendium für ein Universitätsstudium. Statt einer Hochschul-Karriere entschied sich Silone jedoch für eine Ausbildung zur Lehrerin, die sie an der Rhode Island State Normal School in Providence antrat. Dort machte sie zwei Jahre später – wiederum als erste Person of Colour – ihren Abschluss und war damit die erste Afro-Amerikanerin mit einer Zulassung als Lehrerin an Schule in Rhode Island. Später sollte ihr die National University of Illinois einen MSc-Grad verleihen.

Die Reihe der Ersten Male für eine Afro-Amerikanerin setzte Josephine Silone fort, als sie nach ihrem Abschluss eine der ersten Lehrer:innen of Colour an der Lincoln University in Jefferson City, Missouri wurde. Diese war nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg explizit für Afro-Amerikaner:innen gegründet worden, mit weißen und oC Lehrer:innen. Der Präsident Inman E. Page (Link Englisch) fand es jedoch für den Erfolg der Schule entscheidend, weiße Lehrende mit PoC zu ersetzen, um den Schüler:innen Rollenvorbilder zu bieten.

Wie alle Lehrenden lebte Silone auf dem Campus, in den Häusern, in denen sich die Schlafräume der Student:innen befanden. Sie unterrichtete Chemie, englische Literatur und ‚elocution‘, was sowohl Rhetorik wie auch Diktion bedeuten kann. Als sie zur Leiterin des Naturwissenschaftlichen Fachbereichs ernannt wurde, war sie wiederum die erste WoC, die einem naturwissenschaftlichen Fachbereich an einem College vorstand, außerdem (möglicherweise) die erste WoC mit voller Professur an einer US-Hochschule.

Ihre Philosophie als Lehrende beschrieb sie wie folgt: „Das Ziel jeglicher wahrer Bildung ist es, Körper und Seele alle Schöheit, Kraft und Perfektion zu geben, zu denen sie fähig sind, um das Individuum für ein vollständiges Leben auszustatten.“ (Quelle: Wiki)

Nach zehn Jahren an der Universität heiratete Josephine Silone William Ward Yates, den Direktor einer Schule in Kansas City. Als verheiratete Frau musste sie ihren Beruf daraufhin aufgeben, sie wurde dafür jedoch in der afro-amerikanischen Frauenbewegung aktiv. Sie schrieb als Korrespondentin für The Woman’s Era (Link Englisch) und andere Magazine, wie The Voice of the Negro (CN N-Wort im deutschen Beitrag). Für ihre Autorinnentätigkeit verwendete sie manchmal ihren eigenen Namen, manchmal schrieb sie unter dem Pseudonym R. K. Potter. Sie war 1893 eine der Mitbegründerinnen der Women’s League of Kansas City, eine Organisation zur Selbsthilfe und Verbesserung der Lebensumstände afro-amerikanischer Frauen, und deren erste Präsidentin. Als sich die Women’s League drei Jahre später der National Association of Coloured Women anschloss, wurde Silone Yates zunächst deren Schatzmeisterin und Vizepräsidentin von 1897 bis 1901, anschließend dann für vier Jahre bis 1904 deren Präsidentin. Außerdem bekam sie 1890 eine Tochter und 1895 einen Sohn.

1902 wurde sie vom Kompendium Twentieth Century Negro Literature; or, A Cyclopedia of Thought on the Vital Topics Relating to the American Negro als eine der 100 ‚America’s Greatest Negros‘ gelistet. Die Lincoln University berief sie zurück, um die Leitung für den Fachbereich Englisch und Geschichte zu übernehmen, sodass sie schließlich doch wieder in die Lehrtätigkeit kam.

1908 wollte sie allerdings wegen Krankheit ausscheiden, doch der Verwaltungsrat gestattete ihr dies nicht, und so blieb sie als Frauenberaterin an der Hochschule tätig. Als jedoch zwei Jahre später ihr Mann starb, setzte sie sich zur Ruhe udn kehrte nach Kansas City zurück. Schon am 3. September 1912 starb sie selbst, nach kurzer Krankheit.

Auch Wednesday Women und BlackPast widmen Josephine Silone Yates einen Beitrag.

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Ebenfalls diese Woche

9. November 1871: Florence Rena Sabin
Die US-amerikanische Ärztin war 1917 die erste Frau mit einer Professur an der medizinischen Fakultät der Johns Hopkins University und die erste Frau, der die Leitung eines wissenschaftlichen Instituts, nämlich der Rockefeller University, übertragen wurde.

9. November 1914: Hedy Lamarr
Wenn es um vergessene und verborgene Fähigkeiten von schönen Frauen geht, gehört sie immer dazu. Lamarr, in Wien unter dem Namen Hedwig Eva Maria Kiesler geboren, war Schauspielerin und im nationalsozialistischen Deutschland verrufen für ihre mimische Darstellung eines Orgasmus.

Damals in Deutschland verboten, heute zwar eindeutig, aber doch zahm: Hedy Lamarrs Darstellung eines Orgasmus

Hier steht sie aber selbstverständlich für ihre Erfindung einer Funkfernteuerung für Torpedos, die selbsttätig die Frequenzen wechselte und deswegen vor Störungen durch den Feind weitgehend sicher war. Während ihre Erfindung zum damaligen Zeitpunkt zu komplex für eine massenhafte Anwendung war, basiert unter anderem das frequency hopping der Bluetooth-Technologie darauf.

11. November 1866: Martha Annie Whiteley (Link Englisch)
Die englische Chemikerin trug entscheidend dazu bei, dass Frauen in der Chemical Society aufgenommen wurden.

12. November 1957: Rihab Taha (Link Englisch)
Eine Frau auf der Schattenseite der Wissenschaft: Die irakische Mikrobiologin zeichnete für die Produktion von biologischen Waffen im Irak verantwortlich, unter anderem Anthrax und Botulinumtoxin. Sie wurde dafür von einigen auch ‚Dr. Germ‚ genannt.

40/2020: Teruko Ishizaka, 28. September 1928

Ishizaka Teruko (in der asiatischen Reihenfolge von Nach- und Vorname) kam in Yamagata in Japan zur Welt. Ihr Vater war Anwalt, die Familie wohlhabend und angesehen, Terukos Bildung und berufliche Bestrebungen wurden unterstützt und gefördert.

1949 erreichte sie ihren MD an der Tokyo Women’s Medical School und heiratete Ishizaka Kimishige, 1955 erlangte sie einen PhD in Medizin an der Universität Tokio. Gemeinsam mit ihrem Mann erforschte sie die Anaphylaxie, die übermäßige Immunreaktion bei Allergien.

Das Ehepaar Ishizaka ging 1957 gemeinsam an das California Institute of Technology (CalTech), wo sie speziell die Antigen-Antikörper-Reaktion der Immunreaktion untersuchten. Sie wechselten noch einige Male die berufliche Heimat – zeitweise arbeiteten sie für das nationale Gesundheitsinstitut Japans, dann wieder in den USA am Children’s Asthma Research Institute and Hospital in Denver, heute National Jewish Health (Link Englisch).

Die bedeutendste Entdeckung ihrer Karriere veröffentlichte Teruko Ishizaka 1969: Mit ihrem Mann hatte sie den letzten Antikörper-Isotyp entdeckt, das Immunglobulin E (IgE), das eine wichtige Rolle bei den Abläufen einer allergischen Reaktion spielt. Zwei Forscher in Schweden entdeckten IgE zur gleichen Zeit, und die Ishizakas schrieben gemeinsam mit S.G.O. Johansen und Hans Bennich einen Aufsatz über ihre Entdeckung. Kurz nach der Veröffentlichung ihrer Forschung wechselte das Paar an das Allergy and Immunology Center der Johns Hopkins University in Baltimore.

Für ihre Erkenntnisse erhielt das Ehepaar 1972 den Passano Foundation Award und 1973 den Gairdner Foundation International Award.

Zwanzig Jahre, nachdem sie der Welt das IgE bekannt gemacht hatte, konnte Teruko Ishizaka erstmals nachweisen, dass menschliche Mastzellen, an denen sich das IgE ansiedelt und spätere Immunreaktionen auslöst, aus hämatopoetischen (blutbildenden) Stammzellen entstehen. Dies war bisher nur an Mäusen nachgewiesen worden, die Entdeckung spielte eine Rolle für die Entwicklung der Hyposensibilisierung (Allergieimpfung) als Allergietherapie.

1990 war Teruko Ishizaka die erste Frau in Japan, die den BehringKitasato-Preis erhielt.

Mit ihrem Mann, der eine Stelle in San Diego angetreten war, zog sie ein weiteres Mal nach Kalifornien, wo sie sich 1993 zur Ruhe setzte. Drei Jahre später beendete auch ihr Ehemann seine berufliche Karriere und die beiden zogen in ihre Heimat zurück. Dort verbrachten sie ihren Lebensabend, bis Kimishige 2018 und Teruko Ishizaka am 4. Juni 2019 mit 92 Jahren starb.

Der japanische Tag der Allergie wird seit 1995 jedes Jahr am 20. Februar in Japan gefeiert, im Rahmen einer ganzen Woche, die auf die Thematik aufmerksam machen soll.

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Ebenfalls diese Woche

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Tsai-Fan Yu

* 1911 • † 2. März 2007

Der deutsche Wikipedia-Eintrag von Tsai-Fan Yu nennt unbekümmert ein genaues Datum ihrer Geburt nach einer Quelle, die ich leider nicht verifizieren kann. Dieses Datum ( 24. Oktober) wird an keiner anderen Stelle genannt, also lasse ich es derzeit mit Fragezeichen versehen (außerdem wirft es den Ablauf des Zeitstrahls um, wenn ich Yu in den herkömmlichen Kalender übernehme).

Geboren wurde sie in Shanghai; als sie 13 Jahre alt war, starb ihre Mutter, der alleinerziehende Vater arbeitete zeitweise in drei Jobs, um der Tochter die schulische Laufbahn zu ermöglichen, zu der sie offenbar befähigt war. Ihr Studium der Medizin nahm sie am Ginling College (Link Englisch) auf, doch bereits im zweiten Studienjahr (möglicherweise nach einem Bachelor-Abschluss) erhielt sie ein Stipendium für ein weiteres Studium am Peking Union Medical College (Link Englisch), das nach dem Beispiel der Johns Hopkins Universität unterrichtete. Yu machte dort 1939 mit 28 Jahren ihren Doktor mit Bestnoten und im gleichen Jahr sofort als Chief Medical Resident (in etwa Chefärztin) für Innere Medizin.

Während sie in China arbeitete, erforschte sie auch Pflanzenkrankheiten von Zitrusfrüchten und Bohnen. 1947 kam sie nach New York, um am College of Physicians and Surgeons der Columbia University zu unterrichten. Drei Jahre später erhielt sie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Zehn Jahre nach ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten fand sie am Mount Sinai Hospital ihre berufliche Heimat, hier sollte sie 1973 die erste Frau in den USA werden, die eine volle Professur erhielt.

Ihr Lebenswerk war die Erforschung und Behandlung von Stoffwechselkrankheiten. Nachdem sie sich anfangs mit Morbus Wilson befasst hatte, einer Erbkrankheit, die den Kupferstoffwechsel der Leber beeinträchtigt, konzentrierte sie sich den Großteil ihres beruflichen Lebens am Mount Sinai Hospital auf die Gicht. Diese wird ausgelöst durch erhöhte Harnsäurekonzentration im Blut, der eine Nierenfehlfunktion zugrunde liegt. Neben den Schüben mit schmerzhaften Entzündungen der Gelenke und anderen Geweben wirkt sich dieser gestörte Stoffwechsel auch wiederum nachteilig auf die Nieren aus.

Tsai-Fan Yu stellte in ihrer Forschung die Verbindung her zwischen den Harnsäurewerten im Blut und dem Ausmaß der Gelenkschmerzen von Gichtpatienten. Sie klassifizierte die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Gicht und untersuchte die Zusammenhänge der Gicht mit anderen Erkrankungen. So stellte sie fest, dass etwa die Hälfte aller Gichtpatienten auch an anderen metabolischen Krankheiten leidet, wie Bluthochdruck, Proteinurie (erhöhte Ausscheidung von Proteinen durch den Urin), Diabetes oder Hyperlipoproteinämie (u.a. erhöhter Cholesterinspiegel).

In den 1950er Jahren trug Yu entscheidend zur Entwicklung von Medikamenten gegen die Gicht und ihre Symptome bei; sie entdeckte die Wirkstoffe Probenecid, Colchicin und Phenylbutazon zumindest für akute Gichtanfälle. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Alexander B. Gutman trug sie in diesen Jahren auch zur Einrichtung einer spezialisierten Gichtklinik am Mount Sinai Hospital bei. In den 1960er Jahren entwickelte sie dank ihrer weiteren Erforschung der Krankheitsmechanismen den Wirkstoff Allopurinol, der 1977 in die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der WHO aufgenommen wurde.

Sie veröffentlichte in ihrer Laufbahn 220 wissenschaftliche Artikel sowie zwei Bücher, Gout and Uric Acid Metabolism (‚Gicht und der Harnsäurestoffwechsel‘) 1972 und zehn Jahre später The Kidney in Gout and Hyperurecimia (Die Nieren bei Gicht und Hyperurikämie).

Sie emeritierte 1992 mit 81 Jahren, bis dahin hatte sie mehr als 4.000 Gichtpatienten untersucht und behandelt. Noch 12 Jahre später, 2004, war sie an der Gründung der gemeinnützigen Tsai-Fan Yu Foundation beteiligt. Sie starb 95-jährig im Mount Sinai Medical Center in New York.

In dieser Übersicht über asiatische Wissenschaftler:innen der Asia Research News wird auch Tsai-Fan Yu erwähnt.

26/2020: Maria Goeppert-Mayer, 28. Juni 1906

Maria Goeppert wurde in Katowice, damals Preußen, in eine Familie von Professoren geboren. Als sie 10 Jahre alt war, zog sie mit ihren Eltern nach Göttingen. Dort besuchte sie eine höhere Schule, die speziell Mädchen für ein Universitätsstudium vorbereiten sollte; mit 17, ein Jahr früher als ihre Komiliton:innen, machte sie als eines von drei oder vier Mädchen das Abitur.

Zunächst studierte sie an der Universität Göttingen Mathematik, zu dieser Zeit um 1924 müsste sie auch Emmy Noether dort angetroffen haben. Nach drei Jahren Studium wechselte Goeppert jedoch zur Physik, in der sie nach weiteren drei Jahren ihre Dissertation über die Theorie der Zwei-Photonen-Absorption schrieb. Diese Theorie, dass ein Molekül oder Atom zur gleichen Zeit (innerhalb von 0,1 Femtosekunde) zwei Photonen aufnehmen kann und dabei in einen energetisch angeregten Zustand übergeht, konnte zu dieser Zeit nicht experimentell nachgewiesen werden. Dieses Ereignis ist extrem unwahrscheinlich: Die Absorption eines Photons in einem Molekül oder Atom geschieht in etwa einmal pro Sekunde unter guten Bedingungen, das heißt bei hoher Lichteinstrahlung. Die gleichzeitige Absorption zweier Photonen tritt hingegen unter den gleichen Bedingungen nur alle 10 Millionen Jahre auf. Erst 1961 konnte Goepperts Theorie dank der Erfindung des Lasers nachgewiesen werden, die Einheit, in der die Wahrscheinlichkeit einer Zwei-Photonen-Absorption gemessen wird, heißt ihr zu Ehren GM (Goeppert-Mayer). Ihre Prüfer im Rigorosum waren Max Born, James Franck und Adolf Windaus, alles drei zu diesem Zeitpunkt oder spätere Nobelpreisträger. Eugene Wigner, ebenfalls Nobelpreisträger, bezeichnete ihre Arbeit später als „Meisterwerk der Klarheit und Greifbarkeit“.

Im gleichen Jahr, in dem sie ihren Doktortitel errang, hatte sie auch Joseph Edward Mayer geheiratet, einen Fellow der Rockefeller Foundation und Assistent von James Franck. Mit ihm zog sie nach ihrer Promotion in die USA, wo Mayer als außerordentlicher Professor an der Johns Hopkins University lehrte. Goeppert-Mayer konnte dort keine Anstellung finden, denn die Hochschule hatte strenge Nepotismus-Regeln, die die gleichzeitige Beschäftigung von Ehepaaren untersagten. Diese waren ursprünglich eingerichtet worden, um Gönnerschaft zu unterbinden, doch inzwischen hielten sie hauptsächlich die Ehefrauen der Professoren von beruflicher Tätigkeit auf dem Campus ab. Goeppert-Mayer konnte sich schließlich gegen sehr kleines Gehalt im Fachbereich für Physik an der deutschen Korrespondenz beteiligen, so hatte sie auch Zugang zu den Laboren. In dieser Zeit arbeitete sie mit Karl Herzfeld an seinen Forschungen zur Quantenmechanik, sie unterrichtete auch unentgeltlich und schrieb eine Arbeit über doppelten Betazerfall. Sie kehrte bis 1933 noch dreimal nach Göttingen zurück, unter anderem um dort mit Max Born an einem Artikel für das Handbuch der Physik zu arbeiten. 1933 verloren Born und James Franck aufgrund der Judenverfolgung unter der faschistischen Regierung Deutschlands ihre Stellen an der Göttinger Universität, James Franck folgte seinem ehemaligen Assistenten nach Baltimore.

1937 wurde Mayer allerdings von der Johns Hopkins Universität entlassen, die Gründe dafür sind unklar. Mayer vermutete Misogynie, nämlich dass der Dekan es nicht gerne sähe, wie frei Mayer seiner Frau Zugang zu den Laboren gewährte. Herzfeld stimmte ihm zu, möglicherweise fühle sich aber auch das amerikanische Kollegium von „zu vielen Deutschen“ (das Ehepaar Goeppert-Mayer, Herzfeld und Franck) überrannt. Es soll auch Beschwerden über die Inhalte des Chemie-Unterrichts gegeben haben, den Goeppert-Mayer hielt: Sie spreche zu viel über moderne Physik. Goeppert-Mayer lehrte noch bis 1939 in Baltimore, dann wechselte das Ehepaar gemeinsam an die Columbia University in New York. Joseph Mayer konnte dort als Professor lehren, Maria Goeppert-Mayer bekam hier zwar ein eigenes Büro, doch für ihre Tätigkeit an der Fakultät wiederum kein Gehalt.

An der Columbia University freundete sich Goeppert-Mayer mit dem Chemiker Harold Urey und dem Physiker Enrico Fermi an und schloss sich deren Forschungen an, zu den Valenzelektronen der bis dahin noch unentdeckten transuranischen Elementen. Die Anzahl der Valenzelektronen, das heißt der Elektronen auf der äußersten Schale eines Elements, die an chemischen Verbindungen beteiligt sein können, bestimmen die Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Gruppen des Periodensystems und lassen Vermutungen über ähnliche chemikalische Eigenschaften zu. Basierend auf dem Thomas-Fermi-Modell, das die Elektronenhülle wie eine Gaswolke interpretiert, stellte Goeppert-Mayer die Voraussage auf, dass die Elemente, die im Periodensystem hinter dem Uran folgen müssten, zur Gruppe der Metalle der Seltenen Erden gehören würden. Diese Voraussage sollte sich als wahr herausstellen.

1941 wurde Maria Goeppert-Mayer zur Fellow der American Physical Society und im Dezember dieses Jahres trat sie ihre erste bezahlte Lehrtätigkeit am Sarah Lawrence College an. Nachdem die USA in den Zweiten Weltkrieg eingetreten waren, schloss sie sich im Folgejahr in Teilzeit dem Manhattan-Projekt an. Ihre Aufgabe wurde es, einen Weg zu finden, das Isotop 235U, einen wichtigen Spaltstoff, in natürlichem Uran auszusondern. Dafür untersuchte Goeppert-Mayer die chemischen und thermodynamischen Eigenschaften von Uranhexafluorid (Uran(VI)-fluorid), einer Verbindung von Uran und Fluor. Sie erwog die Möglichkeit, das gewünschte Isotop mit Hilfe einer photochemischen Reaktion aus dem Stoff auszufällen, doch dies war zu dem Zeitpunkt noch nicht praktikabel; auch hier wurde die Erfindung des Lasers notwendig, um Goeppert-Mayers Theorien in die Praxis umzusetzen.

Ihr Freund Edward Teller holte sie auch kurzzeitig ins Team seines Opacity Project, das die Erschaffung einer Superbombe (Link Englisch) anstrebte. Ihr Mann wurde an die Front im Pazifik berufen, und Goeppert-Mayer beschloss, die beiden Kinder in New York zu lassen und mit Teller in Los Alamo am Project Y zu arbeiten.

Nach dem Ende des Krieges wurde Joseph Mayer Professor für Chemie an der University of Chicago, Maria Goeppert-Mayer wurde von der Hochschule als freiwillige außerordentliche Professorin eingestellt. Teller folgte ihr nach Illinois, um die Entwicklung thermonuklearer Waffen voranzutreiben. Als ihr eine Teilzeitstelle am Argonne National Laboratory angeboten wurde, als leitende Physikerin in der Abteilung für theoretische Physik, antwortete sie erstaunlicherweise: „Ich verstehe nichts von Kernphysik!“ Sie trat die Stelle jedoch an. Außerdem programmierte sie den ENIAC des Aberdeen Proving Ground auf eine bestimmte Vorgehensweise für Schnelle Brüter.

Ihre wichtigeste, erfolgreichste Arbeit leistete Goeppert-Mayer trotz dieser vielseitigen Einsätze in den 1940ern. Während sie an der University of Chicago und dem Argonne angestellt war, entwickelte sie ein mathematisches Modell für den Aufbau des Schalenmodells, das sie 1950 veröffentlichte. Sie erklärte, warum eine bestimmte Anzahl Nukleone (Protonen und Neutronen) in Atomkernen besonders häufig vorkamen und besonders stabil sind. Diese Zahlen nannte Eugene Wigner die ‚Magischen Zahlen‚, die Reihe der „stabilen“ Protonen- und Neutronen-Anzahlen lautet 2, 8, 20, 28, 50, 82 und 126. Das Schalenmodell war für die Elektronen-aufenthaltswahrscheinlichkeitsräume des Atoms bereits erfolgreich, doch vom Atomkern bestand zu diesem Zeitpunkt noch ein anderes Modell, welches jedoch nicht die Inseln der Stabilität in den Elementen erklärte. Im Gespräch mit Enrico Fermi stellte dieser Goeppert-Mayer die Frage, ob es einen Hinweis auf Spin-Bahn-Kopplung gäbe – einen Zusammenhang des Spin, also der Eigendrehung eines Teilchens, und seiner Bahn, also seiner Bewegung innerhalb des Atoms, der sich in der Stärke der Wechselwirkung des Teilchens bemerkbar macht. Diese Kopplung war für Elektronen bekannt, doch angestoßen von Fermis Frage stellte Goeppert-Mayer die Theorie auf, dass dieser Effekt auch im Atomkern wirke und konnte so die Bedeutung der ‚magischen Zahlen‘ in der Kernphysik erklären. Sie erläuterte es kurz und anschaulich wie folgt:

Denken Sie an einen Raum voller Walzertänzer:innen. Nehmen wir an, sie durchtanzen den Raum in Kreisen, jeder Kreis umschlossen von einem weiteren Kreis. Nun stellen Sie sich vor, Sie könnten zweimal so viele Tänzer:innen in einem Kreis unterbringen, indem Sie ein Paar mit und das andere Paar entgegen dem Uhrzeigersinn tanzen lassen. Nun bringen Sie noch weitere Variationen ein; alle Paare drehen sich um sich selbst wie Kreisel, während sie durch den Raum kreisen, jedes Paar dreht sich also um sich selbst (twirling) und durch den Raum (circling). Aber nur einige von denen, die gegen den Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen, drehen sich auch im Uhrzeigersinn um sich selbst. Die anderen drehen sich im Uhrzeigersinn um sich selbst, während sie gegen den Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen. Das gleiche ist wahr für die, die im Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen: Einige drehen sich im Uhrzeigersinn um sich selbst, andere dagegen.

Übersetzt nach dem Abschnitt ‚Nuclear shell modell‘ des englischen Wikipediabeitrags

Zum gleichen Schluss waren zeitgleich die Physiker Otto Haxel, Hans D. Jensen und Hans E. Suess in Hamburg gekommen; Goeppert-Mayers Arbeit wurde zur Prüfung im Februar 1949 eingereicht, die der Hamburger Forscher im erst im April. Als Goeppert-Mayer in Juni 1949 die Ankündigung der Ergebnisse ihrer Kollegen las, versuchte sie noch, ihre Veröffentlichung zu verschieben, damit beide Arbeiten nebeneinander erscheinen könnten, doch dies ließ sich nicht mehr einrichten. So wurde zuerst Goeppert-Mayer als die Entdeckerin des Schalenmodells für den Atomkern bekannt. Es entstand jedoch ein gutes kollegiales Verhältnis zwischen Goeppert-Mayer und Jensen und die beiden brachten 1950 gemeinsam ein Buch zu ihrer Theorie heraus.

In den 1950er Jahren wurde Maria Goeppert-Mayer Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der National Academy of Sciences, doch erst 1960 wurde sie endlich vollwertiges Mitglied einer Fakultät, als sie den Lehrstuhl für Physik an der University of California übernahm. Bereits kurz darauf erlitt sie einen Schlaganfall, der sie jedoch nicht von der Arbeit abhalten sollte. 1963 erhielt sie gemeinsam mit Hans D. Jensen eine Hälfte des Nobelpreises für Physik, die andere Hälfte erhielt Eugene Wigner. Goeppert-Mayer war die zweite weibliche Gewinnerin dieses Preises nach Marie Curie, 60 Jahre zuvor. Zu dieser Errungenschaft titelte damals die San Diego Tribune: ‚S.D. Mother Wins Nobel Physics Prize‘ (‚Mutter aus San Diego gewinnt Physik Nobelpreis‘). Hierzu bezog die Nachfolgepublikation The San Diego Union-Tribune im Oktober 2018 Stellung, anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Physik an die dritte Frau überhaupt, Donna Strickland, 55 Jahre nach Goeppert-Mayer.

Zwei Jahre später wurde sie zum Fellow der American Academy of Arts and Sciences. 1971 erlitt sie einen Schlaganfall, in dessen Folge sie ein Jahr lang im Koma lag, bis sie am 20. Februar 1972 verstarb. Die American Physical Society rief 1986 den Maria Goeppert-Mayer Award ins Leben, der jugnen Physikerinnen verliehen wird. Gewinnerinnen müssen einen Doktortitel innehaben, sie erhalten einen Geldbetrag und die Möglichkeit, an vier größeren Institutionen Vorträge über ihre Arbeit zu halten. Auch das Argonne National Laboratory verleiht jedes Jahr im Namen Goeppert-Mayers einen Preis an herausragende Wissenschaftlerinnen, ihre letzte Universität in Kalifornien hält ein jährliches Symposium in ihrem Namen, in dem Wissenschaftlerinnen zusammenkommen. Ein Krater auf der Venus von 35 Kilometer Durchmesser ist nach Maria Goeppert-Mayer benannt.

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Ebenfalls diese Woche

22. Juni 1939: Ada Yonath
Über diese Chemikerin schrieb ich im Juni 2018.

23. Juni 1871: Jantine Tammes
Die Leidtragende des Matilda-Effektes trug entscheidende Erkenntnisse zur Pflanzengenetik bei, die jedoch ihrem männlichen Kollegen zugeschrieben wurden.

23. Juni 1951: Maria Klawe
Die amerikanische Informatikerin leitet seit 2006 als erste Frau das Harvey Mudd College in Kalifornien.

26. Juni 1862: Ella Church Strobell (Link Englisch)
Gemeinsam mit ihrer Kollegin Katharine Foot trug die Zellbiologin mit Fotografien zum besseren Verständnis der Chromosomen und ihrer Funktion bei.

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