Schlagwort: menschenrechtsaktivistin

32/2023: Laura Hershey, 11. August 1962

Als Kleinkind wurde Laura Hershey, erstes von zwei Kindern einer Familie in Littleton, Colorado, mit Spinaler Muskelatrophie diagnostiziert, einem durch Gendefekte ausgelösten fortschreitenden Muskelschwund. Sie nutzte daher schon bald Rollstühle, ihre Eltern, insbesondere ihre Mutter förderte jedoch ihre schulische Bildung, trotz des erschwerten Zugangs zu Schulen für Menschen mit Behinderung. An der Highschool zeigten sich bereits ihre Talete, so war sie Mitglied des Debattierclubs und Redakteurin der Schülerzeitung.(1)

Als Hershey 11 Jahre alt war, wurde sie als das ‚Posterkind‘ von Colorado für die Muscular Dystrophy Association (Link Englisch), ausgewählt und so von Jerry Lewis‚ für seine (von 1966 bis 2014) alljährlichen MDA Labor Day Telethon (Link Englisch) bekannt gemacht. Mit den Bildern der Kinder mit SMA sollte bei den Zuschauern Mitleid erweckt und die Spendenwilligkeit gesteigert werden; Jerry Lewis bezeichnete die Kinder als ‚Jerry’s Kids‘. Zu dieser Zeit empfand sie die Herangehensweise und den Umgang mit ihr als Betroffene wohl schon als verstörend, konnte dies als Kind jedoch nicht klar erkennen und formulieren.(siehe YouTube It’s Our Story)

Nach dem Studium der Geschichte am Colorado College, das sie 1983 mit einem Bachelor-Grad abschloss, erhielt sie ein Stipendium der Watson Foundation (Link Englisch). Dieses ermöglichte ihr, für einige Zeit in Großbritannien zu leben. Hier begegneten ihr erstmals andere Menschen mit Behinderung, die sich künstlerisch und politisch für die Wahrnehmung und die Rechte von behinderten Menschen einsetzten und Hershey in den Menschenrechtsaktvismus einführten. Zwar hatte sich schon 1978 in der Haupststadt ihres Heimatstaates, Denver, Colorado, die Organisation ADAPT (Link Englisch) gegründet, hershey schloss sich dort jedoch erst nach ihrer Rückkehr aus Großbritannien 1985 an.

Als 1990 die Kritik an Jerry Lewis, seinen Telethons und seinem Umgang mit Kindern und Erwachsenen mit SMA laut wurde, zählte Laura Hershey zu den Stimmen. Nicht nur, wie das Leben mit Kindern mit SMA als bemitleidenswert und schrecklich dargestellt wurde, sondern auch die dröhnende Missachtung von Erwachsenen mit SMA waren Kritikpunkte vor allem ehemaliger ‚Jerry’s Kids‚. Lewis hatte einen Artikel darüber geschrieben, wie er sich selbst in einen Rollstuhl gesetzt habe und feststellen musste, dass ’sein Leben so nur halb zu leben wäre‘; als Protestreaktion darauf gründeten sich ‚Jerry’s Orphans‚ Die inhärente Vorstellung, dass ein Leben mit SMA oder anderer Behinderung nicht lebenswert wäre, stieß bei Hershey und ihren Mitstreiterys auf Widerspruch; sie verlangten, nicht als Objekt für Mitleid oder als abschreckendes Beispiel dargestellt zu werden, sondern als Menschen mit erfülltem Leben und vor allem mit allen Bürgerrechten. Die Kinder seien nur für ihren Schauwert eingesetzt worden, die Spendensammlung richtete sich jedoch viel mehr darauf aus, eine ‚Heilung‘ für den Gendefekt zu finden und habe zu wenig in Hilfe für die bereits mit SMA lebenden Erwachsenen – damalige und inzwischen herangewachsene – resultiert. (Der Abschnitt über Criticism am MDA Telethon (Link Englisch) ist ausgesprochen lesenswert, wenn auch lange nicht erschöpfend. Jerry Lewis‘ Reaktion auf die berechtigte Kritik von Betroffenen war suboptimal. Clip unten nur empfohlen für Menschen mit großer Gelassenheit.) Bei ihren Protesten gegen die Veranstaltung wurde Hershey mehrfach verhaftet.

ABC Primetime Live – Jerry Lewis Telethon – CN Ableism, Narzissmus

Ihren politischen Aktivismus setzte Laura Hershey auch als Autorin und Lyrikerin um; sie verfolgte ein weiteres Studium in Kreativem Schreiben, schrieb Bücher und Gedichte sowie eine regelmäßige Kolumne für die Webseite der Christopher and Dana Reeves Foundation (Link Englisch); auch auf ihrer eigenen Seite Crip Commentary‚ (inaktiv) veröffentlichte sie ihre Texte. Zur Anthologie ‚Sisterhood Is Forever‚ trug sie das Kapitel ‚Rights, Realities, and Issues of Women with Disabilities‚ bei. Als lesbische Frau setzte sie sich auch insbesondere für die Rechte homosexueller Menschen mit Behinderung ein; mit ihrer Partnerin adoptierte sie ein Kind. Sie besuchte die UN Konferenzen für Frauenrechte in Nairobi 1985 und in Peking 1995. Noch 2008 machte sie ihren Master of Fine Arts an der Antioch University (Link Englisch) und leitete 2009 einen Workshop zu queer disabled bodies bei der Creating Change Conference.(2) Im November 2010 starb sie unerwartet nach einer kurzen Erkrankung.

Erster Teil der Reihe mit Laura Hershey bei It’s Our Story – alle 13 sind sehenswert

Quelle Biografie: Wiki englisch
außerdem:
(1) www.laurahershey.com/
(2) Denver Library

16/2023: Ernestine Eckstein, 23. April 1941

Bis sie 1963, mit 22 Jahren, nach New York zog, wusste Ernestine Eckstein selbst nicht, dass sie lesbisch ist. Sie hatte sich zwar zu Frauen hingezogen gefühlt, doch da ihr nicht klar war, dass es diese sexuelle Orientierung gab, betrachtete sie es als rein menschliche Zuneigung. (2, 3)

Vorher hatte sie an der Indiana University in Bloomington, Indiana, Magazin-Journalismus im Hauptfach sowie Psychologie und Russisch in den Nebenfächern studiert; dort war sie Mitglied der NAACP. In New York angekommen, suchte sie als erstes einen alten Freund auf, mit dem sie sich immer gut verstanden hatte, ohne dass es zu einer romantischen oder sexuellen Beziehung gekommen war. Auf seine Aussage ‚I’m gay‚ reagierte sie zunächst mit Unverständnis (‚gay‚ wurde damals noch vor allem als ‚lustig, vergnügt‘ verstanden). Als er ihr die Bedeutung des Wortes erklärte, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass es Homosexualität gab, und sie hinterfragte ihre eigene Orientierung. Aus einer emotionalen Beziehung zu ihrer Mitbewohnerin wurde so auch eine Liebesbeziehung.(2, 3) Sich einer Organisation für und von Homosexuellen anzuschließen, war für Eckstein als überzeugte Bürgerrechtlerin ein logischer Schritt; sie besuchte als erstes die Mattachine Society, die auf eine Liberalisierung der Gesellschaft hinsichtlich Homosexualität hinarbeitete und Beratung für Homosexuelle anbot. Von dort aus schloss sich Eckstein den Daughters of Bilitis an und wurde 1965 Vizepräsidentin der Vereinigung.

Die Homophilenbewegung (zu dieser Zeit so bezeichnet) war von verschiedenen Strömungen geprägt – insgesamt starkt beeinflusst von linkem, im Sinne von kommunistischem Denken, auf dem viele Strukturen und Methoden von Menschen- und Bürger*innenrechtsbewegungen beruhen. Ein Teil der Bewegung legte Wert auf eine wenig Aufsehen erregende Arbeit für die Toleranz, um etwa die Meinung der Medizin und Psychologie zu verändern, dass Homosexualität eine psychische Krankheit sei. Ein anderer Teil, hauptsächlich jüngerer Homosexueller, wollte eine öffentlichere, politischere Menschenrechtsbewegung, die stärker am Aktivismus der Schwarzen Bürger*innenrechtsbewegung orientiert war. Ernestine Eckstein als Vizepräsidentin der Daughters of Bilitis stand für einen solchen politischen Aktivismus.

Für die Publikation der Daughters, The Ladder, interviewten Barbara Gittings und Kay Lahusen Ernestine Eckstein 1965. Die Ausgabe 1966 von The Ladder ist hier vollständig zu sehen. Im dem Gespräch macht sie einige ausgesprochen interessante Aussagen, insbesondere im Rückblick auf die Entwicklung der LGBTQIA+-Bewegung ab den späten 1960er Jahre.

Sie stellt fest, dass ihre Ideen ‚weiter links‘ seien als die anderer Homosexueller. Diese befürworteten zwar theoretisch die Protestmärsche für die Rechte Homosexueller, gingen aber selbst nicht hin; sie selbst nehme an Protestmärschen teil, wenn auch in anderen Städten. Der Grund für beides war natürlich, dass offen homosexuell lebende Menschen in Gefahr waren, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, und andere soziale Konsequenzen fürchten mussten. Doch eigentlich gingen Eckstein schon diese Protestmärsche nicht weit genug, sie nennt sie eine konservative Art des Aktivismus. Statt der ruhigen, gestitteten Runden mit ‚pickets‚ seien etwa Sit-Ins die politische Aktion der Zeit. Eckstein räumt ein, dass die Homophilen-Bewegung nicht so radikal sein könne wie die der Schwarzen US-Amerikaner, weil deren Anliegen in Sachen Menschen- und Bürger*innenrechten allgemein akzeptiert sei, während die Homophilen-Bewegung erst an den Punkt kommen müsse, dass ihr Anliegen – ungehindert einem selbstgestalteten, ’normalen‘ Leben nachgehen zu können, ohne die sexuelle Orientierung verdrängen oder verstecken zu müssen – von allen akzeptiert würde. Ein Weg jedoch, die Vorurteile gegenüber Homosexuellen auszuräumen, sei es eben, das Leben offen homosexuell zu leben: Eckstein verwendet hier die Worte ‚to come out‚ und meint sie sicher noch wörtlich, dass Homosexuelle als solche sichtbar ‚auf die Straße‘ gehen sollten. Doch möglicherweise liegt hier ja der Ursprung des heute gängigen Ausdrucks dafür, seine Orientierung oder Identität bekannt zu machen.

Eckstein sagt weiter, dass gleichzeitig für ihr Dafürhalten die Homophilen-Bewegung zu wenig juristisch aktiv ist, im Sinne von Klagen gegen Diskriminierung, die als Präzedenzfälle für das US-amerikanische Rechtssystem dienen können. Außerdem sei die Bewegung derzeit zu sehr auf sexuelle Freiheit fokussiert, sicher, weil diese eben nicht so vorhanden sei, Liebes- und sexuelle Beziehungen für Homosexuelle nicht so leicht und offen auslebbar waren wie für Heterosexuelle. Doch für die Gemeinschaft und die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexuellen als ganz ’normale‘ Bürger*innen sei es auch wichtig, sich für alle möglichen anderen sozialen Aktivitäten zusammenzutun. Auf die Anmerkung, dies könne von Heterosexuellen als reine Anbahnungsmaßnahme für sexuelle Kontakte betrachtet werden, kontert sie ausgesprochen modern: ‚I think we have to decide how far we can go for caring about what heterosexuals think. […] We want acceptance and we want our rights as citizens and as people, but this doesn’t mean that all of our activity and all of our goals are defined by other people’s filthy minds.‚ – „Ich glaube, wir müssen uns entscheiden, wie weit wir gehen können darin, uns um das zu kümmern, was Heterosexuelle denken. Wir wollen Akzeptanz und wir wollen unsere Rechte als Bürger und Bürgerinnen und als Menschen, aber das heißt nicht, dass alle unsere Aktivitäten und alle unseren Ziele von den schmutzigen Gedanken anderer Leute definiert sind.“ (Im gedruckten Interview – im PDF zu lesen – sagt sie allerdings auch, dass die Schwarzen weiße und die Homosexuellen heterosexuelle Unterstützer*innen brauchen, um die Bewegung in der Gesellschaft zu integrieren; wenn die Kooperation über diese Label hinweg gefördert würde, würden die Menschenrechtsbewegungen in die Allgemeinheit überführt und blieben nicht nur Bewegungen ‚da drüben‘.)

Die herausragendste Äußerung von Eckstein betreffen allerdings das, was wir heute als Intersektionalität verstehen. Sie spricht darüber, auch die ‚transvestites‚ – damals umfassender Begriff auch für transgender Personen – in die Homophilen-Bewegung und ihren Aktivismus einbezogen werden sollte. Gittings und Lahusen sind darüber überrascht (die Lesben-Bewegung stand transgender und transvestitischen männlich gelesenen Personen kritisch gegenüber) und Eckstein erläutert, dass sie die Homophilen-Bewegung als Teil einer größeren Bewegung versteht, die eigentlich zu einer Beseitigung aller Label führe. Die Veränderungen der Gesellschaft zugunsten von Homosexuellen müsse notwendig auch das Recht für alle mit sich bringen, sich anzuziehen, wie sie wollen. Sie bezeichnet die spezielle Diskriminierungsproblematik der ‚transvestites‚ nicht als ein ‚Homosexuellen-Problem‘, sondern als eines der ’sexuellen Identität‘ – welches jedoch von der Gesellschaft zu einem Komplex zusammengeworfen würde, weshalb sie der Meinung ist, dass die Homophilen-Bewegung sich dessen annehmen sollte, wenn sie erst ihre eigenen Ziele erreicht hätte. Sie glaubt nicht, dass diese intersektionale Zusammenarbeit noch in ihrer Lebenszeit stattfinden würde, doch es sei das Ziel, auf das sie hinarbeite. Ernestine Eckstein nennt sich selbst eine ‚Sozialprophetin‘ und sie hat nach heutigem Kenntnisstand Recht: Der Kampf für die Rechte von trans*gender Personen ist mithin ein feministischer Kampf, doch noch heute lehnen viele den Gedanken ab, dass es im Prinzip um die Auflösung von Labels – beginnend mit ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ – gehen sollte, um die Gesellschaft von überkommenen, schädlichen Vorstellungen von ‚Normalität‘ zu befreien.

Ernestine Eckstein ließ sich sogar für das Titelbild der Ausgabe fotografieren, wenn auch nur im Profil – sie ging schließlich das Risiko ein, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, wenn sie erkannt würde. Sie verließ die Daughters of Bilitis bald darauf, wahrscheinlich war sie von persönlichen und politischen Grabenkämpfen erschöpft. So stand sie 1965 in Korrespondenz mit Frank Kameny, den sie für einen Vortrag nach New York zu den Daughters einladen wollte, um ihre Position hinsichtlich öffentlicher Proteste und politischem Aktivismus zu stärken. Im Februar 1966 musste sie ihre Einladung dann aufgrund des Widerstands bei den Daughters jedoch zurückziehen. In den frühen 1970er Jahren zog Eckstein von New York nach San Francisco, wo sie sie sich bei Black Women Organized for Action (BWOA) engagierte – eine Organisation, die mehr ihren politischen Vorstellungen entsprach. So rotierte die Führung der Organisation zwischen jeweils drei Personen, die nach drei Monaten wieder ausgewechselt wurden, was nicht nur den Aufbau einer Hierarchie unter den Mitgliedern verhinderte, sondern auch dafür sorgte, dass zahlreiche unterschiedliche Schwarze Frauen als Anführerinnen gefördert wurden.

Die Absichtserklärung der BWOA lautete(1, Übersetzung meine):

Black: Wir sind Schwarz und sind wir uns unserer Verpflichtung bewusst, uns im Kampf der Schwarzen einzusetzen für ihre Identität und für die Einbindung in Entscheidungen, die ihr Leben und das Leben der folgenden Generationen Schwarzer betreffen.
Women: Wir sind Frauen und uns deshalb bewusst, wie eklatant zum Teil die Talente und Energien Schwarzer Frauen verschwendet werden, weil uns die Gesellschaft einen bestimmten Platz zugewiesen hat.
Organized: Wir sind organisiert, weil wir erkennen, dass wir nur zusammen, mit unseren gemeinsamen Talenten und Ressourcen, eine entscheidende Veränderung erreichen können in den Institutionen, die unsere Möglichkeiten eingeschränkt und unser Wachstum als Menschen behindert haben.
Action: Wir sind für Aktivismus, weil wir glauben, dass die Zeit der Rhetorik vorüber ist; dass die Fähigkeiten Schwarzer Frauen am besten auf vielseitige Weise eingesetzt werden können, um die Gesellschaft zu verändern; dass, in der politischen Arbeit, die wir vorleben, das Engagement Schwarzer Frauen über die traditionelle Mittelbeschaffung hinausgehen und in die ganze Palette von Aktivitäten führen muss, die den politischen Prozess ausmachen, welcher unser Leben auf so viele Arten bestimmt.

Die BWOA hatte eine offene Auffassung, wer als ‚Schwarz‘ galt (möglicherweise näher an dem, was heute ‚of Color‚ heißt), und ging zurückhaltend mit dem Begriff ‚feministisch‘ um. Damit verhinderten sie Abgrenzungen und Dispute innerhalb der Organisation über die Vorstellungen, was diese Begriffe beinhalteten.

Nach ihrem Weggang aus New York nach San Francisco verliert sich Ernestine Ecksteins Spur. Es ist nur mehr bekannt, dass sie 1992, wahrscheinlich nach langer Krankheit, in San Pablo, Kalifornien, starb.


Faszinierendes Dokument aus der Zeit, in der Ernestine Eckstein als Schwarze, lesbische Frau ihren Aktivismus entwickelte, ist einmal diese CBS Dokumentation, „The Homosexuals“ (CN: voller 1950/60er Vorurteile, Pathologisierung, verinnerlichter Homophobie etc. – nur ansehen, wenn frohes Bewusstsein darüber besteht, dass diese Zeiten immerhin mehr als 50 Jahre zurückliegen), in der bei Minute 28:50 Ernestine Eckstein kurz zu sehen ist(2); außerdem lässt sich an den zwei kurzen Filmen von Lilli Vincenz hier großartig die Entwicklung der LGBTQIA+-Bewegung erkennen: Der erste zeigt die recht braven picket lines 1968, wie sie auch Ernestine Eckstein besuchte, der zweite zeigt die erste Christopher Street Liberation Day Parade 1970 – den ersten Jahrestag der Stonewall Riots. Das Coming Out der Homosexuellen auf die Straße, das Eckstein sehen wollte, ist hier wesentlich deutlicher und wird mit Stolz gefeiert. Der Einfluss, den die eben nicht friedlichen, sondern wehrhaften Unruhen in der Christopher Street auf die Gesellschaft hatten – ausgetragen von trans*gender und homosexuellen, Schwarzen und weißen Männern und Frauen –, ist hier nicht zu verleugnen.


Quellen: Wiki englisch
außerdem:
(2) Making Gay History
(3) LGBTQ Nation

14/2023: Curtis „Kitty“ Cone, 7. April 1944

Als sie sechs Jahre alt war, erhielt Curtis „Kitty“ Cone eine erste Fehldiagnose. Die Lehrerin hatte bemerkt, dass sie immer auf den Zehenspitzen lief, die Ärzte hielten ihre Erkrankung für Zerebralparese und verordneten zunächst keinerlei Maßnahmen. Da ihr Vater beim Militär war, wechselte die Familie Cone häufig den Wohnsitz, und somit auch die Ärzte, also folgten später dann doch Schienen und Operationen, um ihre Sehnen zu verlängern. Während einer Zeit in Japan wurde sie – ebenfalls fehlerhaft – mit Kinderlähmung diagnostiziert und an beiden Hüften operiert; die langen postoperativen Wochen, in denen sie liegen musste, trugen zur Verschlechterung ihrer Symptome bei. Erst als sie fünfzehn war, erfolgte die richtige Diagnose: Cone lebte mit progressiver Muskeldystrophie, eine genetisch bedingte Behinderung, bei der Betroffene im Verlauf ihre Muskelkräfte verlieren.

Bis zu ihrer späten Jugend besuchte Cone insgesamt dreizehn Schulen, darunter auch im US-amerikanischen Süden. Dort machte sie schon früh und nachhaltige Erfahrungen mit der Segregation (CN Begriff für Segregation), der Diskriminierung ihrer afroamerikanischen Mitmenschen; diese Erlebnisse prägten auch ihren politischen Aktivismus. Sie selbst traf immer wieder auf Einschränkungen an Schulen; zeitweise trugen ihre Cousins und Cousinen sie in die Klassenräume, weil sie die Treppen nicht mehr nehmen konnte – Rampen oder Aufzüge gab es selbstverständlich keine. In einem Internat erlegte ihr die Schulleiterin so uneinhaltbare Regeln auf, dass sie bald wieder ins Elternhaus zurückkehrte. Ihre schulischen Leistungen waren trotz dieser Umstände immer gut und auch, wenn sie in ihrer späteren Jugend mit Stützen gehen musste, machte sie ihren Highschool-Abschluss und ging auf ein College der University of Illinois at Urbana-Champaign. Die Schule hatte ein Programm für körperlich behinderte Studierende, hielt diese jedoch dazu an, nicht um Hilfe zu bitten und sogar angebotene Hilfe auszuschlagen, damit diese nicht schwach und hilfsbedürftig wirkten und damit für potentielle Arbeitgeber unattraktiv.

Cone war für ein Semester nach Hause zurückgekehrt, da ihre Mutter plötzlich an Krebs verstorben war – ebenfalls aufgrund einer Fehldiagnose, ihr Leiden wurde auf die Nerven geschoben. Als sie ans College zurückkehrte, begann sie, sich stark in der Bürgerrechtsbewegung, der NAACP und der Friedensbewegung zu engagieren und verbrachte viel ihrer freien Zeit bei Protesten. Zu dieser Zeit nutzte sie bereits einen Rollstuhl. Als sie spürte, dass ihre Muskulatur schwächer wurde und sie möglicherweise bald auf noch mehr Hilfe angewiesen sein würde, wollte sie sich eine Wohnung außerhalb des Universitätscampus suchen. Zum Einen ging es ihr darum, unabhängig zu leben, bevor dies nicht mehr möglich sein sollte, zum Anderen fiel es ihr meist schwer, die Schließzeiten der Schlafräume einzuhalten, da sie viel und mit dem Rollstuhl unterwegs war. Sie benötigte dafür eine Erlaubnis vom Leiter des Programms, der jedoch vermutete, sie werde nicht aufgrund ihrer Erkrankung schwächer, sondern weil sie so viel bei Protesten aktiv war. Außerdem unterstellte er ihr, dass es ihr darum ging, sexuelle Kontakte zu pflegen. Cone war schließlich so unzufrieden mit ihrem Leben im Rahmen der Universität und dem Programm, das sie im Studium dort unterstützen sollte, dass sie keinen Abschluss dort machte. Stattdessen zog sie nach New York und fokussierte sich auf die politische Arbeit.

1974 wurde sie in Oakland, Kalifornien, bei dem dortigen Center of Independent Living eingestellt, um Lobbyarbeit für die Rechte behinderter Menschen zu betreiben, politische Aktionen auf lokaler und nationaler Ebene zu planen und dazu beitragen, Barrieren für Menschen mit Behinderung zu senken. In dieser Rolle war sie maßgeblich an der Planung und Durchführung des 504 Sit-In (Link Englisch) beiteiligt.

‚504‘ bezieht sich auf Abschnitt 504 des Rehabilitation Act von 1973, ein nationales Gesetz gegen die Diskriminierung behinderter Menschen. Der Abschnitt weitete die Menschenrechte bei Bildung, Arbeit und ‚anderen Teilen des gesellschaftlichen Lebens‘ aus und schrieb vor, dass jede Einrichtung, jedes Unternehmen, die oder das Staatsgelder bezog, verpflichtet sei, Menschen mit Behinderung zugänglich zu sein und mit den nötigen Hilfsmitteln aufzurüsten, bzw. Barrieren abzuschaffen. Mit der Absegnung dieses Abschnittes sollte es auch möglich werden, diese Zugänglichkeit zur Not gerichtlich einklagen zu können. Der Gesetzesentwurf war zuvor schon mehrfach von US-Präsident Richard Nixon abgelehnt worden, die Sit-Ins sollten den damaligen US-Gesundheitsminister Joseph Califano dazu bewegen, die Änderungen im Sinne behinderter Menschen zu unterzeichnen. In zehn US-Städten kam es zu konzertierten Protesten; angeführt von Kitty Cone und Judith Heumann bezogen am 5. April 1977 mehrere Demonstrierende, davon zahlreiche im Rollstuhl und anderweitig körperlich behindert, Stellung im Sitz des Gesundheitsministeriums in San Francisco. Zwischen diesem Tag und dem 4. Mai, insgesamt 28 volle Tage, waren mehr als 150 Menschen für dieses Sit-In anwesend. Califano unterzeichnete die Änderungen am 28. April und setzte damit das Gesetz in Kraft. Aus dem Rehabilitation Act wurde später das US-Bundesgesetz Americans with Disabilities Act (ADA).

Nachdem sie dieses große Ziel erreicht hatte, führte sie ihren EInsatz auf anderen Ebenen fort, so war sie an der Organisation des Disabeled People’s Civil Rights Day 1979 in San Francisco beteiligt.

Aufgrund der restriktiven Ehegesetze der damaligen Zeit in den USA konnte sie ihre langjährige Lebensgefährtin nicht heiraten und kein Kind adoptieren. Daher verlegte sie ihren Wohnsitz 1981 nach Mexiko, wo es ihr möglich war, ihren Sohn zu adoptieren. Ab 1990 arbeitete sie für den Disability Rights Education and Defense Fund (Link Englisch). 2015 starb sie kurz vor ihrem 71. Geburtstag an Bauchspeicheldrüsenkrebs.


Einen Überblick über die Geschichte und Hintergründe des 504 Sit-In schrieb Cone selbst zum 20. Geburtstag des Ereignisses. Der DREDF, ihr letzter Arbeitgeber, veröffentlichte einen Nachruf zu ihrem Tod, viel später, 2021 brachte die New York Time ebenfalls einen Nachruf (Link Englisch) unter der Reihe ‚Overlooked no more‘. Das Smithsonian stellt sie im Rahmen der Women’s History vor.

Lange Version (2’22“) auf diva.sfsu.edu

Quelle Biografie: Wiki englisch
außerdem:
(2) Online Archive of California (Link Englisch, 324 Seiten Interview-Transkript)

10/2023: Anna Murray Douglass, 8. März 1813

Anna Murray kam als Kind freigelassener Sklaven in Denton, Maryland, zur Welt. Sie verließ ihr Elternhaus mit 17 Jahren und ging nach Baltimore, wo sie sich ihren Unterhalt als Haushälterin und Waschfrau verdiente.

Mit 25 Jahren lernte sie Frederick Bailey kennen – möglicherweise am Hafen, an den sie ihre Arbeit brachte und wo Frederick als Kalfater arbeitete, möglicherweise gingen sie auch in die gleiche Kirche. Ihr Leben als freie Afroamerikanerin weckte in Frederick den Wunsch, sich ebenfalls aus der Sklaverei zu befreien; er musste auch frei sein, um Anna heiraten zu können. Also lieh sie sich die Freilassungsurkunde eines Freundes und nähte eine Matrosenuniform für Frederick, in der er sich in den Zug nach New York setzte. Das Ticket hatte wahrscheinlich auch Anna gekauft, die mit ihrer beruflichen Tätigkeit in der wirtschaftlichen Lage war, eine Familie zu versorgen. Sie traf ihn in New York wieder und die beiden wurden von einem New Yorker Abolitionisten getraut, zunächst unter dem Namen Johnson, den sie später in Douglass änderten.

Anna Murray Douglass stellte bei der Eheschließung den gesamten Hausstand für ihr Leben in New Bedford, Massachussetts, und unterhielt auch weiterhin mit ihrer Arbeit als Waschfrau und Schusterin (sie lernte in New York, Schuhe zu reparieren) das Ehepaar und später die Familie. Frederick war nach seiner Befreiung aus der Sklaverei in der Abolitionismus-Bewegung politisch aktiv, verdiente jedoch nur selten und wenig Geld mit seiner Rednertätigkeit. Anna arbeitete, unterstützte ihren Mann, war selbst aktiv in der Boston Female Anti-Slavery Society (Link Englisch) und gebar zwischen 1939 und 1950 fünf Kinder: Rosetta Douglass (Link Englisch), die später selbst in der Bürgerrechts- und vor allem der afroamerikanischen Frauenrechtsbewegung wirkte und das Buch „My Mother As I Recall Her“ schrieb, Lewis Henry Douglass (Link Englisch), Frederick Douglass Jr. (Link Englisch), ebenfalls Abolitionist, und Charles Remond Douglass (Link Englisch), sowie Annie Douglass.

Von 1845 bis 1847 weilte Frederick in seiner politischen Tätigkeit für den Abolitionismus in Großbritannien, in dieser Zeit sparte Anna zu Hause jeden Cent, den er sandte, und ernährte die Familie mit ihrem Arbeitseinkommen. Als er zurückkehrte, zog die Familie nach Rochester, New York, wo das Douglass-Haus eine Station des Underground Railroad wurde. Frederick Douglass veröffentlichte von dort aus seine abolitionistische Zeitschrift The North Star (Link Englisch).

Anna Murray Douglass war zwar eine sehr tüchtige Frau, die die Finanzen des Douglass-Haushaltes nicht nur sicherte, sondern auch Buch führte; sie hatte jedoch keine höhere Bildung und war keine Dame der höheren Gesellschaft. Frederick bewegte sich durch seine politische Arbeit inzwischen in Kreisen, in denen Anna wahrscheinlich weder gerschätzt noch erwünscht war, und in denen sie sich womöglich auch nicht wirklich wohl fühlte. Dennoch war ihr Haus beständig auch Gastgeber für länger bleibende Gäste aus aller Welt, unter anderem von europäischen Frauen, die in der Abolitionismus-Bewegung tätig waren. Etwa Ottilie Assing, die auch nicht die einzige war, mit der Frederick wahrscheinlich eine Affäre hatte. Die weißen Feministinnen, die mit Frederick arbeiteten und ihn verehrten, hatten wenig für Anna übrig – in einem erschreckenden Mangel an intersektionaler Solidarität und Respekt wurde Frederick für seine Ehefrau bemitleidet(2), wobei auch Colourism (Link Englisch) eine Rolle spielte: Anna hatte eine dunklere Hautfarbe als ihr Mann, der nach ihrem Tod die weiße Helen Pitts heiraten sollte (Link Englisch). Die Vorwürfe der Untreue diskutierte Frederick Douglass nicht öffentlich, so wie auch sonst seine Ehefrau wenig in seinen Texten erwähnt wurde; dies war nicht unbedingt Ignoranz oder Böswilligkeit. Für eine Frau dieser Zeit (Mitte des 19. Jahrhunderts) war es unziemlich, Gegenstand des öffentlichen Gespräches zu sein, und eine Privatsphäre zu haben, über die sie selbst bestimmen konnte, war für die freie Afroamerikanerin erster Generation ein Privileg, das sie nicht leichtfertig aufgab. Nichtsdestotrotz ist es dieser Rücksichtnahme und Privatsphäre geschuldet, dass von Anna Douglass und ihren Leistungen wenig bekannt war; ihre Tochter schrieb später, dass Frederick Douglass‘ Geschichte „durch die unerschütterliche Loyalität von Anna Murray möglich gemacht wurde“.

1860 starb die jüngste Tochter der Douglass‘, Annie, was ihrer Mutter sehr nahe ging; 1872 brannte ihr Haus nieder, wahrscheinlich wegen Brandstiftung, und sie verloren ein kleines Vermögen an Eigentum wie auch eine gesamte Ausgabe des North Star und Texte, die Frederick später hatte veröffentlichen wollen. Die Familie zog um nach Washington, D.C., wo Anna Douglass weiterhin den Haushalt führte, doch sie erlitt eine Reihe von Schlaganfällen. Ihre Gesundheit ließ immer weiter nach, bis sie 1882 mit 69 Jahren schließlich starb.


Quellen Biografie: (1) Wiki englisch | Wiki deutsch, (2) Smithsonian Magazine

07/2023: Malvika Iyer, 18. Februar 1989

Als Malvika Iyer dreizehn Jahre alt war, fand sie vor ihrem Haus in Bikaner, Rajastan, eine vermeintlich entschärfte Handgranate. Bei der Explosion verlor sie beide Hände und erlitt schwere Verletzungen an den Beinen. Sie verbrachte achtzehn Monate in einem Krankenhaus in Chennai, Tamil Nadu, nahe ihrer Geburtstadt Kumbakonam. Nach zahlreichen Operationen erhielt sie ihre Handprothesen und begann auch wieder, mit der Hilfe von Krücken, zu laufen.

Da sie die Schule regulär nicht besuchen konnte, schrieb sie sich in Chennai privat für die Abschlussprüfung nach der 10. Klasse, das Secondary School Leaving Certificate, ein. Sie legte die Prüfung mit Hilfe eines Schreibassistenten ab und bestand als eine der Besten ihres Bundesstaates. Ihre Geschichte erregte Aufmerksamkeit, so sehr, dass sie vom damaligen Präsidenten Indiens, APJ Abdul Kalam, in den Regierungspalast Rashtrapati Bhavan eingeladen wurde.

Mit dem Schulabschluss in der Tasche, zog Iyer nach Neu-Delhi und studierte zunächst Wirtschaftskunde, danach Sozialarbeit. Sie machte ihren Master of Social Work und anschließend ihren M.Phil im selben Fach. Sie erhielt den Rolling Cup für die beste Masterabschlussarbeit 2012.

Im Folgejahr wurde die 24-jährige eingeladen, in Chennai einen Vortrag für TEDxYouth in Chennai zu halten, bei dem das Video unten entstand. Sie erzählt von ihrem Werdegang und betont, wie wichtig es sei, bei ihrer schulischen Karriere unterstützt worden zu sein.

Malvika Iyer für TEDxYouth „Inclusion starts from within“

Nach diesem TED-Talk beschloss Iyer, eine Karriere als öffentliche Rednerin zu beginnen. Es folgten Reden unter anderem vor den Vereinten Nationen in New York und dem IIM Khozikode (Link englisch), Iyers Hauptthema dabei blieb die Inklusion von Menschen mit Behinderung. Sie führt außerdem Sensibilisierungskurse an Schulen, Universitäten, Nichtregierungsorganisationen und Jugendeinrichtungen durch; sie moderierte auch den India Inclusion Summit. Neben der Inklusion setzt sie sich für Body Positivity und ‚accessible fashion‘ ein, also Mode, die auf die Bedürfnisse von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen eingeht. So trat sie auch schon als Modell bei Modenschauen indischer Hochschulen und Organisationen auf. 2016 erhielt sie für ihren Beitrag zur Ermächtigung von Frauen den Women in the World (Link englisch) Emerging Leaders Award, 2018 erhielt sie den höchsten Bürgerorden Indiens, den Nari Shakti Puraskar des Ministeriums für Frauen und Kinder.

Dr. Malvika Iyer hat eine eigene Webseite und ist in den Sozialen Medien aktiv; sie arbeitet weiterhin in ihrer Tätigkeit als öffentliche Sprecherin für Inklusion.


Quelle Biografie: Wiki englisch

21/2019: Eren Keskin, 24. Mai 1959

Tochter eines Kurden und einer Tscherkessin, ist Eren Keskin seit 1986 in Istanbul als Anwältin für Menschenrechte tätig, insbesondere der Kurden und Frauen. Sie rief 1997 ein Rechtshilfeprojekt für Frauen ins Leben, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell misshandelt wurden.

Ihr Engagement brachte ihr zeitweise Berufsverbot ein, Morddrohungen und Strafverfahren, zwischen 1994 und 2018 nach Keskins eigenen Aussagen über 140. Mehrfach wurde sie zu Gefängnisstrafen verurteilt: Dafür, in einem Brief an das belgische Parlament das Wort ‚Kurdistan‘ verwendet zu haben; wiederholte Male für einen Verstoß gegen den Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches, der die „Beleidigung des Türkentums, der Republik und der Institutionen und Organe des Staates“ unter Strafe stellt. Zuletzt erging ein Urteil, das sie zu 7,5 Jahren Gefängnis verurteilte, für einen Zeitungsartikel, mit dem sie wiederum den Präsidenten der Türkei beleidigt haben soll. Derzeit rechnet sie jeden Tag mit ihrer Verhaftung, kann aber aufgrund eines Ausreiseverbotes die Türkei nicht verlassen.

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§218!