Schlagwort: weltwirtschaftskrise

19/2023: Tanya Zolotoroff Nash, 10. Mai 1898

CN: systematische Gewalt gegen Gehörlose

Tanya Zolotoroff kam als Kind einer wohlhabenden jüdischen Familie in Odessa zur Welt, damals Teil des russischen Zarenreiches. Ihr Vater stellte Pelzmützen her, was guten Verdienst einbrachte: Sie lebten mit mehreren Angestellten, unter anderem individuellen Kindermädchen für die damals drei Kinder. Dennoch waren die Eltern überzeugte Sozialisten und hielten politische Salons in ihrem Heim ab. Als 1904 der russisch-japanische Krieg ausbrach, beschlossen sie, in die USA auszuwandern, da jüdische Bürger dafür insbesondere eingezogen wurden – sie wurden ausdrücklich als ‚Kanonenfutter‘, also entbehrliche Massen, eingesetzt.(2)

Niemensch in der Familie sprach Englisch, ihre rasche Einbürgerung verdankten sie verschiedenen anderen Familienmitgliedern, die bereits im Land lebten. Die Zolotoroffs ließen sich in Brooklyn nieder, doch lebten sie hier in bitterer Armut. Der Vater fand Arbeit in einer Fabrik am Fließband, die Mutter verkaufte Süßkartoffeln im Park. Tanya bewunderte ihre Mutter für ihre Tatkraft, musste jedoch auch miterleben, wie ihre Mutter noch zwei weitere Kinder gebar und insgesamt zwölf Abtreibungen vornehmen lassen musste.(2)

Zwei Tanten von Tanya besuchten eine Sprachenschule, um Englisch zu lernen; Tanya war eigentlich noch zu jung für diese Schule, trug sich jedoch als ‚Lehrassistentin‘ an, sodass sie dem Unterricht trotzdem beiwohnen konnte. Sie war sprachbegabt und auch sonst sehr intelligent, nahm das Englische schnell auf und wurde oft für ihr gute Sprachkenntnis gelobt. Sie gewann mit dreizehn sogar einen Buchstabierwettbewerb, konnte aber an der Preisverleihung nicht teilnehmen, weil sie keine tragbaren Schuhe hatte. Mit 15 musste sie die Schule verlassen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Sie blieb politisch interessiert, besuchte außerhalb ihrer Arbeitszeit viel die Bibliothek und schloss sich der Brooklyn Philosophical Society an. Dort traf sie Felix Nash, einen jungen Mann in der Ausbildung zum Rabbi (nicht das Gleiche wie ein Rabbiner), und auch, wenn sie bei ihrer ersten Begegnung uneins waren, verliebten sie sich und heirateten 1927.

Nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, wandte sich Felix Nash der Sozialarbeit zu. 1929 übernahm er die Leitung der Society for the Welfare of the Jewish Deaf – zu einem Zeitpunkt, als diese vor den Tatsachen der Weltwirtschaftskrise stand. Viele Menschen waren zu dieser Zeit ohne Auskommen, doch Gehörlose und Ertaubte hatten noch weniger Möglichkeiten, sich zu behelfen, da ihre Arbeitsmöglichkeiten eingeschränkt waren. Vor den Türen der Society standen Schlangen von hilfsbedürftigen, gehörlosen und ertaubten Juden, also gab Zolotoroff Nash ihre Tätigkeit bei einer Zeitung auf und unterstützte ihren Mann bei seiner Arbeit. Sie lernte in kurzer Zeit American Sign Language (ASL), wenn auch nie so gut wie Englisch.(2) Kurz darauf übernahm sie selbst die Leitung der Society, da ihr Mann mit nur 30 Jahren an einem Gehirntumor verstarb.

Zolotoroff Nash musste feststellen, dass es der Society entschieden an Geld fehlte für alle Aufgaben, die sie für die Gemeinschaft erfüllen sollte, also begann sie, aus eigener Tasche zu zahlen oder im Bekanntkreis Spenden aufzutreiben. Sie öffnete die Organisation für andere Menschen mit Behinderung, etwa Taubblinde, aber auch für nicht-jüdische Gehörlose. Sie unterstützte ihre Gemeinschaft in Belangen der Medizin, bei der Arbeitssuche, organisierte Übersetzer und Anwälte, klärte über Verhütung bzw. Geburtenkontrolle auf; hierfür ging sie durch die Stadtviertel New Yorks, in denen vornehmlich Immigranten lebten, und suchte gehörlose Frauen auf, um sie über ihre Rechte und Möglichkeiten zu unterrichten. Außerdem half sie gehörlosen Immigranten bei der Einwanderung in die USA. Dabei scheute sie auch nicht vor verzeihlichem Betrug zurück: Beim Einbürgerungsantrag mussten Immigranten Fragen beantworten, um ihre Kenntnis der US-amerikanischen Geschichte zu beweisen, und Zolotoroff Nash übersetzte für sie – dabei gab sie grundsätzlich die richtigen Antworten, ungeachtet dessen, was die eigentlich Befragten in Gebärdensprache angaben. Sie gründete das Magazin der Organisation, The Jewish Deaf, und brachte gehörlose Kinder in Sommercamps unter; um die Integration zu verbessern, reiste sie voraus und brachte den schon anwesenden, hörenden Kindern die Grundkenntnisse der ASL bei, damit eine erste Kommunikation gewährleistet war.(2)

Eine Anekdote erzählt, dass Zolotoroff Nash einmal Helen Keller im Krankenhaus besuchte, nachdem dieser ein Zeh amputiert werden musste. Zolotoroff Nash buchstabierte ihr danach in die Hand, dass sie froh sei, dass Keller einen Zeh und nicht einen Daumen verloren hätte – sie hätte sonst einen Sprachfehler gehabt! Keller fand das selbst sehr erheiternd.(2)

1968 startete sie ihr letztes, größtes Projekt: Sie initiierte den Bau eines Wohnkomplexes für gehörlose Senioren. Hierfür kümmerte sie sich um Lizenzen, Baugenehmigungen, Aufträge und Finanzierung, die es ermöglichte, die Wohnungen für niedrigste Preise zu vermieten. In den 137 Wohnungen wurden standardisiert visuelle Signale für Türklingeln, Telefone und Feueralarme eingebaut, außerdem Kameras, die es den Bewohnerys ermöglichten zu sehen, wer vor der Tür stand; alle Flure wurden breit genug für Rollstühle angelegt. Nur wer weniger als 9.000$ (oder 10.000$ als Paar) im Jahr verdiente, konnte dort eine Wohnung mieten. Der Bau der Tanya Towers wurde 1974 abgeschlossen, Zolotoroff Nash blieb auch, nachdem sie sich von der Leitung der (inzwischen) New York Society for the Deaf zur Ruhe gesetzt hatte, als Beraterin für die Organisation tätig.(2)

Tanya Zolotoroff Nash starb am 10. Juli 1987 mit 99 Jahren.


Quellen: Wiki englisch
außerdem:
(2) I Don’t Know Her: ADVOCATE – Tanya Zolotoroff Nash (die erste Viertelstunde geht es um ein versehentliches Fremdouting einer der beiden Podcasterys, bevor sie zum Thema kommen)


Im oben genannten Podcast spricht Avery Mead auch über die Geschichte der Gehörlosenkultur und ASL, dabei setzt they den Aktivismus von Tanya Zolotoroff Nash auch in Bezug zum allgemeinen geschichtlichen Hintergrund. Ich möchte dies für die Leserys gerne kurz (und auf Deutsch) zusammenfassen, auch, weil ich dabei einiges gelernt habe, was ich ungemein faszinierend fand. Außerdem möchte ich noch sehr kurz auf die Geschichte der Deutschen Gebärdensprache eingehen.

Nach dem, was heute zu wissen ist, hat es schon immer überall auf der Welt Gebärdensprachen gegeben, nicht nur für spezielle Tätigkeiten (während der Jagd, in kriegerischen Konflikten etc.), sondern ausdrücklich für die Kommunikation zwischen und mit gehörlosen oder ertaubten Menschen. Mir war die Geschichte des Idioma des Signos Nicaragüense (ISN) aus Steven Pinkers ‚The Language Instinct‚ bekannt, im Podcast hörte ich jedoch zum ersten Mal von Martha’s Vineyard Sign Language (MVSL):

Auf der kleinen Insel vor der US-amerikanischen Westküste (nordöstlich von New York) siedelten in der Frühzeit der britischen Kolonialisierung vornehmlich Menschen aus dem Kent’schen Weald. In dieser Bevölkerung gab es eine Häufung von rezessiv vererbbarer Gehörlosigkeit, sodass dort im 18. Jahrhundert auf der Insel eine gehörlose Person auf 155 Hörende kam, in manchen Gegenden sogar, wie im an der Südküste gelegenen Chilmark, kam eine gehörlose Person auf nur vier Hörende. Zum Vergleich, der US-amerikanische Durchschnitt ist eine gehörlose Person auf etwa 1.000 Hörende. In dieser Situation hatte es sich vollständig normalisiert, dass Hörende und Gehörlose miteinander in einer Gebärdensprache kommunizierten – und zwar nicht nur ausschließlich, um die auditiven Unterschiede zu umgehen, sondern auch als Handhabe in Situationen, in denen Lautsprache nicht möglich oder nicht erwünscht war. Die MVSL – und das hat mich wirklich ein bisschen umgehauen – ging möglicherweise aus einer noch älteren, der Old Kentish Sign Language (Link Englisch) hervor, von der es einen Bericht aus dem 17. Jahrhundert gibt. Die Gehörlosen auf Martha’s Vineyard waren ganz selbstverständlich in die Inselgemeinschaft integriert – schon aufgrund der Statistik, hatte doch jede Person auf der Insel mindestens eine Verwandtschaft mit einer gehörlosen Person. Die Menschen auf Martha’s Vineyard sprachen allesamt, mehr oder weniger flüssig, die ortsübliche Gebärdensprache.

Währenddessen hatte sich im 18. Jahrhundert auch in Frankreich der Gedanke der Gehörlosenbildung mit Gebärdensprache etabliert, dank Charles-Michel de l’Epée. Ein Schüler de l’Epées, Laurent Clerc, traf in Frankreich auf den US-Amerikaner Thomas Hopkins Gallaudet, der für eine befreundete Familie mit einer gehörlosen Tochter nach Europa gereist war, um sich genau darüber fortzubilden. Gallaudet lud Clerc in die USA ein und gemeinsam bereisten sie Neuengland. Aus MVSL und der französischen Langue des signes français (LSF), entwickelten die beiden die frühe Form des ASL; sie gründeten 1817 das Connecticut Asylum for the Instruction and Education for Deaf and Dumb Persons, heute American School for the Deaf, Gallaudet gründete später die erste Universität für Gehörlose, die heute Gallaudet University heißt.

Leider entwickelte sich nun gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Idee der Eugenik (Erbgesundheitslehre), von der unter anderem der ‚erste kommerzielle Betreiber der Telefonie‘, Alexander Graham Bell überzeugt war, der selbst Sohn einer gehörlosen Mutter und Ehemann einer gehörlosen Frau war und sogar am Connecticut Asylum als Lehrer gearbeitet hatte. Er forderte ein Eheverbot für Gehörlose und wandte sich gegen die Gehörlosenbildung mit Gebärdensprache. Insgesamt schlug das Klima dahingehend um in Audismus, Gehörlose wurden gezwungen, Lautsprache zu lernen, z.T. mit auf den Rücken gebundenen Händen; gehörlose Menschen mit Uterus wurden ohne ihr Wissen und Einverständnis nach Geburten sterilisiert. Diese ablehnende Haltung gegenüber einer Gehörlosenkultur war Status Quo zu der Zeit, als Tanya Zolotoroff Nash mit ihrem Mann die Society for the Welfare of the Jewish Deaf leitete – eine nicht unwichtige Einordnung für diese hörende Advokatin der Gehörlosen.

In Deutschland übrigens folgte die Gehörlosenpädagogik spätestens seit dem Mailänder Kongress von 1880 der oralen Methode – auch wenn es schon fast hundert Jahre vorher die beiden unterschiedlichen Methoden in Frankreich und Deutschland gab, mit sehr unterschiedlichen Erfolgen. Der Nationalsozialismus tat sein Übriges – in der Mediathek Hessen sind die Filme von Helmut Vogel verfügbar, die über die Verfolgung Gehörloser durch die Faschisten berichten: (1), (2), (3) (ich verlinke diese ungesehen). Erst seit den 1980er Jahren begann sich das Verständnis von Gebärdensprache als vollwertige Sprache weltweit durchzusetzen; heute gelten in einigen Ländern die regionalen Gebärdensprachen sogar als Amtssprache. In Deutschland ist die Deutsche Gebärdensprache (DGS) seit 1998 als Sprache anerkannt.

47/2020: Frances Gertrude McGill, 18. November 1882

Frances Gertrude McGill (Link Englisch) war die Tochter zweier Kanadier irischer Abstammung; ihre Mutter, eine Lehrerin, hatte zwischen zwei Anstellungen als Lehrerin (eine in Kanada, eine in Neuseeland) einmal die Welt umrundet. Frances hatte zwei ältere Brüder und eine jüngere Schwester.

Als sie 17 Jahre alt war, tranken ihre Eltern auf einer Marktveranstaltung Mitte des Jahres typhusverseuchtes Wasser und starben beide im Laufe des Septembers 1900 binnen zehn Tagen an den Folgen der Infektion. Ihr ältester Bruder musste die Farm weiterführen, bis alle McGill-Geschwister die Schule abgeschlossen hatten. Frances machte zunächst eine Ausbildung zur Lehrerin, um sich ein akademisches Studium finanzieren zu können; hatte sie anfangs ein Jurastudium ins Auge gefasst, entschied sie sich schließlich doch für die Medizin. Sie erreichte dabei so gute Noten, dass sie sich den Großteil des Studiums mit Stipendien finanzieren konnte, und machte 1915, mit 33 Jahren, ihren Doktortitel der Medizin mit mehreren Auszeichnungen an der University of Manitoba. Damit war sie unter den ersten weiblichen Studentinnen, die dort diesen Abschluss erreichten. Sie absolvierte ein Praktikum am Winnipeg General Hospital und besuchte danach ein Aufbauprogramm im Landeslabor von Manitoba, wo sie eine Ausbildung in der Pathologie machte.

Da sie eine wachsende Expertise in Bakteriologie vorweisen konnte, wurde McGill 1918 zur Bakteriologin des Gesundheitsamtes von Saskatchewan berufen. Sie zog nach Regina, der Provinzhauptstadt, und arbeitete in einem Büro mit angeschlossenem Labor im Gerichtsgebäude der Provinz Saskatchewan. In dieser Funkion war sie unter anderem verantwortlich für die dortigen Maßnahmen des Gesundheitsamtes zur Zeit der Spanischen Grippe; möglicherweise war sie an der Entwicklung von Impfstoffen (Link Englisch) beteiligt (der Wikipedia-Beitrag behauptet jedenfalls, sie habe für mehr als 60.000 Saskatchewans Impfungen bereitsgestellt – dies waren wahrscheinlich Impfungen nicht gegen den Virus selbst, sondern gegen drei verschiedene Bakterien, die den Verlauf als Sekundärinfektionen tödlicher machten). Auch das Eindämmen der Geschlechtskrankheiten, mit denen die kanadischen Soldaten des Ersten Weltkrieges in großer Zahl nach Hause zurückkehrten, waren ihre Aufgabe.

1920 wurde Frances McGill zur Leitenden Pathologin der Provinz Saskatchewan ernannt, eine Position, die sie in den folgenden 22 Jahren innehaben sollte. Zwei Jahre später übernahm sie auch die Leitung des Labors der Provinz und arbeitete in dieser Funktion nicht nur mit der Polizei, sondern auch mit der nationalen Royal Canadian Mounted Police (RCMP) zusammen. In deren Auftrag untersuchte McGill Todesfälle mit ungeklärter oder verdächtiger Todesursache, und reiste dafür viel und in zum Teil extrem abgelegene Gebiete; so erreichte sie ihren Einsatzort einige Male mit dem Schneemobil dem Hundeschlitten oder Wasserflugzeugen; bis zu 43 Fälle untersuchte sie im Jahr und kam sogar bis in den nördlichen Polarkreis. Sie erarbeitete sich den Ruf einer fachkundigen und sorgfältigen Kriminologin und wurde bekannt als `Sherlock Holmes of Saskatchewan´, auch wenn sie bei der Polizei vor allem `Doc´ genannt wurde. Den grausamen und tragischen Inhalten ihrer Arbeit hielt sie mit einem unerschütterlichen Sinn für Humor stand. Ihr Motto soll gelautet haben `Denke wie ein Mann, benimm dich wie eine Dame und arbeite wie ein Tier.´(`Think like a man, act like a lady, and work like a dog.´) Quelle: Wiki Englisch)

Vor Gericht trat McGill als eindrucksvolle, sachliche Zeugin auf – wenn sie wohl auch einen Hang zur Dramatik hatte*. Mit dem damaligen Strafverteidiger und späteren Premierminister Kanadas John Diefenbaker lieferte sie sich zum Teil eindrucksvolle Wortgefechte. „Stellen Sie mir vernünftige Fragen, Mr. Diefenbaker, und ich gebe Ihnen vernünftige Antworten!“, soll sie einmal zu ihm gesagt haben. (Als grundsätzlich konservativ eingestellte Person unterstützte sie später jedoch Diefenbakers Wahlkampf und Politik.)

Während der Weltwirtschaftskrise stellte sie ihr Talent unter Beweis, mit begrenzten Mitteln effektiv zu arbeiten – sie führte Labortests im Wert von 122.000$ aus, schaffte es jedoch, die Kosten jedoch unter 17.000$ zu halten. Mit Überstunden und Mehrarbeit am Wochenende unterstützte sie in den 1930er Jahren die RCMP dabei, ein erstes eigenes Forensiklabor einzurichten. Als dieses 1937 dann offiziell eröffnet werden sollte, wurde ihr – trotz ihrer offensichtlichen Eignung dafür – nicht die Rolle der Direktorin angeboten. Da das Labor ihr jedoch stattdessen einiges an Arbeit als Pathologin und Kriminologin abnahm, widmete sie sich anderen Gebieten, etwa der Entwicklung eines Impfstoffes gegen Kinderlähmung. Außerdem spezialisierte sie sich auf Allergien und eröffnete in ihrer Wohnung eine Privatklinik für Allergiker, mit Öffnungszeiten nach den regulären Arbeitszeiten (`after hours´).

Mit 60 Jahren setzt sie sich 1942 von ihrer Position als Leitender Pathologien der Provinz Saskatchewan zur Ruhe; in ihrer Laufbahn hatte sie bis dahin um die 64.000 Laboruntersuchungen durchgeführt. Sie reiste und traf sich mit Freunden, nur ihre Allergieklnik betrieb sie weiterhin. Nur wenige Monate nach ihrem Abschied vom Gesundheitsamt hob sie ein Projekt aus der Taufe, um Vorschulkinder in Saskatchewan taufen zu lassen, das in der ganzen Provinzhauptstadt Impfkliniken ins Leben rief.

Im Folgejahr starb der bisherige Direktor des Forensischen Labors der RCMP bei einem Flugzeugunglück, woraufhin die Postition nun doch an McGill herangetragen wurde. Sie akzeptierte dieses Angebot würdevoll, begrenzte ihre Arbeitszeit jedoch auf Teilzeit, um ihre Nachmittage weiterhin den Allergikern in ihrer Privatklinik zur Verfügung zu stehen. Für die RCMP untersuchte sie nun wieder ungeklärte Todesfälle in Saskatchewan, sie hielt aber auch Lesungen und Trainings für junge Polizisten und Kriminalbeamte ab. Dabei zeigte sie ihnen, wie sie Blutspuren identifizieren, Tatorte analysieren und Spuren und Beweise sammeln sowie fachgerecht lagern konnten. Sie gab ihren Trainingsteilnehmern mit: „Glauben Sie nicht alle Sterbeurkunden, die Sie sehen. Es gibt keinen Grund, warum ein herzkranker Mann nicht auch an Strychnin-Vergiftung gestorben sein kann.“

Bis Anfang 1946, sie war inzwischen 64 Jahre alt, war McGill schließlich in Pension gegangen. Im Januar dieses Jahres wurde sie von der RCMP zum Honorary Surgeon (Ehren-Chirurg) ernannt – sie war die erste Frau mit diesem Titel und die erste Ärztin, die öffentlich als Mitglied der RCMP anerkannt wurde. Sie setzte sich jedoch mitnichten gänzlich zur Ruhe, sondern blieb der RCMP als Beraterin erhalten und bot weiterhin Lesungen an und nahm Prüfungen ab. Ihre Unterrichtsunterlagen waren so wohlformuliert, dass sie 1952 als Lehrbuch herausgegeben wurden. Da ihr Ruf ihr nicht nur in Kanada, sondern auch Übersee Aufmerksamkeit eingebracht hatte, durfte sie bei einem Besuch in London im gleichen Jahr sogar die Forensischen Labors des Scotland Yard inspizieren.

Noch 1956 schrieb ein US-amerikanisches Detektiv-Magazin eine Geschichte über sie, woraufhin ein Brief aus New York sie erreichte: Eine Frau bat sie um Aufklärung des Todes ihres Bruders. McGill wurde selbst nicht mehr aktiv, half der Frau jedoch, indem sie ihr Ratschläge gab, wie sie das FBI zu einer Exhumierung des Leichnams bringen konnte.

Nach einer Brustkrebsdiagnose und einer Rippenfellentzündung starb Frances Gertrude McGill am 21. Januar 1959 mit 77 Jahren. Ein See nördlich des Athabascasees ist nach ihr benannt.

*Mit der Obduktion von Leichen ungeklärter Fälle überführte sie zahlreiche Täter, sprach jedoch auch einige Unschuldige frei. Weil ich typischerweise ein Faible für derartige Details habe, hier auch die drei Fälle, die der Wikipedia-Beitrag näher schildert.
Im `Lintlaw case´untersuchte sie den Tod eines Farmers, der mit einer Schusswunde aufgefunden worden war. Blutspuren im Raum und die Tatwaffe, die in einem Silo gefunden wurde, wiesen auf Mord hin; ein Nachbar wurde verhaftet, der Blutspuren an seiner Kleidung nicht zufriedenstellend erklären konnte. McGill untersuchte die Leiche des Farmers genauer als der städtische Arzt und stellte aufgrund des Eintrittswinkels des Geschosses fest, dass der Mann Selbstmord begangen haben könnte. Anhand seines Mageninhaltes bewies sie, dass er tatsächlich nach dem Schuss noch lange genug gelebt hatte, um Blutspuren im Haus zu verteilen und die Waffe selbst zu verstecken. Ihr Widerspruch gegen den ersten Verdacht führte dazu, dass die Polizei auch aufklärte, dass der Mann an Depressionen gelitten und Waffe und Munition kurz vor seinem Tod selbst gekauft hatte. Mit diesem Fall machte sich McGill einen Namen bei der RCMP und wurde anschließend regelmäßig zur Untersuchung rätselhafter Tode hinzugezogen.
Der `Northern Trapper case´1933 war ein umgekehrter Fall, in dem ein Trapper verschwand. In seiner Hütte fanden sich Blutspuren und eine Kugel, die in die Holzbohlen der Wand eingedrungen war. Sein ehemaliger Partner wurde eineige Zeit später verhaftet, der auch zugab, den Mann erschossen zu haben, allerdings nicht mit Absicht. Die Überreste des Toten wurden gefunden und McGill setzte den zertrümmerten Schädel wieder zusammen. Dabei fand sie heraus – anhand des Eintrittswinkels des Geschosses und schwarzer Pulverspuren am Knochen – dass der Mann im Schlaf mit aufgesetzter Waffe erschossen worden war. Den Schädel holte sie bei ihrer Aussage vor Gericht aus ihrer Handtasche, was bei den Anwesenden für einiges Aufsehen sorgte. Ein Gerichtsreporter schrieb über sie, dass sie manches Mal die Beweisstücke mit der `Dramatik eines Magiers´zum Vorschein brachte.
Im `South Poplar case´ schließlich konnte sie den Verdacht auf Mord abweisen – ein Mann war erfroren aufgefunden worden, doch auch mit eingeschlagenem Schädel. Bei ihrer Unterscuhung des Schädels fand McGill jedoch heraus, dass der Mann an Rachitis (CN Bilder) gelitten hatte. Die Aussage eines Fernfahrers, der mit dem Mann Alkohol getrunken hatte, fügte das letzte Puzzleteil ein: Der Tote war erfroren, durch den Alkoholkonsum war vor seinem Tod die Blutzufuhr zum Kopf verstärkt worden, und in der eisigen Kälte hatte sich das Blut im Schädel ausgedehnt. Der von Rachitis geschwächte Knochen hatte dem Druck nicht standhalten können, sodass der Schädel geradezu geplatzt war – nachdem der Mann bereits den Kältetod erlitten hatte.

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Ebenfalls diese Woche

19. November 1845: Agnes Giberne (Link Englisch)
Diese Autorin des viktorianischen England schrieb 130 Bücher, darunter mehrere Kinderbücher, die in verschiedene Wissenschaften einführen sollte. Ihr bekanntestes Werk ist Sun, Moon and Stars von 1879, über Astronomie.

47/2017: Hetty Green, 21.11.1834

Hetty Green

English below
Wiki deutsch
Die in eine Quäker-Familie hineingeborene Henrietta wurde bereits mit 13 die Buchhalterin ihrer Familie; wahrscheinlich durch die häufige Krankheit ihrer Mutter bedingt interessierte sie sich unter dem Einfluss von Vater und Großvater früh für wirtschaftliche Themen.

1860 und 1865 erbte Green von verschiedenen Familienmitgliedern große Summen Geld, die sie dank ihrer Kenntnisse und Erfahrungen sehr bald gewinnbringend investierte. Nach einer Heirat und einem Aufenthalt in England (ihre Cousins hatten sie – vermutlich zu Recht – der Dokumentenfälschung angeklagt) wurde sie die erste Geschäftsfrau an der Wall Street und bekannt als „reichste Frau“ des Gilded Age.

Aufgrund ihres bemerkenswerten finanziellen Erfolges und ihres ebenso bemerkenswerten Geizes – und natürlich ihrer isolierten Position als Frau unter Männern – wurde sie „die Hexe von der Wall Street“ genannt. Sie war wohl insgesamt keine sehr liebenswerte Person, immer auf den Schutz ihres eigenen Geldes bedacht und dabei auch nicht scheu, es an menschlichen Werten mangeln zu lassen. Aber auch sich selbst gegenüber war sie hart und unnachgiebig und versagte sich sogar nötige medizinische Versorgung, weil sie sie Geld gekostet hätten.

Als sie 1916 mit 82 Jahren starb, war sie Schätzungen zufolge die reichste Frau der Welt, mit einem Vermögen, das heute zwischen 2 und 4 Milliarden US-Dollar wert wäre. Ihre beiden Kinder überlebten dank ihres Erbes und der Kenntnisse, die ihre Mutter ihnen weitergegeben hatte, die Weltwirtschaftskrise recht unbeschadet, genossen ihr wohlhabendes Dasein weit mehr als Hetty und spendeten vor allem einiges für wohltätige Zwecke und die Wissenschaft.

Bild: By Hollinger & Rockey – This image is available from the United States Library of Congress’s Prints and Photographs division under the digital ID cph.3a42973. This tag does not indicate the copyright status of the attached work. A normal copyright tag is still required. See Commons: Licensing for more information., Public Domain

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Wiki english
Born into a family of Quakers, Henrietta became her family’s bookkeeper; probably due to her mother’s recurring illness, under the influence of her father and grandfather, she became interested in economics at a young age.

In 1860 and 1865, Green inherited large sums of money from various family members, which she soon invested with a profit due to her knowledge and experience. After marriage and temporarily living in England (her cousin had accused her of forgery, probably rightfully so) she became the first business woman on Wall Street and known to be “the richest woman of the Gilded Age”.

Because of her remarkable financial success and her just as remarkable greed – and of course her isolated position as a woman among men – she was called “the witch of Wall Street”. It seems she wasn’t the most agreeable person, always worrying about guarding of her fortune and not shying away from a lack of humanitarian values. But she was just as hard and unrelenting against herself and even denied herself necessary medical procedures, as they would cost her money.

When she died in 1916 at the age of 82, she is estimated to have been the richest woman in the world, with a fortune of 2 to 4 billion US dollars’ worth. Her two children survived the Great Depression relatively unscathed, thanks to their heritage and the knowledge her mother had passed on to them, enjoyed their riches far more than Hetty had and noteably gave large sums to charity and scientific research.

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