Kategorie: Frauenrechte

20/2023: Inna Bocoum, 19. Mai 1984

CN: FGM

Als sechstes von sieben Kindern kam Inna Bocoum in Bamako, der Hauptstadt Malis, zur Welt. Ihren heutigen Künstlernamen verdankt sie ihrer Mutter, die sie ‚Modja‘ nannte: In der westafrikanischen Sprache Fulfulde bedeutet es ’nicht gut‘ (auf englisch: ‚cheeky‚), könnte also vielleicht mit ‚Tunichtgut‚ übersetzt werden.

Ihre Kindheit verlebte Inna Bocoum zu Teilen in Ghana. Während eines Besuchs bei der malischen Familie, als Inna noch keine vier Jahre alt war, wurde sie in Abwesenheit ihrer Eltern von ihrer Großtante betreut. Diese nahm – ohne Einverständnis der Eltern – eine Beschneidung an dem Mädchen vor. Die weibliche Genitalverstümmelung ist eine Tradition in vielen nord- und mittelafrikanischen Ländern, die Großtante übte somit in ihrem Glauben eine gute Tat an ihrer Verwandten aus. Für Inna Bocoum bedeutete es ein tiefsitzendes Trauma, eine Beschneidung ihrer Selbstwirksamkeit, in ihren Teenager-Jahren resultierten daraus große Schwierigkeiten mit ihrer Selbstwahrnehmung als Frau. (2, 3)

In ihrem Elternhaus wurde sie schon in ihrer Kindheit musikalisch geprägt; ihr Vater teilte mit ihr seine Liebe zu Jazz, Blues und Soul, ihre Mutter die zu Miriam Makeba. Auch ihre Geschwister beeinflussten ihren Musikgeschmack und -stil, mit Punk, HipHop, Heavy Metal und Disco. Mit sechs Jahren schrieben ihre Eltern sie bei einem Chor ein, später, als die Familie wieder in Bamako lebte, besuchte sie oft einen ihrer Nachbarn, der ebenfalls ihre Musikkarriere förderte: Salif Keïta. Der stellte den Kontakt zur Rail Band (Link Englisch) her, sodass sie erste Schritte in der malischen Musikbranche machte.

Sie unterzog sich rekonstrukitver Operationen, die ihre körperliche Gesundheit wie ihr Selbstbewusstsein wiederherstellten. (3, 4)

2009, mit 23, hatte Inna Modja ihren ersten Auftritt im französischen Fernsehen, als sie auf dem Fête de la Musique mit Jason Mraz sang. Im selben Jahr veröffentlichte sie ihre ersten Singles und ihr Album ‚Everyday is a new World‚. Zwei Jahre später landete sie einen französischen Sommerhit mit ‚French Cancan (Monsieur Sainte Nitouche)‚.

Inna Modja: French Cancan (Monsieur Sainte Nitouche)

Auf ihrem Album ‚Motel Bamako‚ im Jahr 2015 bezog sie Position zu verschiedenen politischen Themen, etwa die post- und neokolonialen Problematiken der Wasserrechte, der Flucht vom afrikanischen Kontinent nach Europa aufgrund von Krieg und Nahrungsmangel, und auch zu Gewalt an Frauen, unter anderem in Form von weiblicher Genitalverstümmelung. Die Lieder des Albums singt sie auf Englisch, Französisch und Bambara, einer anderen Sprache, die in Mali gesprochen wird.

Kurzfilm zu Inna Modja La Valse de Marylore (CN: körperliche/sexuelle Gewalt)

Aufgrund ihres Engagements durfte sie 2015 auch vor den Vereinten Nationen auftreten. Auch hier spricht sie über die Schwierigekeiten vieler afrikanischer Länder mit Bürgerkrieg und Trockenheit, außerdem über ihre Erfahrungen mit FGM und die Entscheidung, rekonstruierende Operationen vornehmen zu lassen.

Inna Modjas Auftritt vor der UNO

Zur FGM und rekonstrukiver Chirurgie möchte ich auch noch einmal In Search…‚ von Beryl Magoko empfehlen, der sich sehr persönlich und empfindsam mit der Thematik auseinandersetzt.


Quellen: Wiki englisch | deutsch
außerdem:
(2) deutschlandfunk
(3) SRF
(4) UN News

Dank an Vicky und das Wort für den hoffentlich richtigen Begriff in der Bildbeschreibung

19/2023: Tanya Zolotoroff Nash, 10. Mai 1898

CN: systematische Gewalt gegen Gehörlose

Tanya Zolotoroff kam als Kind einer wohlhabenden jüdischen Familie in Odessa zur Welt, damals Teil des russischen Zarenreiches. Ihr Vater stellte Pelzmützen her, was guten Verdienst einbrachte: Sie lebten mit mehreren Angestellten, unter anderem individuellen Kindermädchen für die damals drei Kinder. Dennoch waren die Eltern überzeugte Sozialisten und hielten politische Salons in ihrem Heim ab. Als 1904 der russisch-japanische Krieg ausbrach, beschlossen sie, in die USA auszuwandern, da jüdische Bürger dafür insbesondere eingezogen wurden – sie wurden ausdrücklich als ‚Kanonenfutter‘, also entbehrliche Massen, eingesetzt.(2)

Niemensch in der Familie sprach Englisch, ihre rasche Einbürgerung verdankten sie verschiedenen anderen Familienmitgliedern, die bereits im Land lebten. Die Zolotoroffs ließen sich in Brooklyn nieder, doch lebten sie hier in bitterer Armut. Der Vater fand Arbeit in einer Fabrik am Fließband, die Mutter verkaufte Süßkartoffeln im Park. Tanya bewunderte ihre Mutter für ihre Tatkraft, musste jedoch auch miterleben, wie ihre Mutter noch zwei weitere Kinder gebar und insgesamt zwölf Abtreibungen vornehmen lassen musste.(2)

Zwei Tanten von Tanya besuchten eine Sprachenschule, um Englisch zu lernen; Tanya war eigentlich noch zu jung für diese Schule, trug sich jedoch als ‚Lehrassistentin‘ an, sodass sie dem Unterricht trotzdem beiwohnen konnte. Sie war sprachbegabt und auch sonst sehr intelligent, nahm das Englische schnell auf und wurde oft für ihr gute Sprachkenntnis gelobt. Sie gewann mit dreizehn sogar einen Buchstabierwettbewerb, konnte aber an der Preisverleihung nicht teilnehmen, weil sie keine tragbaren Schuhe hatte. Mit 15 musste sie die Schule verlassen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Sie blieb politisch interessiert, besuchte außerhalb ihrer Arbeitszeit viel die Bibliothek und schloss sich der Brooklyn Philosophical Society an. Dort traf sie Felix Nash, einen jungen Mann in der Ausbildung zum Rabbi (nicht das Gleiche wie ein Rabbiner), und auch, wenn sie bei ihrer ersten Begegnung uneins waren, verliebten sie sich und heirateten 1927.

Nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, wandte sich Felix Nash der Sozialarbeit zu. 1929 übernahm er die Leitung der Society for the Welfare of the Jewish Deaf – zu einem Zeitpunkt, als diese vor den Tatsachen der Weltwirtschaftskrise stand. Viele Menschen waren zu dieser Zeit ohne Auskommen, doch Gehörlose und Ertaubte hatten noch weniger Möglichkeiten, sich zu behelfen, da ihre Arbeitsmöglichkeiten eingeschränkt waren. Vor den Türen der Society standen Schlangen von hilfsbedürftigen, gehörlosen und ertaubten Juden, also gab Zolotoroff Nash ihre Tätigkeit bei einer Zeitung auf und unterstützte ihren Mann bei seiner Arbeit. Sie lernte in kurzer Zeit American Sign Language (ASL), wenn auch nie so gut wie Englisch.(2) Kurz darauf übernahm sie selbst die Leitung der Society, da ihr Mann mit nur 30 Jahren an einem Gehirntumor verstarb.

Zolotoroff Nash musste feststellen, dass es der Society entschieden an Geld fehlte für alle Aufgaben, die sie für die Gemeinschaft erfüllen sollte, also begann sie, aus eigener Tasche zu zahlen oder im Bekanntkreis Spenden aufzutreiben. Sie öffnete die Organisation für andere Menschen mit Behinderung, etwa Taubblinde, aber auch für nicht-jüdische Gehörlose. Sie unterstützte ihre Gemeinschaft in Belangen der Medizin, bei der Arbeitssuche, organisierte Übersetzer und Anwälte, klärte über Verhütung bzw. Geburtenkontrolle auf; hierfür ging sie durch die Stadtviertel New Yorks, in denen vornehmlich Immigranten lebten, und suchte gehörlose Frauen auf, um sie über ihre Rechte und Möglichkeiten zu unterrichten. Außerdem half sie gehörlosen Immigranten bei der Einwanderung in die USA. Dabei scheute sie auch nicht vor verzeihlichem Betrug zurück: Beim Einbürgerungsantrag mussten Immigranten Fragen beantworten, um ihre Kenntnis der US-amerikanischen Geschichte zu beweisen, und Zolotoroff Nash übersetzte für sie – dabei gab sie grundsätzlich die richtigen Antworten, ungeachtet dessen, was die eigentlich Befragten in Gebärdensprache angaben. Sie gründete das Magazin der Organisation, The Jewish Deaf, und brachte gehörlose Kinder in Sommercamps unter; um die Integration zu verbessern, reiste sie voraus und brachte den schon anwesenden, hörenden Kindern die Grundkenntnisse der ASL bei, damit eine erste Kommunikation gewährleistet war.(2)

Eine Anekdote erzählt, dass Zolotoroff Nash einmal Helen Keller im Krankenhaus besuchte, nachdem dieser ein Zeh amputiert werden musste. Zolotoroff Nash buchstabierte ihr danach in die Hand, dass sie froh sei, dass Keller einen Zeh und nicht einen Daumen verloren hätte – sie hätte sonst einen Sprachfehler gehabt! Keller fand das selbst sehr erheiternd.(2)

1968 startete sie ihr letztes, größtes Projekt: Sie initiierte den Bau eines Wohnkomplexes für gehörlose Senioren. Hierfür kümmerte sie sich um Lizenzen, Baugenehmigungen, Aufträge und Finanzierung, die es ermöglichte, die Wohnungen für niedrigste Preise zu vermieten. In den 137 Wohnungen wurden standardisiert visuelle Signale für Türklingeln, Telefone und Feueralarme eingebaut, außerdem Kameras, die es den Bewohnerys ermöglichten zu sehen, wer vor der Tür stand; alle Flure wurden breit genug für Rollstühle angelegt. Nur wer weniger als 9.000$ (oder 10.000$ als Paar) im Jahr verdiente, konnte dort eine Wohnung mieten. Der Bau der Tanya Towers wurde 1974 abgeschlossen, Zolotoroff Nash blieb auch, nachdem sie sich von der Leitung der (inzwischen) New York Society for the Deaf zur Ruhe gesetzt hatte, als Beraterin für die Organisation tätig.(2)

Tanya Zolotoroff Nash starb am 10. Juli 1987 mit 99 Jahren.


Quellen: Wiki englisch
außerdem:
(2) I Don’t Know Her: ADVOCATE – Tanya Zolotoroff Nash (die erste Viertelstunde geht es um ein versehentliches Fremdouting einer der beiden Podcasterys, bevor sie zum Thema kommen)


Im oben genannten Podcast spricht Avery Mead auch über die Geschichte der Gehörlosenkultur und ASL, dabei setzt they den Aktivismus von Tanya Zolotoroff Nash auch in Bezug zum allgemeinen geschichtlichen Hintergrund. Ich möchte dies für die Leserys gerne kurz (und auf Deutsch) zusammenfassen, auch, weil ich dabei einiges gelernt habe, was ich ungemein faszinierend fand. Außerdem möchte ich noch sehr kurz auf die Geschichte der Deutschen Gebärdensprache eingehen.

Nach dem, was heute zu wissen ist, hat es schon immer überall auf der Welt Gebärdensprachen gegeben, nicht nur für spezielle Tätigkeiten (während der Jagd, in kriegerischen Konflikten etc.), sondern ausdrücklich für die Kommunikation zwischen und mit gehörlosen oder ertaubten Menschen. Mir war die Geschichte des Idioma des Signos Nicaragüense (ISN) aus Steven Pinkers ‚The Language Instinct‚ bekannt, im Podcast hörte ich jedoch zum ersten Mal von Martha’s Vineyard Sign Language (MVSL):

Auf der kleinen Insel vor der US-amerikanischen Westküste (nordöstlich von New York) siedelten in der Frühzeit der britischen Kolonialisierung vornehmlich Menschen aus dem Kent’schen Weald. In dieser Bevölkerung gab es eine Häufung von rezessiv vererbbarer Gehörlosigkeit, sodass dort im 18. Jahrhundert auf der Insel eine gehörlose Person auf 155 Hörende kam, in manchen Gegenden sogar, wie im an der Südküste gelegenen Chilmark, kam eine gehörlose Person auf nur vier Hörende. Zum Vergleich, der US-amerikanische Durchschnitt ist eine gehörlose Person auf etwa 1.000 Hörende. In dieser Situation hatte es sich vollständig normalisiert, dass Hörende und Gehörlose miteinander in einer Gebärdensprache kommunizierten – und zwar nicht nur ausschließlich, um die auditiven Unterschiede zu umgehen, sondern auch als Handhabe in Situationen, in denen Lautsprache nicht möglich oder nicht erwünscht war. Die MVSL – und das hat mich wirklich ein bisschen umgehauen – ging möglicherweise aus einer noch älteren, der Old Kentish Sign Language (Link Englisch) hervor, von der es einen Bericht aus dem 17. Jahrhundert gibt. Die Gehörlosen auf Martha’s Vineyard waren ganz selbstverständlich in die Inselgemeinschaft integriert – schon aufgrund der Statistik, hatte doch jede Person auf der Insel mindestens eine Verwandtschaft mit einer gehörlosen Person. Die Menschen auf Martha’s Vineyard sprachen allesamt, mehr oder weniger flüssig, die ortsübliche Gebärdensprache.

Währenddessen hatte sich im 18. Jahrhundert auch in Frankreich der Gedanke der Gehörlosenbildung mit Gebärdensprache etabliert, dank Charles-Michel de l’Epée. Ein Schüler de l’Epées, Laurent Clerc, traf in Frankreich auf den US-Amerikaner Thomas Hopkins Gallaudet, der für eine befreundete Familie mit einer gehörlosen Tochter nach Europa gereist war, um sich genau darüber fortzubilden. Gallaudet lud Clerc in die USA ein und gemeinsam bereisten sie Neuengland. Aus MVSL und der französischen Langue des signes français (LSF), entwickelten die beiden die frühe Form des ASL; sie gründeten 1817 das Connecticut Asylum for the Instruction and Education for Deaf and Dumb Persons, heute American School for the Deaf, Gallaudet gründete später die erste Universität für Gehörlose, die heute Gallaudet University heißt.

Leider entwickelte sich nun gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Idee der Eugenik (Erbgesundheitslehre), von der unter anderem der ‚erste kommerzielle Betreiber der Telefonie‘, Alexander Graham Bell überzeugt war, der selbst Sohn einer gehörlosen Mutter und Ehemann einer gehörlosen Frau war und sogar am Connecticut Asylum als Lehrer gearbeitet hatte. Er forderte ein Eheverbot für Gehörlose und wandte sich gegen die Gehörlosenbildung mit Gebärdensprache. Insgesamt schlug das Klima dahingehend um in Audismus, Gehörlose wurden gezwungen, Lautsprache zu lernen, z.T. mit auf den Rücken gebundenen Händen; gehörlose Menschen mit Uterus wurden ohne ihr Wissen und Einverständnis nach Geburten sterilisiert. Diese ablehnende Haltung gegenüber einer Gehörlosenkultur war Status Quo zu der Zeit, als Tanya Zolotoroff Nash mit ihrem Mann die Society for the Welfare of the Jewish Deaf leitete – eine nicht unwichtige Einordnung für diese hörende Advokatin der Gehörlosen.

In Deutschland übrigens folgte die Gehörlosenpädagogik spätestens seit dem Mailänder Kongress von 1880 der oralen Methode – auch wenn es schon fast hundert Jahre vorher die beiden unterschiedlichen Methoden in Frankreich und Deutschland gab, mit sehr unterschiedlichen Erfolgen. Der Nationalsozialismus tat sein Übriges – in der Mediathek Hessen sind die Filme von Helmut Vogel verfügbar, die über die Verfolgung Gehörloser durch die Faschisten berichten: (1), (2), (3) (ich verlinke diese ungesehen). Erst seit den 1980er Jahren begann sich das Verständnis von Gebärdensprache als vollwertige Sprache weltweit durchzusetzen; heute gelten in einigen Ländern die regionalen Gebärdensprachen sogar als Amtssprache. In Deutschland ist die Deutsche Gebärdensprache (DGS) seit 1998 als Sprache anerkannt.

18/2023: Del Martin, 5. Mai 1921

Dorothy Louise Taliaferro kam in San Francisco zur Welt und studierte Publizistik an der University of California, Berkeley und dem San Francisco Stat College. Einen Doktorgrad verdiente sie sich am Institute for the Advanced Study of Human Sexuality. Sie heiratete einen Mann, der ihr den Nachnamen Martin gab, doch die Ehe, aus der eine Tochter hervorging, endete nach vier Jahren.

1950, mit 29 Jahren, lernte Martin bei ihrer Arbeit als Journalistin in Seattle Phyllis Lyon kennen. Zwei Jahre später waren die beiden ein Paar, ein weiteres Jahr später bezogen sie zusammen eine Wohnung in San Francisco. Während sie für sich selbst ihre Identifizierung als Lesben und ihre Lebensweise als Paar gefunden hatten, fühlten sie sich in der übrigen Gesellschaft allein – als Homosexuelle in einer homosexuellenfeindlichen Gesellschaft, aber auch in der Gemeinschaft anderer Homosexueller. Es gab zwar auch in San Francisco eine Bar-Szene, in der sich Schwule und Lesben trafen, doch Martin und Lyon suchten nach einer anderen Art der Begegnung. Sie lernten ein Paar schwuler Männer kennen, die sie wiederum einem anderen lesbischen Paar vorstellten. Von diesem Paar kam die Frage an Martin und Lyon, ob sie sich zusammentun wollten für eine Organisation – anfänglich war einfach eine Art Club gemeint, der zum Austausch, zur gegenseitigen Unterstützung dienen und für das Gefühl einer Zugehörigkeit sorgen sollte zwischen der Diskriminierungen der heteronormativen Gesellschaft und der unorganisierten Welt der Homosexuellen-Bars, die außerdem der andauernden Schikane durch die Polizei ausgesetzt war. Martin und Lyons hatten Interesse, und so entstand der Club aus acht Frauen. Eine der Gründerinnen hatte die ‚Lieder der Bilitis (Link Englisch)‚ gelesen, eine Sammlung erotischer Gedichte, von der der Autor behauptete, sie seien Übersetzungen aus dem Alten Griechisch; Bilitis sei eine Zeitgenossin Sapphos gewesen. Aufgrund dieser eher obskuren Andeutung auf Lesbianismus nannten die Frauen ihren Club ‚Daughters of Bilitis‚, vermeintlich, weil Lesben den Hinweis verstehen würden, während der Name für Uneingeweihte schlicht nach einem weiteren Buchclub klänge. Nach Meinung Martins und Lyons war die Anspielung allerdings so verborgen, dass niemand sie verstand, denn außer dem besagten Mitglied kannte keine das Buch.(2)

Die ursprüngliche Gruppe spaltete sich schließlich auf in vier Frauen, die weiterhin schlicht einen geheimen Club betreiben wollten, und die anderen vier, die sich bald auf die Fahnen schrieben, nicht nur sich gegenseitig bei den alltäglichen Problemen zu helfen, sondern auch die Gesellschaft über die Realität lesbischer Frauen aufzuklären. Die Daughters hatten zu dieser Zeit kaum mehr als 15 Mitglieder und Martin und Lyons ermutigten jeden einzelnen Neuzugang persönlich. Von Beginn an ging es darum, sich gegenseitig und auch andere, ‚frischer geschlüpfte‘ Lesben bei den Herausforderungen zu unterstützen, die homosexuelle Frauen mehr als homosexuelle Männer betrafen. Sie sahen sich dabei nicht nur durch die homophobe Allgemeinheit bedroht, auch aus der homosexuellen Gemeinschaft schlug ihnen Abwehr entgegen. Viele Frauen empfanden es bedrohlicher, sich in einem ‚Club‘ außerhalb der Bars zu organisieren, als in den Bars ihre Zeit zu verbringen; es gingen auch Gerüchte um, der Club sei nur für Paare, es würden dort Orgien gefeiert und ähnliches. Insbesondere höhergestellte Frauen, die sich dank ihres Status besser in die Gesellschaft einfügten, während sie gleichzeitig als Paare zusammenleben konnten, fühlten sich von einer ‚Organisation‘ wie den Daughters bedroht – denn wenn über Lesbianismus gesprochen wurde, fiel der Blick auch auf sie, und sie wären von den gleichen Diskriminierungen betroffen gewesen. In dieser Zeit entstand auch der erste Kontakt zu Mattachine Society, die allerdings nicht ihr Vorbild war – da die Society bereits länger existierte, hatte diese schon festere Strukturen und arbeitete organisierter, doch die Frauen hörten erst davon, nachdem sie ihre Gemeinschaft gegründet hatten. Die Daughters erhielten auch eine gewisse Unterstützung von der Society, doch es stellte sich bald heraus, dass männliche Homosexuelle mit ganz anderen Problemen konfrontiert waren – ihre sexuelle Handlungen waren unter Strafe gestellt und die sexuelle Freiheit war das Hauptziel der männlichen Homophilenbewegung, während weibliche Homosexuelle sich mehr mit den gesellschaftlichen Konsequenzen eines (unfreiwilligen) Coming Out befassen mussten, insbesondere Verlust der Arbeit, Verlust der Wohnung, falls Kinder vorhanden waren, auch Verlust der Erziehungsberechtigung.(2)

Im Laufe der 1950er Jahre wuchsen die Daughters of Bilitis über San Francisco hinaus, 1959 existierten Ortsverbände in Los Angeles, Chicago, New York City und Rhode Island. In der Zwischenzeit hatten Martin und Lyon das Club-Magazin The Ladder gegründet und waren die ersten Redakteurinnen bis 1962. Beide blieben auch bis ans Ende der 1960er Jahre bei den Daughters aktiv, über die Zeit, in der in der Gemeinschaft Konflikte über die Vorgehensweise – eher still und aufklärerisch oder laut und politisch aktiv – zu vielen Abgängen führten.

Von 1967 an waren beide auch Mitglieder der National Organization for Women, Del Martin wurde die erste offen lesbisch lebende Person in der Leitung der Organisation. Das Paar engagierte sich in seiner ganzen weiteren Lebensspanne in verschiedenen Organisationen für die Rechte und die Gesundheit nicht nur lesbischer Frauen, später auch für die Rechte älterer Menschen: Sie gründeten 1972 den Alice B. Toklas Democratic Club, Del Martin war 1995 Delegierte in der Konferenz zum Thema Altern im Weißen Haus. Sie schrieben auch mehrere Bücher gemeinsam, Del Martin verfasste ein Buch über häusliche Gewalt.

Del Martin und Phyllis Lyon blieben ihr Leben lang ein Paar, doch erst 2004 konnten sie heiraten, nachdem der Bürgermeister von San Francisco die Maßgabe erteilt hatte, Heiratsurkunden auch für gleichgeschlechtliche Paare auszustellen. Der kalifornische Bundesgerichtshof erklärte diese Ehen allerdings wieder für nichtig, und so mussten Martin und Lyon ein weiteres Mal heiraten, als 2008 das gleiche Gericht gleichgeschlechtliche Ehen schließlich doch für legal erklärte. Zwei Monate nach ihrer Hochzeit starb Del Martin 87-jährig an den Komplikationen eines Armbruches.


Quellen: Wiki deutsch | Wiki englisch
außerdem: (2) Making Gay History

16/2023: Ernestine Eckstein, 23. April 1941

Bis sie 1963, mit 22 Jahren, nach New York zog, wusste Ernestine Eckstein selbst nicht, dass sie lesbisch ist. Sie hatte sich zwar zu Frauen hingezogen gefühlt, doch da ihr nicht klar war, dass es diese sexuelle Orientierung gab, betrachtete sie es als rein menschliche Zuneigung. (2, 3)

Vorher hatte sie an der Indiana University in Bloomington, Indiana, Magazin-Journalismus im Hauptfach sowie Psychologie und Russisch in den Nebenfächern studiert; dort war sie Mitglied der NAACP. In New York angekommen, suchte sie als erstes einen alten Freund auf, mit dem sie sich immer gut verstanden hatte, ohne dass es zu einer romantischen oder sexuellen Beziehung gekommen war. Auf seine Aussage ‚I’m gay‚ reagierte sie zunächst mit Unverständnis (‚gay‚ wurde damals noch vor allem als ‚lustig, vergnügt‘ verstanden). Als er ihr die Bedeutung des Wortes erklärte, wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass es Homosexualität gab, und sie hinterfragte ihre eigene Orientierung. Aus einer emotionalen Beziehung zu ihrer Mitbewohnerin wurde so auch eine Liebesbeziehung.(2, 3) Sich einer Organisation für und von Homosexuellen anzuschließen, war für Eckstein als überzeugte Bürgerrechtlerin ein logischer Schritt; sie besuchte als erstes die Mattachine Society, die auf eine Liberalisierung der Gesellschaft hinsichtlich Homosexualität hinarbeitete und Beratung für Homosexuelle anbot. Von dort aus schloss sich Eckstein den Daughters of Bilitis an und wurde 1965 Vizepräsidentin der Vereinigung.

Die Homophilenbewegung (zu dieser Zeit so bezeichnet) war von verschiedenen Strömungen geprägt – insgesamt starkt beeinflusst von linkem, im Sinne von kommunistischem Denken, auf dem viele Strukturen und Methoden von Menschen- und Bürger*innenrechtsbewegungen beruhen. Ein Teil der Bewegung legte Wert auf eine wenig Aufsehen erregende Arbeit für die Toleranz, um etwa die Meinung der Medizin und Psychologie zu verändern, dass Homosexualität eine psychische Krankheit sei. Ein anderer Teil, hauptsächlich jüngerer Homosexueller, wollte eine öffentlichere, politischere Menschenrechtsbewegung, die stärker am Aktivismus der Schwarzen Bürger*innenrechtsbewegung orientiert war. Ernestine Eckstein als Vizepräsidentin der Daughters of Bilitis stand für einen solchen politischen Aktivismus.

Für die Publikation der Daughters, The Ladder, interviewten Barbara Gittings und Kay Lahusen Ernestine Eckstein 1965. Die Ausgabe 1966 von The Ladder ist hier vollständig zu sehen. Im dem Gespräch macht sie einige ausgesprochen interessante Aussagen, insbesondere im Rückblick auf die Entwicklung der LGBTQIA+-Bewegung ab den späten 1960er Jahre.

Sie stellt fest, dass ihre Ideen ‚weiter links‘ seien als die anderer Homosexueller. Diese befürworteten zwar theoretisch die Protestmärsche für die Rechte Homosexueller, gingen aber selbst nicht hin; sie selbst nehme an Protestmärschen teil, wenn auch in anderen Städten. Der Grund für beides war natürlich, dass offen homosexuell lebende Menschen in Gefahr waren, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, und andere soziale Konsequenzen fürchten mussten. Doch eigentlich gingen Eckstein schon diese Protestmärsche nicht weit genug, sie nennt sie eine konservative Art des Aktivismus. Statt der ruhigen, gestitteten Runden mit ‚pickets‚ seien etwa Sit-Ins die politische Aktion der Zeit. Eckstein räumt ein, dass die Homophilen-Bewegung nicht so radikal sein könne wie die der Schwarzen US-Amerikaner, weil deren Anliegen in Sachen Menschen- und Bürger*innenrechten allgemein akzeptiert sei, während die Homophilen-Bewegung erst an den Punkt kommen müsse, dass ihr Anliegen – ungehindert einem selbstgestalteten, ’normalen‘ Leben nachgehen zu können, ohne die sexuelle Orientierung verdrängen oder verstecken zu müssen – von allen akzeptiert würde. Ein Weg jedoch, die Vorurteile gegenüber Homosexuellen auszuräumen, sei es eben, das Leben offen homosexuell zu leben: Eckstein verwendet hier die Worte ‚to come out‚ und meint sie sicher noch wörtlich, dass Homosexuelle als solche sichtbar ‚auf die Straße‘ gehen sollten. Doch möglicherweise liegt hier ja der Ursprung des heute gängigen Ausdrucks dafür, seine Orientierung oder Identität bekannt zu machen.

Eckstein sagt weiter, dass gleichzeitig für ihr Dafürhalten die Homophilen-Bewegung zu wenig juristisch aktiv ist, im Sinne von Klagen gegen Diskriminierung, die als Präzedenzfälle für das US-amerikanische Rechtssystem dienen können. Außerdem sei die Bewegung derzeit zu sehr auf sexuelle Freiheit fokussiert, sicher, weil diese eben nicht so vorhanden sei, Liebes- und sexuelle Beziehungen für Homosexuelle nicht so leicht und offen auslebbar waren wie für Heterosexuelle. Doch für die Gemeinschaft und die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexuellen als ganz ’normale‘ Bürger*innen sei es auch wichtig, sich für alle möglichen anderen sozialen Aktivitäten zusammenzutun. Auf die Anmerkung, dies könne von Heterosexuellen als reine Anbahnungsmaßnahme für sexuelle Kontakte betrachtet werden, kontert sie ausgesprochen modern: ‚I think we have to decide how far we can go for caring about what heterosexuals think. […] We want acceptance and we want our rights as citizens and as people, but this doesn’t mean that all of our activity and all of our goals are defined by other people’s filthy minds.‚ – „Ich glaube, wir müssen uns entscheiden, wie weit wir gehen können darin, uns um das zu kümmern, was Heterosexuelle denken. Wir wollen Akzeptanz und wir wollen unsere Rechte als Bürger und Bürgerinnen und als Menschen, aber das heißt nicht, dass alle unsere Aktivitäten und alle unseren Ziele von den schmutzigen Gedanken anderer Leute definiert sind.“ (Im gedruckten Interview – im PDF zu lesen – sagt sie allerdings auch, dass die Schwarzen weiße und die Homosexuellen heterosexuelle Unterstützer*innen brauchen, um die Bewegung in der Gesellschaft zu integrieren; wenn die Kooperation über diese Label hinweg gefördert würde, würden die Menschenrechtsbewegungen in die Allgemeinheit überführt und blieben nicht nur Bewegungen ‚da drüben‘.)

Die herausragendste Äußerung von Eckstein betreffen allerdings das, was wir heute als Intersektionalität verstehen. Sie spricht darüber, auch die ‚transvestites‚ – damals umfassender Begriff auch für transgender Personen – in die Homophilen-Bewegung und ihren Aktivismus einbezogen werden sollte. Gittings und Lahusen sind darüber überrascht (die Lesben-Bewegung stand transgender und transvestitischen männlich gelesenen Personen kritisch gegenüber) und Eckstein erläutert, dass sie die Homophilen-Bewegung als Teil einer größeren Bewegung versteht, die eigentlich zu einer Beseitigung aller Label führe. Die Veränderungen der Gesellschaft zugunsten von Homosexuellen müsse notwendig auch das Recht für alle mit sich bringen, sich anzuziehen, wie sie wollen. Sie bezeichnet die spezielle Diskriminierungsproblematik der ‚transvestites‚ nicht als ein ‚Homosexuellen-Problem‘, sondern als eines der ’sexuellen Identität‘ – welches jedoch von der Gesellschaft zu einem Komplex zusammengeworfen würde, weshalb sie der Meinung ist, dass die Homophilen-Bewegung sich dessen annehmen sollte, wenn sie erst ihre eigenen Ziele erreicht hätte. Sie glaubt nicht, dass diese intersektionale Zusammenarbeit noch in ihrer Lebenszeit stattfinden würde, doch es sei das Ziel, auf das sie hinarbeite. Ernestine Eckstein nennt sich selbst eine ‚Sozialprophetin‘ und sie hat nach heutigem Kenntnisstand Recht: Der Kampf für die Rechte von trans*gender Personen ist mithin ein feministischer Kampf, doch noch heute lehnen viele den Gedanken ab, dass es im Prinzip um die Auflösung von Labels – beginnend mit ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ – gehen sollte, um die Gesellschaft von überkommenen, schädlichen Vorstellungen von ‚Normalität‘ zu befreien.

Ernestine Eckstein ließ sich sogar für das Titelbild der Ausgabe fotografieren, wenn auch nur im Profil – sie ging schließlich das Risiko ein, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, wenn sie erkannt würde. Sie verließ die Daughters of Bilitis bald darauf, wahrscheinlich war sie von persönlichen und politischen Grabenkämpfen erschöpft. So stand sie 1965 in Korrespondenz mit Frank Kameny, den sie für einen Vortrag nach New York zu den Daughters einladen wollte, um ihre Position hinsichtlich öffentlicher Proteste und politischem Aktivismus zu stärken. Im Februar 1966 musste sie ihre Einladung dann aufgrund des Widerstands bei den Daughters jedoch zurückziehen. In den frühen 1970er Jahren zog Eckstein von New York nach San Francisco, wo sie sie sich bei Black Women Organized for Action (BWOA) engagierte – eine Organisation, die mehr ihren politischen Vorstellungen entsprach. So rotierte die Führung der Organisation zwischen jeweils drei Personen, die nach drei Monaten wieder ausgewechselt wurden, was nicht nur den Aufbau einer Hierarchie unter den Mitgliedern verhinderte, sondern auch dafür sorgte, dass zahlreiche unterschiedliche Schwarze Frauen als Anführerinnen gefördert wurden.

Die Absichtserklärung der BWOA lautete(1, Übersetzung meine):

Black: Wir sind Schwarz und sind wir uns unserer Verpflichtung bewusst, uns im Kampf der Schwarzen einzusetzen für ihre Identität und für die Einbindung in Entscheidungen, die ihr Leben und das Leben der folgenden Generationen Schwarzer betreffen.
Women: Wir sind Frauen und uns deshalb bewusst, wie eklatant zum Teil die Talente und Energien Schwarzer Frauen verschwendet werden, weil uns die Gesellschaft einen bestimmten Platz zugewiesen hat.
Organized: Wir sind organisiert, weil wir erkennen, dass wir nur zusammen, mit unseren gemeinsamen Talenten und Ressourcen, eine entscheidende Veränderung erreichen können in den Institutionen, die unsere Möglichkeiten eingeschränkt und unser Wachstum als Menschen behindert haben.
Action: Wir sind für Aktivismus, weil wir glauben, dass die Zeit der Rhetorik vorüber ist; dass die Fähigkeiten Schwarzer Frauen am besten auf vielseitige Weise eingesetzt werden können, um die Gesellschaft zu verändern; dass, in der politischen Arbeit, die wir vorleben, das Engagement Schwarzer Frauen über die traditionelle Mittelbeschaffung hinausgehen und in die ganze Palette von Aktivitäten führen muss, die den politischen Prozess ausmachen, welcher unser Leben auf so viele Arten bestimmt.

Die BWOA hatte eine offene Auffassung, wer als ‚Schwarz‘ galt (möglicherweise näher an dem, was heute ‚of Color‚ heißt), und ging zurückhaltend mit dem Begriff ‚feministisch‘ um. Damit verhinderten sie Abgrenzungen und Dispute innerhalb der Organisation über die Vorstellungen, was diese Begriffe beinhalteten.

Nach ihrem Weggang aus New York nach San Francisco verliert sich Ernestine Ecksteins Spur. Es ist nur mehr bekannt, dass sie 1992, wahrscheinlich nach langer Krankheit, in San Pablo, Kalifornien, starb.


Faszinierendes Dokument aus der Zeit, in der Ernestine Eckstein als Schwarze, lesbische Frau ihren Aktivismus entwickelte, ist einmal diese CBS Dokumentation, „The Homosexuals“ (CN: voller 1950/60er Vorurteile, Pathologisierung, verinnerlichter Homophobie etc. – nur ansehen, wenn frohes Bewusstsein darüber besteht, dass diese Zeiten immerhin mehr als 50 Jahre zurückliegen), in der bei Minute 28:50 Ernestine Eckstein kurz zu sehen ist(2); außerdem lässt sich an den zwei kurzen Filmen von Lilli Vincenz hier großartig die Entwicklung der LGBTQIA+-Bewegung erkennen: Der erste zeigt die recht braven picket lines 1968, wie sie auch Ernestine Eckstein besuchte, der zweite zeigt die erste Christopher Street Liberation Day Parade 1970 – den ersten Jahrestag der Stonewall Riots. Das Coming Out der Homosexuellen auf die Straße, das Eckstein sehen wollte, ist hier wesentlich deutlicher und wird mit Stolz gefeiert. Der Einfluss, den die eben nicht friedlichen, sondern wehrhaften Unruhen in der Christopher Street auf die Gesellschaft hatten – ausgetragen von trans*gender und homosexuellen, Schwarzen und weißen Männern und Frauen –, ist hier nicht zu verleugnen.


Quellen: Wiki englisch
außerdem:
(2) Making Gay History
(3) LGBTQ Nation

13/2023: Mykki Blanco, 2. April 1986

Mykki Blanko kam als ein Kind der Quattelbaum-Familie zur Welt, ihr Vater, ein afroamerikanischer Jude, beendete seine Tätigkeit als IT-Spezialist, um als Medium zu arbeiten, ihre Mutter war eine Rechtsanwaltsfachangestellte; die Eltern trennten sich, als Mykki zwei Jahre alt war, und sie lebte anschließend bei ihren Großeltern väterlicherseits in Kalifornien. Nach einem Umzug nach North Carolina floh sie mit 16 Jahren aus dem Familienheim nach New York City. Es folgte eine Zeit wechselnder Wohnsitze und zweier begonnener Ausbildungen. Für ein Studium an der School of the Art Institute Chicago erhielt Blanko ein Stipendium, beendete es jedoch nach zwei Semestern, auch ein Studium an der Parsons School of Design beendete sie nicht.

Ihre heutige Karriere begann mit der Veröffentlichung ihres Gedichtbandes From the Silence of Duchamp to the Noise of the Boy 2011, im Folgejahr erschien ihr erstes musikalisches Werk, die EP Mykki Blanko and the Mutant Angels. Bis zu ihrem ersten ausgewachsenen Album im Jahr 2016 – Mykki – war sie auf diversen Mixtapes und anderen Kooperationen vertreten, unter anderem mit Kanye West auf dessen unveröffentlichten Album Yandhi.

Den Namen Mykki Blanko wählte die geborene Quattelbaum zum ersten Mal 2010 für eine Persona, die sie für YouTube-Clips annahm. Der Name ist inspiriert von Lil‘ Kims Alter Ego Kimmy Blanko, die Blanko auch als künstlerischen Einfluss nennt; weiter nennt sie so unterschiedliche andere Einflüsse wie GG Allin, Jean Cocteau, Kathleen Hanna, Lauryn Hill, Rihanna, Marilyn Manson und Anaïs Nin. Auch wenn sie als Mykki Blanko anfangs vor allem in Hiphop-Videos auftrat, in denen sie auch in ihrer männlichen Persona zu sehen war, wollte sie nie als ‚Drag artist‘ oder ‚transvestite rapper‚ wahrgenommen werden. Auch auf ‚gay/queer rap‚ wollte sie sich nicht festlegen, da sie ihren künstlerischen Hintergrund vielmehr im Dadismus und dem Riot Grrrl Punk verortet. In einer Titelstory der Village Voice über sie mit der Überschrift ‚GenderNinja‚ von 2013 positioniert sie sich als Feministin, jedoch noch nicht als trans* Frau – sie spricht stattdessen über die Fluidität von Gender und über die Möglichkeit, mittels Accessoirs und Kleidung Gender zu performen.

Nach ihren frühen Erfolgen als Musikerin ging sie 2015 bewusst das Risiko ein, ihren HIV-positiven Status auf FaceBook zu veröffentlichen. Für den Fall, dass dies ihre Musikkarriere beenden würde, hatte sie bereits einen Wechsel in den Journalismus ins Auge gefasst, doch die Reaktion ihrer Fans war so unterstützend, dass sie doch ihre künstlerische Arbeit fortsetzte.

Seit 2019 identifiziert Mykki Blanko sich als trans* Frau mit den Pronomen sie/ihr und they/them; wie sie in ihrem Corona-Lockdown-Tagebuch schreibt, hat sie auch eine geschlechtsangleichende Hormontherapie begonnen. In den vergangenen zwei Jahren war sie künstlerisch sehr aktiv und brachte zwei ALben heraus: 2021 Broken Hearts and Beauty Sleep, 2022 folgte bereits Stay Close to Music, das hier im Rolling Stone besprochen wurde. Auf dem Album sind diverse Gastkünstler*innen vertreten, wie Michael Stipe von R.E.M. und Jónsi von Sigur Rós.

Mykki Blanko: Family Ties ft. Michael Stipe
Mykki Blanko: Carry On ft. Jónsi

Quelle Biografie: Wiki englisch

11/2023: Diane Marie Rodríguez Zambrano, 16. März 1982

Foto von Diane Rodríguez im Profil vor einem Regenschirm in Regenbogenfarben; sie hat langes, lockiges schwarzes Haar und trägt ein Tanktop unter einer offenen weißen Bluse
Personas transexuales en la sociedad /15 de enero del 2014 Guayaquil – Ecuador / Lissette Quezada / EXPRESO By Casitti – Own work, Public Domain

Diane Rodríguez floh mit 16 Jahren aus ihrem Elternhaus und arbeitete zunächst als Prostituierte in Guayaquil. Schon früh begann sie jedoch auch, sich in verschiedenen ecuadorianischen Organisationen für die Rechte Homosexueller einzusetzen. Eine Initiative namens „Future Community„, die sich besonders mit Geschlechtsidentität in Abgrenzung zur sexuellen Orientierung befasste, scheiterte leider 2006 nach sechs Monaten an ‚gaytriarchy‚, wie Rodríguez es später nennen sollte.

Rodríguez studierte schließlich Psychologie und arbeitete zur Finanzierung ihres Studiums in Hotels. Nachdem sie zum wiederholten Mal aus einer Stelle entlassen wurde – sie war am Tag zuvor als Frau auf einer öffentlichen Veranstaltung für die Rechte Homosexueller aufgetreten, während sie im Hotel als Mann beschäftigt wurde – klagte sie gegen ihren Arbeitgeber wegen Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. In Ecuador war schon 1998 ein Gesetz gegen die Diskriminierung von Homosexuellen erlassen worden (das jedoch noch nicht unterschiedliche Geschlechtsidentitäten berücksichtigte), doch Rodríguez‘ Fall stellte einen Präzendenzfall dar als darauf basierende Klage einer Privatperson gegen ein Unternehmen. Ihr Ziel war die Wiedereinstellung – als Frau. Dem stand entgegen, dass es ihr nicht möglich war, ihren Namen und Personenstand zu ändern, obwohl sie inzwischen als Frau lebte. Aufgrund dieses Missstandes startete Rodríguez die Kampagne „Frauennamen für Frauen“ und stritt juristisch um die Möglichkeit, ihre persönlichen Daten der Realität anpassen zu dürfen. In dieser Zeit gründete sie auch ihre Organisation für die Rechte von trans*gender Personen Silueta X (Link Spanisch). Ihr wurde in der zweiten Instanz Recht gegeben, und so erhielt Ecuador 2009 eine Gesetzesänderung, die es trans* und inter* Personen ermöglichte, ihren Namen und den Geschlechtseintrag in ihren Daten ändern zu lassen.

Da es sich abzeichnete, wie erfolgreich sie politisch arbeitete, stellte sie sich 2013 als erste trans* Person zur Wahl in die ecuadorianische Nationalversammlung. In diesem Jahr wurde sie noch nicht gewählt, doch der damalige ecuadorianische Präsident Rafael Correa zeigte sich auf Twitter offen bewundernd für ihre Tätigkeit; später folgte daraus sogar ein öffentliches Treffen von Rodríguez mit dem Präsidenten, das einen großen Schritt für die Sichtbarkeit von trans* Personen in Ecuador bedeutete.

International wurde auch die Elternschaft ihres ersten Kindes beachtet, das ihr Ehemann, Fernando Machado, 2015 austrug; 2017 schließlich wurde sie als erste trans* Person in die Nationalversammlung gewählt.

Ihre Motiviation, sich für die Rechte ihrer trans* Mitmenschen einzusetzen, erklärt sie mit ihrer eigenen Erfahrung: Sie habe sich früher selbst für einen schwulen Mann gehalten, weil sie nicht wusste, dass es trans*gender Personen gibt – doch in der Gemeinschaft der schwulen Männer fühlte sie sich auch nicht ‚richtig‘, da ihr Erleben der eigenen Identität und der sexuellen Anziehung zu Männern anders war als das schwuler Männer. Ihr Ziel war und ist es, die Existenz von trans* Personen sichtbar zu machen und soziale Akzeptanz zu erreichen – und zwar soweit, dass diese ein völlig normales Leben führen können, ohne in der Gesellschaft etwas Außergewöhnliches zu sein(3). Sie setzt sich jedoch auch allgemein gegen Diskriminierung und für Menschenrechte ein, so auch für Frauenrechte wie für die Rechte ecuadorianischer Indigener und Afro-Ecuadorianer.

Ihre Klage auf Wiedereinstellung im Hotel wurde nie abgeschlossen. Ihr Studium der Psychologie hat sie erfolgreich abgeschlossen.

Ich entschuldige mich für alle Unklarheiten in der Chronologie oder der Sprache. Der deutsche Beitrag auf Wikipedia ist sehr kurz und der englische leider eine enthusiastische, aber sprachlich schwache Übersetzung des spanischen Beitrags. Mein Spanisch ist schlecht und eingerostet.
Front Line Defenders: Diane Rodríguez Vorstellung als Finalistin für den FLD Award 2015
Beitrag von teleSUR über Diane Rodríguez

BBC Video zur Elternschaft von Diane Zambrano und Fernando Machado (CN: deadnaming, Thematisierung der Kindzeugung und Geschlechtsorgane; Link Englisch)


Quelle Biografie: (1) Wiki deutsch | Wiki englisch
außerdem:
(2) NBC News (CN: deadnaming; Link Englisch)
(3) Frontline Defenders (CN: deadnaming; Link Englisch)

29/2020: Eunice Newton Foote, 17. Juli 1819

Eunice Newton Foote wuchs als eines von 12 Geschwistern in Bloomfield, New York, auf; mit 17 Jahren besuchte sie für zwei Jahre das Troy Female Seminary (Link Englisch) (heute Emma Willard School). Die Schülerinnen dort durften Vorlesungen am nahegelegenen College hören, wo Newton die Grundlagen der Chemie und Biologie erlernte. Großen Einfluss auf sie hatten die Lehrbücher von Almira Hart Lincoln Phelps (Link Englisch), einer Schwester von Emma Willard, Botanikerin und drittes weibliches Mitglied der American Association for the Advancement of Science.

Newton Foote setzte sich grundsätzlich für Frauenrechte ein, so gehörte sie zu den Unterzeichnerinnen der Declaration of Sentiments auf der Seneca Falls Convention 1848, ihr Ehemann seit 1841, Elisha Foote, ebenso.

Davon abgesehen unternahm sie Experimente zur Erwärmung von Gasen. Ihre Ausstattung dafür war laienhaft, aber mit einer Luftpumpe, vier Quecksilberthermometern und zwei Glaszylindern machte sie als erste eine Entdeckung, die für uns heute relevanter denn je ist. Sie platzierte jeweils zwei Thermometer in einem der beiden Glaszylinder, aus einem pumpte sie die Luft ab, im anderen sorgte sie für erhöhten Druck. So stellte sie diese Gefäße ins Sonnenlicht und beobachtete die unterschiedliche Wärmeentwicklung und Abkühlung darin. Sie führte diese Proben auch mit unterschiedlichen Feuchtigkeitsgraden durch sowie mit Wasserstoff und Kohlendioxid. Dabei stellte Newton Foote fest, dass der Zylinder mit CO2 sich sowohl am stärksten erhitzte (auf etwa 52 Grad), wie sich auch am langsamsten wieder abkühlte. Aus dieser Entdeckung schloss sie, in dem Bericht, den sie über ihre Forschung schrieb, dass erhöhte Kohlendioxidwerte in der Atmosphäre der Erde für erhöhte Temperaturen und somit ein wärmeres Klima sorgen müssten. Eunice Newton Foote blickte selbst vor allem in die Vergangenheit, in der die Erde wahrscheinlich wärmer gewesen war, doch für uns heute ist diese Schlussfolgerung bekannt als der Treibhauseffekt – den Newton Foote somit bereits vor 1856 entdeckte.

Auf der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science 1856 wurde dieser Bericht vorgestellt. Warum Eunice Newton Foote in nicht selbst vortrug, ist unklar, doch statt ihrer verlas der Physiker Joseph Henry ihre Arbeit. Er stellte dem voran: „Die Wissenschaft hatte kein Land und kein Geschlecht. Die Sphäre der Frau umfasst nicht nur das Schöne und Nützliche, sondern auch das Wahre.“ (Quelle: Smithsonianmag.com)

Der Artikel wurde im gleichen Jahr noch unter ihrem Namen im American Journal of Science veröffentlicht, doch in den jährlichen Proceedings, der Sammlung von Einreichungen der AAAS-Tagungen, erschien Newton Footes Artikel nicht. Zusammenfassungen ihrer Forschung wurde zwar noch mehrfach in den Vereinigten Staaten und Europa geteilt, doch dann zum Teil ohne ihre bahnbrechende Schlussfolgerung oder gar unter dem Namen ihres Ehemanns. Nur das Magazin Scientific American erwähnte Newton Foote lobend noch einmal in seiner Ausgabe „Scientific Ladies„.

Drei Jahre später stellte John Tyndall – unter professionelleren Bedingungen – ähnliche Forschungen an, allerdings registrierte er die infrarote Wärmestrahlung, statt, wie Newton Foote es nannte, die ‚Sonneneinstrahlung‘. Im Artikel über seine Ergebnisse erwähnte Tyndall Claude Pouillet, doch nicht Eunice Newton Foote. Es ist unter den damaligen Verhältnissen durchaus möglich, dass Tyndall schlicht keine Kenntnis hatte von den Experimenten Newton Footes, denn Europa (Tyndall war Brite) wurde als Zentrum der Wissenschaft empfunden und US-amerikanische Forschungen nicht sehr beachtet. Heute gilt Tyndall allgemein als der Entdecker des Treibhauseffektes, obwohl Eunice Newton Foote diesen drei Jahre zu vor bereits beobachtet hatte.

Newton Foote veröffentlichte weitere Artikel zu anderen wissenschaftlichen Themen und entwickelte mehrere Patente. Sie starb am 30. September 1888.

Zur ihrer späten Anerkennung verhalf ihr 2010 Ray Sorenson, ein pensionierter Geologe für Erdöl, der auf sie in der 1857-Jahresausgabe der Annual Scientific Discovery stieß. Er erkannte, welche Bedeutung ihre damals untergegangene Entdeckung und Schlussfolgerung für die heutige Welt hatte, dass sie seither jedoch unerwähnt blieb. Er schrieb einen Beitrag im Online-Magazin Search and Discovery der American Association of Petroleum Geologists, der mehr Aufmerksamkeit erregte als jeder Beitrag von ihm zuvor. Acht Jahre später fand an der University of California, Santa Barbara eine Ausstellung in der Bibliothek sowie eine Vorlesung zu Eunice Newton Foote statt. Inzwischen ist ihr Name als entscheidende Mitwirkende an der Klimaforschung bekannter, wenn auch noch nicht im gleichen Atemzug wie John Tyndall.

Es greifen mehrere Gründe ineinander, warum Eunice Newton Foote ein Opfer des Matilda-Effektes wurde und ihre Erkenntnis über die klimatische Bedeutung des Kohlendioxids unterging. Wie oben beschrieben, wurden US-amerikanische Forschungen und Erkenntnisse in Europa oftmals nicht wahrgenommen oder wertgeschätzt. Ebenso hatte Newton Foote eben aufgrund ihrer Vielseitigkeit keinen Status als Expertin oder Koryphäe. Doch schon ihr Unterstützer Joseph Henry erkannte, dass auch ihr Geschlecht der Anlass war, warum männliche Wissenschaftler ihren Erkenntnissen keine Bedeutung beimaßen. Ein Artikel in der New York Times aus der Reihe Overlooked befasst sich ebenfalls mit diesen Aspekten und lässt ihre Nachfahren, zum Teil selbst Wissenschaftlerinnen in der Klimaforschung, zu Wort kommen.

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Ebenfalls diese Woche

14. Juli 1862: Florence Bascom
Die amerikanische Geologin war die erste Frau, die 1924 als Mitglied der Geological Society of America zugelassen wurde, später war sie sogar Vizepräsidentin der Gesellschaft.

15. Juli 1753: Almira Hart Lincoln Phelps
Wie es der Zufall will, ist diese Pädagogin bereits oben im Text verlinkt: Sie schrieb zahlreiche naturwissenschaftliche Lehrbücher für Schülerinnen.

15. Juli 1943: Jocelyn Bell Burnell
Gemeinsam mit ihren Kollegen Antony Hewish und Martin Ryle entdeckte die britische Radioastronomin als erste einen Pulsar, der später als Neutronenstern interpretiert wurde. Ihre Kollegen erhielten 1974 den Nobelpreis für Physik, Bell Burnell hingegen wurde nicht geehrt, was sie mit einiger Gelassenheit hinnahm (Link Englisch). 2018 gewann sie den Special Breakthrough Prize in Fundamental Physics, aus dem Preisgeld gründete sie eine Stiftung, die Stipendium für Studierende der Physik vergibt, die als Frauen, ethnische Minderheiten oder Flüchtlinge in der akademischen Welt benachteiligt sind.

19. Juli 1921: Rosalyn Sussman Yalow
Über die Trägerin des Nobelpreises für Medizin schrieb ich 2015.

27/2020: Marian Farquharson, 2. Juli 1846

Marian Sarah Ogilvie Farquharson erfuhr als Tochter eines protestantischen Geistlichen eine breitgefächerte Bildung im eigenen Elternhaus. Sie interessierte besonders für Botanik, insbesondere die einheimische Flora in England. Mit 35 wurde sie Mitglied des Epping Forest and Essex‘ Naturalists Field Club und veröffentlichte einen Taschenführer über die Farne der britischen Inseln.

Verhältnismäßig spät für ihre Zeit heiratete sie 1883, mit 37 Jahren, den Landbesitzer Robert Francis Ogilvie Farquharson und zog zu ihm nach Alford, Aberdeenshire, im Norden Schottlands. Dort wurde sie Mitglied zweier naturwissenschaftlicher Vereinigungen und beschäftigte sich weiterhin mit der regionalen Pflanzenwelt; 1885 wurde ihr Artikel über Moose in der Zeitschrift der British Association for the Advancement of Science veröffentlicht. Im gleichen Jahr wurde sie zum Mitglied der Royal Microscopical Society gewählt, doch als Frau durfte sie weder an den Treffen der Gesellschaft teilnehmen noch hatte sie ein Abstimmungsrecht.

Nachdem 1890 ihr Ehemann gestorben war, wurde Ogilvie Farquharson politisch aktiv. Sie gründete die Scottish Association for Promotion of Women’s Public Work, mit der sie dafür kämpfte, Frauen als gleichberechtigte Mitglieder von Gelehrtengesellschaften zuzulassen. Noch im gleichen Jahr, in dem sie Witwe wurde, sprach sie auf einer Konferenz in Paris über die Rolle der Frau in der Wissenschaft, beim Internationalen Frauenkongress 1899 in London (Link Englisch) war sie für den Bereich der Naturwissenschaften mitverantwortlich.

Am 18. April 1900 schrieb sie einen Brief an die Linnean Society of London mit der Bitte, hinreichend qualifizierte Frauen in die Gesellschaft aufzunehmen und sie an den Treffen teilhaben zu lassen. Diese Bitte wurde abgeschmettert mit der Erklärung, dass derartige Anträge nur von Mitgliedern gestellt werden könnten. Also wandte sich Ogilvie Farquharson an den ehemaligen Präsidenten der Gesellschaft, John Lubbock, der dann auch beim Treffen der Gesellschaft am 7. Juni 1900 diesen Vorschlag vortrug. Die Entscheidung wurde zunächst vertagt auf das nächste Treffen, bei dem dann festgestellt wurde, dass die Charter die Aufnahme von Frauen nicht vorsähe und der Vorschlag deswegen abzulehnen sei.

Diesen ersten beiden Versuchen, Frauen als Mitglieder in der Linnean Society zuzulassen, folgten in den kommenden vier Jahren mehrere weitere Anläufe, bei denen sich Marian Farquharson immer wieder der Unterstützung privilegierter Alliierter bedienen musste – und dennoch auf massive Widerstände stieß. So zog sie den Professor für Naturgeschichte Marcus Manuel Hartog hinzu, der sich im November 1900 beim Rat der Gesellschaft für ihr Anliegen einsetzte, doch diese wiederum ließ durch einen Anwalt ermitteln, dass die Charter in ihrer vorliegenden Form die Aufnahme von Frauen verhindere.

Im April 1901 stellte Ratsmitglied Frederick DuCane Godman und ein weiterer Mann eine Anfrage im Sinne Farquharsons, doch sie erhielten schlicht keine Antwort; der nächste Antrag am 7. November 1901, durch Joseph Reynolds Green, wurde auf unbestimmte Zeit vertagt. Green erneuerte seinen Antrag einen Monat später, am 19. Dezember, mit der Versicherung, eine beträchtliche Anzahl der Mitglieder würden das Anliegen Farquharsons unterstützen. Der Rat der Gesellschaft verlangte einen Beweis für diese Behauptung. Also legte Green im Januar 1902 eine Unterschriftensammlung vor, die endlich etwas in Bewegung setzte: Der Rat der Gesellschaft sandte im darauffolgenden März an alle 740 Mitglieder ein Rundschreiben aus, in dem sie nach ihrer Haltung zur Aufnahme von Frauen befragt wurden. 313 Mitglieder antworteten gar nicht erst, 126 sprachen sich dagegen aus, doch 301 Mitglieder befürworteten diesen Vorstoß.

Dennoch verstrich das Jahr ohne weitere Entwicklung, erst am 15. Januar 1903 fand ein außerordentliches Treffen des Gesellschaftsrates unter Leitung des stellvertretenden Präsidenten statt, bei dem über mögliche Zusätze und Änderungen der Charter abgestimmt wurde. Über den Zusatz, dass Mitgliedschaft „ohne Unterschied des Geschlechts“ möglich sein sollte, wurde gesondert abgestimmt, dabei sprachen sich 54 der Anwesenden dafür und 17 dagegen aus.

Fast ein ganzes weiteres Jahr verging, bevor Ende 1903 ein offizielles Bittgesuch für diese Änderung beim Rat der Gesellschaft eingereicht wurde. Am 8. April 1904 wurde die neue Charter gewährt, die den entscheidenden Zusatz enthielt – doch die neue Satzung, die darauf aufbaute, wurde erst am 3. November 1904 von den Mitgliedern angenommen. Immerhin erfolgte dann bereits innerhalb von zwei Wochen, am 17. November 1904, der Vorschlag, 16 Frauen in die Linnean Society aufzunehmen, darunter Ethel Sargant und selbstverständlich Marian Olgivie Farquharson. Am 15. Dezember 1904 wurden 15 Frauen zu Mitgliedern gewählt und am 19. Januar 1905 offiziell aufgenommen.

Alle vorgeschlagenen Frauen, außer Farquharson.

Es dauerte drei weitere Jahre, bis die inzwischen 62-jährige erneut als Mitglied vorgeschlagen und dann auch aufgenommen wurde. Allerdings ging es der Vorkämpferin, die unzählige Briefe und Anträge an die Gelehrtengesellschaft geschrieben und niemals aufgegeben hatte, inzwischen gesundheitlich sehr schlecht und sie starb am 20. April 1912, ohne ihre Mitgliedschaft in der Gesellschaft zu bestätigen.

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Ebenfalls diese Woche

4. Juli 1868: Henrietta Swan Leavitt
Über diese Astronomin, Teil von ‚Pickerings Harem‘, schrieb ich 2017.

39/2019: Elisabet Boehm, 27. September 1859

Elisabet Boehm kam in Ostpreußen zur Welt, der Region, deren nördlicher Teil heute zu Litauen, der südliche zu Polen gehört, rund um die russische Exklave Oblast Kaliningrad, früher Königsberg. Ihr Vater war Gutspächter und Reichstagsabgeordneter; mit 21 Jahren heiratete Elisabet Gustav Boehm. Nach einer Kindheit auf dem Land und 18 Jahren Ehe mit einem Gutsbesitzer gründete sie 1898 mit 15 Frauen* den ersten landwirtschaftlichen Hausfrauenverein in Garbno (dt. Lamgarben), ihrem heimatlicher Weiler nahe ihrer Geburtsstadt Ketrzyn (dt. Rastenburg).

Die Beweggründe dafür waren fortschrittliche: Sie wollte die weibliche* Einflussnahme in der Landwirtschaft organisieren, den Frauen Zugang zu Bildung verschaffen und so ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse verbessern. Auch eine höhere Anerkennung der haushaltlichen Tätigkeiten der Frauen* als Arbeit, ihrer Leistungen als Mütter und Mitarbeitende im landwirtschaftlichen Betrieb gehörte zu ihren Zielen.

Offensichtlich traf sie mit ihrem Bestreben nach Vernetzung und politischer Teilhabe den Nerv der Zeit, bei vielen Frauen in ähnlicher Lage wie sie. 1905 wurde sie Vorsitzende des ostpreußischen Landesverbands, 11 Jahre später übernahm Boehm die Leitung des Reichsverbands landwirtschaftlicher Hausfrauenvereine (nicht zu verwechseln mit dem Reichsverband deutscher Hausfrauen!), der bis zum Jahr 1933 auf 25 Landes- und Provinzialverbände mit an die 2.500 Kreis- und Ortsvereinen angewachsen war. Der Verein betrieb das eigene Presseorgan „Land und Frau“, Elisabet Boehm arbeitete mehrere Jahre an der Fachzeitschrift „Die deutsche Frauenarbeit“ mit. Als die Organisation 1934 von der NSDAP in den Reichsnährstand eingegliedert wurde, belief sich die Mitgliederzahl auf über 100.000 Mitglieder.

Elisabet Boehm starb mit 84 in Halle. Nach dem Zweiten Weltkrieg formten sich bereits 1947 die ersten Landfrauenverein neu. Im Oktober 1948 wurde dann der bis heute bestehende und aktive Deutsche LandFrauenverband (dlv) gegründet. Er besteht aus 22 Landesverbänden mit etwa 500.000 Frauen in den kleineren Kreis- und Ortsvereinen. Von der ursprünglich angesprochenen Bäuerin hat sich die aktuelle Mitgliederstruktur auf vielseitige Berufsfelder ausgebreitet; die Zielsetzung, berufsständische Interessen vertreten zu sehen, die soziale, wirtschaftliche und rechtliche Situation von Frauen zu verbessern und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie voranzutreiben ist den vernetzten Frauen gemein.

Ähnlich wie der DHB ist der dlv ein Beispiel für das nachvollziehbare Bedürfnis von Frauen Teil eines Berufsstände übergreifenden Netzwerkes zu sein und die Möglichkeit gesellschaftlicher und politischer Teilhabe zu schaffen. Elisabet Boehm – die sich auch dafür einsetzte, dass Frauen in den Landwirtschaftskammern wählen und gewählt werden konnten – hörte schon vor 1900 den inneren Ruf „Bildet Banden!“ Sicher weniger aufgrund einer biologischen Neigung der Frauen* zu sozialer Aktivität als in der sozialen Isolation begründet, in die ein patriachalisches System viele Frauen* zwingt, wusste sie, dass wir in der Gemeinschaft und Solidarität unsere Stärken entfalten können.

21/2019: Eren Keskin, 24. Mai 1959

Tochter eines Kurden und einer Tscherkessin, ist Eren Keskin seit 1986 in Istanbul als Anwältin für Menschenrechte tätig, insbesondere der Kurden und Frauen. Sie rief 1997 ein Rechtshilfeprojekt für Frauen ins Leben, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell misshandelt wurden.

Ihr Engagement brachte ihr zeitweise Berufsverbot ein, Morddrohungen und Strafverfahren, zwischen 1994 und 2018 nach Keskins eigenen Aussagen über 140. Mehrfach wurde sie zu Gefängnisstrafen verurteilt: Dafür, in einem Brief an das belgische Parlament das Wort ‚Kurdistan‘ verwendet zu haben; wiederholte Male für einen Verstoß gegen den Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches, der die „Beleidigung des Türkentums, der Republik und der Institutionen und Organe des Staates“ unter Strafe stellt. Zuletzt erging ein Urteil, das sie zu 7,5 Jahren Gefängnis verurteilte, für einen Zeitungsartikel, mit dem sie wiederum den Präsidenten der Türkei beleidigt haben soll. Derzeit rechnet sie jeden Tag mit ihrer Verhaftung, kann aber aufgrund eines Ausreiseverbotes die Türkei nicht verlassen.

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§218!