Kategorie: Frauenrechte

36/2023: Sarah Mapps Douglass, 9. September 1806

Die Eltern von Sarah Mapps Douglass waren afroamerikanische Quäker und Abolitionisten in Philadelphia, Pennsylvania; ihr Vater Robert Douglass war Bäcker(Wiki) oder Friseur(1), die Mutter, Grace Bustill Douglass, Hutmacherin und Lehrerin. Ihr Großvater mütterlicherseits, Cyrus Bustill, war ebenfalls bereits Quäker und frühes Mitglied der Free African Society (Link Englisch). Sarah war die einzige überlebende Tochter neben vier Brüdern, einer davon der Künstler Robert Douglass, Jr. Sie wurde als Kind Zeugin der Diskriminierung ihrer Eltern als Schwarze in der weißen Quäker-Gemeinde, was später zu einem Zerwürfnis mit ihrer Religion führte. Dank einer verhältnismäßig wohlhabenden Familie wurde sie ausführlich privat unterrichtet und besuchte Anfang der 1820er auch ein College. Nach ihrem Abschluss unterrichtete sie einige Zeit als Lehrerin in New York City, 1825 kehrte sie jedoch nach Philadelphia zurück und arbeitete als Lehrerin an der Schule, die ihre Mutter 1819 gemeinsam mit James Forten gegründet hatte – nachdem eine früh verstorbene ältere Schwester Sarahs, Elizabeth, eine andere Privatschule aufgrund Beschwerden weißer Eltern hatte verlassen müssen. Diese Schule für afroamerikanische Mädchen hatte Sarah auch als Schülerin besucht.

Ihre politische Aktivität begann 1831, als sie mit 25 Jahren eine Spendensammlung für The Liberator organisierte, die Abolitionisten-Zeitung von William Lloyd Garrison. Im gleichen Jahr war Mapps Douglass Mitbegründerin der Female Literary Association (FLA), einer Gesellschaft afroamerikanischer Frauen mit literatischen Interessen. Literarische Gesellschaften von Afroamerikanern hatten sich in den 1820er und 1830er Jahren in verschiedenen Städten der Nordstaaten gegründet; sie vereinte die Haltung, das Lesen eine wichtige Art der Wissensaneignung sei, während der eigene schriftliche Ausdruck die eigene Identität stärke und auch als Stimme geltend machte. Die Frauen der FLA wollten sowohl ihre eigenen schriftstellerischen Fähigkeiten vertiefen wie auch ihre Verbindung zu ihren versklavten Schwestern verstärken. Dafür trafen sich jeden Dienstag, um gemeinsam zu Lesen und eigene wie andere Texte vorzutragen. Fast alle brachten wöchentlich eigene Texte mit, die anonym zur Kritik gestellt wurden.

Wie andere literarische Gesellschaften auch betrachtete sich die FLA als Vermittler von Information, indem sie Wissen und Texte aus der afroamerikanischen Gemeinschaft sammelte. Dabei wollten sie dieses Wissen nicht nur mit bereits Gebildeten, sondern auch denjenigen teilen, die noch im Lernprozess waren sowie den bis dahin gänzlich von Bildung Ferngehaltenen. Das Ziel der FLA war es, einen Gemeinschaftssinn zu schaffen und über die Wissensvermittlung und das Zusammenkommen in Gruppen das Gefühl einer nationalen Identität zu schaffen, an freie wie versklavte Afroamerikanerinnen gleichermaßen. Indem sie Schwarze Literatur sammelten und als Schwarze Frauen selbst als Schriftstellerinnen aktiv waren, widerlegten sie gezielt die weiße Behauptung, das Schwarze naturgemäß intellektuell unterlegen seien. Ihren Intellekt zu pflegen sei die höchste Aufgabe, da diese Fähigkeiten von Gott gegeben seien, und schließlich sei es ihre Pflicht als Afroamerikanerinnen, diese Fähigkeiten dafür einzusetzen, die Unterschiede zwischen weißen und Schwarzen Menschen zu nivellieren und Gleichberechtigung für ihre Gemeinschaft zu erringen.

Sarah Mapps Douglass schrieb in einer Ansprache an die FLA über ihre Motivation: „One short year ago, how different were my feelings on the subject of slavery! It is true, the wail of the captive sometimes came to my ear in the midst of my happiness, and caused my heart to bleed for his wrongs; but, alas! the impression was as evanescent as the early cloud and morning dew. I had formed a little world of my own, and cared not to move beyond its precincts. But how was the scene changed when I held the oppressor lurking on the border of my peaceful home! I saw his iron hand stretched forth to seize me as his prey, and the cause of the slave became my own. I started up, and with one mighty effort threw from me the lethargy which had covered me as a mantle for years; and determined, by the help of the Almighty, to use every exertion in my power to elevate the character of my wronged and neglected race.“ – „Wie anders waren meine Gefühle zum Thema der Sklaverei noch vor einem kurzen Jahr! Es ist wahr, das Klagen der Gefangenen drang manchmal an mein Ohr mitten in meinem Glück, und ließ mein Herz bluten für sein Unrecht; doch, ach! der Eindruck war so flüchtig wie frühe Wolken und der Tau am Morgen. Ich hatte mir eine kleine Welt für mich geschaffen, und wünschte nicht jenseits ihrer Bezirke zu wandeln. Doch wie sich die Szenerie verwandelte, als ich des Unterdrückers an der Grenzen meines friedlichen Heimes gewahr wurde! Ich sah seine eiserne Hand ausgestreckt, um mich als seine Beute zu ergreifen, und die Sache der Sklaverei wurde meine eigene. Ich schrak hoch, und mit einem gewaltigen Bemühen warf ich die Letargie von mir, die mich wie ein Mantel jahrelang bedeckt hatte; und entschlossen, mit der Hilfe des Allmächtigen, jede Anstrengung in meiner Macht anzuwenden, die Gestalt meiner benachteiligten und vernachlässigten race emporzuheben.“

Während der gesamten 1830er Jahre schrieb Douglass unter dem Pseudonymen ‚Sophanista‘ und ‚Ella‘ Lyrik, Prosa und (auch unter ihrem eigenen Namen?) Beiträge für The Liberator. Briefe verzierte sie mit selbstgemalten Aquarellen, ihre Bilder sind möglicherweise die ältesten Exemplare von Malerei von der Hand einer afroamerikanischen Frau, die mit Namen signiert wurden.

Im Jahr 1833 gründete Douglass gemeinsam mit ihrer Mutter und 16 anderen Frauen, darunter Lucretia Mott, die Grimké-Schwestern Sarah und Angelina und drei Töchter von James Forten, die erste gemischte Abolitionistinnen-Gruppierung, die Philadelphia Female Anti-Slavery Society. Deren Ziel war die vollständige Abschaffung der Sklaverei ohne Kompensation für die Sklavenhalter, sowie gleiche Bürger- und Religionsrechte für Schwarze Bürger. Der Verein bezog die Ausgaben verschiedener Abolitionisten-Zeitschriften, um sie unter seinen Mitgliedern zu verteilen und legte auch eine Bibliothek an Literatur und Flugblättern an. Douglass war im Verein für verschiedene organisatorische und administrative Leistungen verantwortlich, neben einer weiterhin beruflichen Tätigkeit als Lehrerin.

Sie hatte 1833 kurze Zeit an einer Schule für afroamerikanische Mädchen gelehrt, bald jedoch eine eigene Schule gegründet, an der sie auch Naturwissenschaften und Kunst unterrichtete. Es war ihr wichtig, den Mädchen insbesondere die MINT-Fächer nahezubringen. Leider lief die Schule wirtschaftlich nicht erfolgreich, und so bat Douglass, nachdem sie für die Society 1837 an der ersten gemischten Anti-Slavery Convention of American Women teilgenommen hatte, ihren Verein, die Schule zu übernehmen. Dies führte jedoch nicht zu der erhofften Verbesserung ihrer Lage; 1840 löste sich Douglass mit der Schule wieder vom Verein. Zwei Jahre später starb ihre Mutter und Sarah – bis dahin mit der Unterstützung der Mutter eine voll im Beruf und in ehrenamtlicher Tätigkeit beschäftigte Frau – war plötzlich auch noch unbezahlte Haushälterin für ihren Vater und ihre Brüder.(1) Sarah Grimké, die inzwischen zu einer engen Vertrauten geworden war, unterstützte sie in dieser Zeit; möglicherweise schloss Douglass aufgrunddessen auch wieder Frieden mit den Quäkern. Jedenfalls trat sie der religiösen Vereinigung 1852 wieder bei und übernahm zwei Jahre später die Leitung der Vorbereitungsstufe der Mädchen des Institute of Colored Youths(1, Wiki sagt, ihre Schule wurde mit dieser zusammengefasst) – diese Position behielt sie bis 1877 inne. Das Institut zog später innerhalb des Stadtgebiets Philadelphia auf das Grundstück der wohlhabenden Quäkerfamilie Cheyney um und wurde daraufhin zur Cheyney University of Pennsylvania.

Mit 47 Jahren begann Douglass 1853 noch ein Studium der Anatomie und Frauenheilkunde sowie eine medizinische Grundlagenausbildung am Female Medical College of Pennsylvania, als erste afroamerikanische Frau an der Hochschule. Sie gab im Sinne der FLA ihr neugewonnenes Wissen zügig in Abendkursen und Vorträgen zu weiblicher Physiologie und Hygiene an andere Schwarze Frauen weiter. Zwei Jahre später ging sie – 49-jährig – die Ehe mit einem Witwer und Vater von 9 Kindern ein, doch die Ehe war nicht glücklich; der Mann starb jedoch auch sechs Jahre später bereits. Schon während der Ehe blieb Douglass in ihrer Position an der Cheyney University, hielt Vorträge zur Frauenmedizin und setzte noch bis 1877 ihr Anatomiestudium fort. Nach dem Tode ihres Mannes setzte sie wieder ihre volle Energie in ihre politische und pädagogische Aktivität. Sie starb mit 76 Jahren 1882 in Philadelphia; ihr Grab blieb unbenannt.


Quelle Biografie: Wiki englisch
außerdem:
(1) Women History Blog
(2) Colored Conventions

34/2023: Celine Fariala Mangaza, 27. August 1967

Als Celine Fariala Mangaza 1967 in Bukavu zur Welt kam, war ihr Heimatland die ‚Republik Kongo‘ unter der Diktatur Mobutus (der im immerhin im Mai des gleichen Jahres das Wahlrecht für alle – faktisch das Frauenwahlrecht – eingeführt hatte). In ihrem dritten Lebensjahr erkrankte sie an Poliomyelitis, was zu Lähmungen führte; trotz ihrer körperlichen Einschränkungen und obwohl es für Mädchen in den 1970ern in (dann) Zaire nicht üblich war, besuchte sie bis zur 6. Klasse eine Schule. Danach machte sie eine Ausbildung zur Schneiderin und arbeitete in diesem Beruf. Mit 27 heiratete sie und hatte in dieser Ehe vier Kinder.

Das Elend von behinderten Frauen in der (inzwischen) Demokratischen Republik Kongo führte dazu, dass sie eine Nähwerkstatt eröffnete. Sie sei es müde gewesen, Geschichten von Frauen zu hören, die zu Hause sexuelle und allgemeine Gewalt erleben oder auf der Straße betteln mussten. Um gegen die Isolation, Armut und Diskriminierung etwas zu tun, gründete sie die ‚Association d’Encadrement pour la Promotion Integrale des Femmes Vivant Handicap‚, den ‚Aufsichtsverband zur ganzheitlichen Lebensförderung von Frauen mit Behinderung‘. Die Frauen und Kinder vor allem mit Spätfolgen von Pliomyelitits oder Meningitis, die in ihre Räume kamen und nähten, fanden dort Gemeinschaft, Respekt und Verdienst, aus dem Verkauf der Puppen, Taschen und Kleider, die sie nähten.

Celine Fariala Mangaza erlangte in ihrer Gemeinschaft große Anerkennung. Sie wurde ‚Mama Leki‚ genannt, wobei ‚leki‚ soviel wie Tante heißt, was nicht einen Verwandtschaftsgrad bezeichnet, sondern als respektvolle Anrede gilt.

Am 28. Mai 2020 starb Mama Leki vermutlich an COVID-19, während der Anfangsphase der Pandemie in der DR Kongo. Ihre Testmaterialien waren mit etwa vierzig anderen von Bukavu in die Hauptstadt Kinshasa gesendet worden, doch Mangaza starb bereits am Tag nach ihrer Aufnahme im Krankenhaus.


Quellen Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) Nachruf in der New York Times (via Dutable)

33/2023: Aïssata Touré Kane, 18. August 1938

Die Tukulor sind der traditionell sesshafte Teil der Halpulaaren, einer Sprachgemeinschaft des Pulaar (oder Fulfulde, je nach Region), in der Region, in der heute die Staaten Mauretanien, Senegal und Mali aneinandergrenzen; der andere, nomadisch lebende Teil sind die Fulbe. Der Name bedeutet möglicherweise ‚Volk von Tekrur/Takrur‘, denn in diesem bereits um 800 gegründeten Reich stellten die Tukulor im 11. Jahrhundert die Mehrheit, die sich seit dieser Zeit auch schon zum Islam bekannte. Im 15. Jahrhundert ging Tekrur im Jolof-Reich auf, das mit Beginn der Kolonisierung durch die Europäer unterging. Noch heute stellen die Tukulor mit 800.000 Angehörigen Teile der mauretanischen, senegalesischen und malischen Bevölkerung.

Aïssata Touré Kane kam 1938 in einer Tukulor-Familie als Tochter eines Distrikt-Chief zur Welt, der sie – entgegen der in der damaligen Gesellschaft herrschenden Vorstellungen und gegen den Widerspruch aus der Familie – auf eine französischsprachige Schule im Senegal schickte. Kane war damit eines der ersten drei mauretanischen Mädchen, die eine westliche Schule besuchten.(1)

In ihrem letzten Jahr in der Oberstufe in dieser Schule 1957 gründete Kane das ‚Comité pour la fréquentation scolaire féminine‚ (Komitee für den weiblichen Schulbesuch), eine Gruppe, die die Bildung von Mädchen fördern sollte. Gegenstimmen begegnete sie mit ihrer Überzeugung, dass die Scharia Mädchen das Recht auf Bildung zuspreche. Nach ihrem Schulabschluss konnte sie dank eines Stipendiums zwei Jahre in Belgien an der Université libre de Bruxelles studieren, musste aus familiären Gründen jedoch ihr Studium dort 1960 vorzeitig abbrechen. Sie kehrte nach Mauretanien zurück und ließ sich in der Hauptstadt Nouakchott nieder. Im Folgejahr war sie hier an der Gründung der Union Nationale des femmes de Mauretanie (UNFM) beteiligt, gemeinsam mit der Ehefrau des damaligen mauretanischen Präsidenten Moktar Ould Daddah; sie vertrat die UNFM als Delegierte bei der Conference des Femmes Africaines (CFA), außerdem arbeitete sie mehrere Jahre für die Union in Algerien. Die UNFM wurde in die einzige legale Partei des Landes, Partie du peuple Mauretanien (PPM), integriert und darin als Mouvement Nationale Feminine (MNF) bekannt. Sie wurde Herausgeberin der Zeitschrift der Bewegung, ‚Marinou‚, und war ab 1966 im Jugendflügel der Partei in einer Führungsposition. Die UNFM war auch Teil der Internationalen Demokratischen Frauenföderation, deren Konferenz in Helsinki 1969 Kane besuchte.

Aïssata Kane wurde dank ihrer unermüdlichen Arbeit in Mauretanien als wortgewaltige Verfechterin der Frauenrechte bekannt; als Ergebnis ihrer politischen Bemühungen wurde sie 1970 zur Vorsitzenden des Mauretanischen Frauenrats(1) und 1975 die erste Frau im Kabinett der Regierung Ould Daddahs, als Ministerin für den Schutz der Frauen und soziale Angelegenheiten. Als Ministerin setzte siedafür ein, die Gesundheit und Bildung von Frauen zu verbessern, außerdem erwirkte sie eine Veränderung des Eherechts innerhalb einer Gesetzesänderung und eine Einführung einer Frauenquote im mauretanischen Parlament – 10% zur damaligen Zeit, später wurde die Quote erhöht. Ihr Programm zur Reduzierung polygamer bzw. polygyner Ehen blieb erfolglos, und auch ihre Forderung, dass ‚alle Beteiligten an der Durchführung‘ von weiblicher Genitalverstümmelung bestraft werden sollten, mit dem Ziel, diese vollständig abzuschaffen, traf auf große Widerstände. Während sie die Unterstützung hochrangiger Politiker in ihrem Kampf für Frauenrechte hatte, stellten religiöse Konservative ihre stärksten und einflussreichsten Gegner.

Als 1978 die Regierung Ould Daddahs in einem Militärputsch gestürzt wurde, verlor Aïssata Kane ihren Ministerposten; sie blieb jedoch weiterhin in verschiedenen Organisationen für Frauen- und Kinderrechte aktiv. Eine Frau im Kabinett gab es in Mauretanien dann erst neun Jahre später wieder.

Aïssata Touré Kane starb 80-jährig am 10. August 2019.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) WikiPeaceWomen

31/2023: Esther Roper, 4. August 1868

Bereits kurz nach ihrer Geburt in Chorley, Lancashire – ein Ort, der von den nahegelegenen Kohleminen und Textilindustrie geprägt war –, verließen die Eltern von Esther Roper England als Missionare(1). Ihr Vater war ehemaliger Fabrikarbeiter, ihre Mutter stammte aus einer Familie irischer Einwanderer, bei denen Esther aufwuchs. Sie besuchte eine Schule der Church Mission Society, bis sie 16 Jahre alt war, danach wurde sie am Owens College (heute University of Manchester) zugelassen – im Rahmen eines sozialen Versuchs, bei dem geprüft werden sollte, ob Frauen studieren könnten, ohne Schaden an ihrer physischen und psychischen Gesundheit zu nehmen. Fünf Jahre später schloss sie ihr Studium in Latein, englischer Literatur und Wirtschaftwissenschaft mit Auszeichnung ab. Durch ihre Teilnahme an der allein von Frauen betriebenen Social Debating Society blieb sie der Universität auch anschließend verbunden. 1893 wurde sie als Geschäftsführerin der Manchester National Society for Women’s Suffrage – der Manchester Abteilung der Gesellschaft für das Frauenwahlrecht – eingestellt, diese Position behielt sie bis 1905 und begleitete dabei den Übergang der Gesellschaft zur North of England Society for Women’s Suffrage als Teil der National Union of Societies for Women’s Suffrage. Nebenher unterstützte sie vier Jahre nach ihrem Abschluss die Einrichtung des Manchester University Settlements in Ancoats, einem Stadtteil Manchesters, in dem viele Arbeiter lebten – die soziale Einrichtung brachte ein Angebot an Bildung und kulturellen Möglichkeiten zu den ‚working poor‚. Zwei Jahre später rief sie mit einer ehemaligen Kommilitonin die Zeitschrift Iris ins Leben, eine halbjährliche Publikation zu Themen, die die Bildung von Frauen betrafen, und die gleichzeitig ein Netzwerk für derzeitige und ehemalige Studentinnen des Owens College schaffen sollte.

Aufgrund von ‚Erschöpfung‘ verbrachte sie 1896 einige Zeit im italienischen Sommerhaus des schottischen Dichters George MacDonald. Dort traf sie die zwei Jahre jüngere Eva Gore-Booth, Tochter eines wohlhabenden, aber sozial fortschrittlichen Gutsherren und selbst Lyrikerin und Theologin. Deren Schwester Constance, die im gleichen Alter wie Roper war, sollte später als irische Nationalheldin Gräfin Markievicz berühmt werden. Die beiden Frauen verbrachten in Italien viel Zeit miteinander und verliebten sich ineinander. So sehr, dass Gore-Booth ihr privilegiertes Leben auf dem Grundbesitz ihrer Familie in Irland aufgab und zu Roper nach Manchester zog. Um die Jahrhundertwende trugen die beiden dort zum organisierten Widerstand der Blumenmädchen, Zirkusartistinnen, Bardamen und pit-brow women (Link Englisch) bei, deren berufliche Tätigkeit durch politische Entscheidungen und Moralkampagnen gegen arbeitende Frauen in Gefahr war; sie waren außerdem 1903 an der Gründung des Komitees zur politischen Repräsentation von Arbeiterinnen der Textilbranche und anderer Bereiche beteiligt.

Roper und Gore-Booth waren auch eng mit der Pankhurst-Familie vertraut, die Töchter Christabel und Sylvia waren persönliche Freundinnen und politische Genossinnen. Da das Ziel der Women’s Social and Political Union ursprünglich auch war, die Rechte von Arbeiterinnen auszuweiten und sie bei den Wahlrechten miteinzubeziehen, unterstützten Roper und Gore-Booth Pankhurst zunächst. Doch dieser Teil der Frauenrechte verlor im Laufe der Zeit an Bedeutung, außerdem hießen die beiden Pazifistinnen die militanten und gewalttätigen Methoden der WSPU nicht gut und distanzierten sich von der Vereinigung.

1913, Roper war 55 Jahre alt, Gore-Booth 53, zog das Paar aus gesundheitlichen Gründen nach London. Hier halfen sie nach Beginn des Ersten Weltkrieges mit der No-Conscription Fellowship (Link Englisch) den Familien von Kriegsdienstverweigerern, die dafür inhaftiert worden waren. Drei Jahre nach ihrem Umzug nach London gründeten sie mit Irene Clyde (Link Englisch unter ihrem eingetragenen Namen Thomas Baty) die Zeitschrift Urania (Link Englisch) – ein Magazin, dass sich mit Fragen nach Sexualität und Geschlechtsidentität befasste. Sechsmal im Jahr erschien eine Ausgabe mit gesammelten Artikeln aus Zeitschriften aller Welt sowie eigenen Beiträgen der Redakteurys. ‚There are no ‚men‘ or ‚women‘ in Urania‚ stadn über jeder Ausgab und ‚Sex is an accident‚ waren ein häufig verwendeter Slogan. Im Laufe seiner 24-jährigen Existenz wurden die Ausgaben auf vier Mal im Jahr reduziert, gedruckt wurde das Magazin privat von einer Druckerei in Bombay und niemals öffentlich herausgegeben, sondern nur im Privaten zirkuliert.

Mit 56 Jahren starb Eva Gore-Booth an Krebs. Esther Roper veröffentlichte anschließend ihre Gedichte und auch die Briefe aus dem Gefängnis ihrer Schwester Constance Mankievicz. Sie blieb für die Frauenrechte aktiv und schrieb regelmäßig Briefe an The Times. 1938 starb sie mit 70 Jahren und wurde neben ihre Lebensgefährtin beerdigt.


Quelle Biografie: Wiki englisch
außerdem:
(1) Spartacus

29/2023: Annie Sprinkle, 23. Juli 1954

Wie so viele, und doch mehr als andere, ist Annie Sprinkles Biografie zwar interessant, doch viel spannender, auch komplexer und wichtiger ist mir das, was sie (in meinem Jahr der intersektionalen Aktivistys) repräsentiert. Sie ist die einzige Vertreterin in meinem Jahresplan – soweit ich das bis jetzt absehen kann – des Aktivismus für sexworkers, also meine einzige ‚Chance‘, in diesem Rahmen darüber zu sprechen und meine Position dazu festzuhalten (in Kürze: Betroffenen zuhören und im Diskurs Priorität einräumen, sexwork is work).

Wie kann ich mir aber dem Ausmaß und der Komplexität des Themas anders annähern als häppchenweise, vor dem Hintergrund meiner persönlichen beruflichen und familiären Lage (die Sommerferien stehen zum Zeitpunkt, zu dem ich dies schreibe, ins Haus und was an Lohnarbeit da ist, muss um den Urlaub herum erledigt werden). Kleiner Hinweis noch mal darauf, dass ich dieses Blog seit nunmehr elf Jahren alleine zum ‚Privatvergnügen‘ betreibe und doch vor dem Tribunal der Öffentlichkeit bestehen können möchte.


CN: Pornografie, Sexarbeit

Geboren wurde Annie Sprinkle in Philadelphia, Pennsylvania, als Ellen F. Steinberg, als Tochter eines russisch-polnisch-jüdischen Elternpaares. Als sie fünf Jahre alt war, zog die Familie nach Los Angeles, Kalifornien, und zwischen ihrem 13. und 17. Lebensjahr lebten sie in Panama. Als Ellen/Annie 18 war, arbeitete sie in Tucson, Arizona, als Kartenverkäuferin in einem Kino. Es war 1972 und der Film Deep Throat lief über die US-amerikanischen Leinwände. Der Film selbst wäre einen ausführlichen Text wert – auf der einen Seite gilt er als der Startschuss für den porno chic der 1970er Jahre, als erstes Beispiel für narrative Pornografie – und nebenbei als profitabelster Film aller Zeiten. Auf der anderen Seite steht er in der Kritik, dass Hauptdarstellerin Linda Lovelace die gezeigten sexuellen Handlungen nicht aus freien Stücken vollzog, sondern von ihrem Ehemann mit Gewalt bedroht und gezwungen wurde – und nebenbei die Produktion von der Mafia finanziert wurde, sein Erfolg auf dem mafioösen Netzwerk in den USA aufbaute und ein Großteil seiner Einnahmen auch zurück in die Taschen der Mafia floss.

Wie dem auch sei, ‚Deep Throat‚ lief in dem Kino, in dem Steinberg/Sprinkle als Kartenverkäuferin arbeitete, und wurde dort von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt. Sie wurde als Zeugin beim Prozess gegen den Regisseur Gerard Damiano geladen und verliebte sich während des Prozesses in ihn. Nach dem Prozess ging sie als seine Geliebte mit ihm nach New York und begann kurz darauf selbst als Pornodarstellerin zu arbeiten. Annie Sprinkle war zunächst ein Pseudonym – eine ‚Eingebung der Göttin‘, wie sie es nennt – heute ist es ihr eingetragener Name. Bis zur Mitte der 1970er Jahre spielte sie in über hundert Pornofilmen mit und war auch als Prostituierte tätig. Ihre Arbeit als Sexarbeiterin veränderte sich 1978 grundlegend, als sie den Fluxus-Künstler Willem de Ridder (Link Englisch) kennenlernte(1); er forderte sie auf, alles, was sie tat, als Kunst aufzufassen. Diesen Wandel der eigenen Auffassung vom Objekt (der Begierde und der Blicke des Zuschauers) zum Subjekt (der sexuellen und künstlerischen Handlungen) wird der Beginn des ‚post-porn movements‚ betrachtet.*

Sie lebte einige Zeit mit de Ridder in Italien. Als sie in die USA zurückkehrte, begann sie, als Burlesque-Künstlerin zu arbeiten(2), dabei nahmen ihre Auftritte bald Züge der Performancekunst an, indem sie Anekdoten erzählte und mit dem (meist männlichen, oft masturbierenden) Publikum interagierte.(2) Sie begann auch, die Rollen hinter der Kamera von Porno-Produktionen einzunehmen, dabei entwickelte sie einen satirischen, selbstreflexiven Stil, mit dem ihre Werke großen Erfolg hatte. Der selbst-betitelte ‚Deep Inside Annie Sprinkle‚ etwa, den sie gemeinsam mit Joseph W. Sarno drehte, spielte das zweitbeste Ergebnis des Porno-Genres im Jahr 1981 ein. Aus der Idee zu diesem Film – und einer Gruppierung namens ‚Club 90‚, in der sich Pornodarstellerinnen regelmäßig zum Austausch trafen – entstand 1984 das Bühnenstück ‚Deep Inside Porn Stars‚. Darin kommen Sprinkle und andere Pornodarstellerinnen in einem Nachbau von Sprinkles Wohnzimmer zusammen und unterhalten sich; dabei werden Bilder aus ihrem Leben erzählt. Jede auftretende Frau wechselte zuerst aus ihrem ‚Darstellerinnen‘-Outfit in ihre ’normale‘ Kleidung, Sprinkle bietet jeder Tee und Kekse an, und das Baby einer der Darstellerinnen ist auf der Bühne anwesend. Die Grenzen zwischen der Porno-Persona und der realen Person dahinter verschwimmen, wodurch sich notgedrungen auch die Dichotomie vom ‚guten‘, ‚anständigen‘ Mädchen und dem ’schlechten‘, ‚gefallenen‘ Mädchen auflöst. Sprinkles eigenes Stück ‚Post Porn Modernist‚ war eine Weiterentwicklung dieser Performance, vor allem aber brachte es ihr eine Einladung des Theaterregisseurs Richard Schechner zu seinem ‚Prometheus Project‚ ein und damit die Anerkennung als Theater- und Performancekünstlerin außerhalb des Porno-Genres.(2, hier auch Einzelheiten zu Sprinkles Beitrag zum Projekt)

Von da an vereinte Sprinkle ihre pornografische Arbeit mit künstlerischem, aufklärerischem und ausdrücklich feministischem Ausdruck; dazu gehörte auch ihr Auftritt in Monika Treuts Film ‚My Father Is Coming‚ 1991. Im gleichen Jahr rief sie den ‚Sluts and Goddesses Workshop‚ ins Leben, auf dem aufbauend sie im Folgejahr das Video ‚The Sluts and Goddesses Video Workshop – Or How To Be A Sex Goddess in 101 Easy Steps‚ produzierte, das Frauen neue Möglichkeiten zur Erschließung der eigenen Sexualität und Erregung aufzeigen sollte. Sie erlangte (irgendwann im Laufe der Zeit) einen Doktorgrad in Sexualwissenschaft am Institute for Advances Study of Human Sexuality (Link Englisch), und brachte mehrere Performance-Stücke auf die Bühne, etwa ihr ‚Public Cervix Announcement‚ von 1997, bei dem sie die Zuschauer ihren Muttermund durch ein Spekulum betrachten ließ.

Sprinkle bezeichnet sich selbst als ‚die Prostituierte und Pornodarstellerin, die zur Sexualpädagogin und Künstlerin wurde‘. Ihre Stücke werden akademisch bearbeitet; sie hat diverse Medien produziert und Workshops geschaffen, die Frauen helfen sollen, ihre Sexualität zu entdecken und frei zu erleben. Gemeinsam mit dem Sexualtherapeuten Joseph Kramer hat sie eine tantrische Massagetechnik für die Yoni (die Vulva, Vagina und der Uterus) entwickelt. Als Pornoproduzentin hat sie viele heutige Porno-Genres entwickelt oder ins Leben gerufen, als Künstlerin war sie 2014 auf der documenta 14 vertreten. Seit 2007 ist sie mit ihrer künstlerischen Kollaborateurin, Elizabeth Stephens, verheiratet; die beiden bezeichnen sich als ‚ökosexuell‘ und haben als künstlerische Performance verschiedene Naturerscheinungen geheiratet. Ihre sexualpädagogische Arbeit greift dabei ineinander mit einem umweltpädagogischen Ansatz; die sexuelle Aufklärung ist mit klimapolitischer Aufklärung vereint.


Das ‚post-porn movement‚ betrachtet die großangelegte Porno-Filmindustrie kritisch und bevorzugt individuelle, alternative Pornoschaffende. Diversität und die Darstellung queerer Lebens-(und Sexualitäts-)realitäten werden wertgeschätzt.


Annie Sprinkle – das benötigt eigentlich keinen Hinweis – ist sex-positive Feministin. Der sex-positive Feminismus betrachtet die freie weibliche Sexualität als Bestandteil der Befreiung der Frau – im Gegensatz zu einer Betrachtungsweise, die Sexualität als Frau grundsätzlich als eine Form der männlichen Unterdrückung postuliert. Dazu gehört notwendigerweise und unter allen Umständen jede Form von Pornografie. Annie Sprinkle unter anderem vertritt die Position, dass feministische Pornografie nicht nur möglich, sondern nötig ist und dass das Entdecken und Ausleben der weiblichen Sexualtität ein Akt des feministischen Widerstands gegen die prohibitive Körperpolitik des Patriarchats ist.

Im Essay Feminism, Moralism and Pornography, eines der frühesten Dokumente gegen eine US-amerikanische Anti-Porn-Bewegung, erläutert Ellen Willis die Haltung des sex-positiven Feminismus. Ich zitiere hier nur die für mich besonders markanten Stellen:

• ‚If feminists define pornography, per se, as the enemy, the result will be to make a lot of women ashamed of their sexual feelings and afraid to be honest about them. And the last thing women need is
more sexual shame, guilt, and hypocrisy – this time served up as feminism.

– Wenn Feminist*innen Pornografie per se als den Feind definieren, wird das Ergebnis sein, dass sie viele Frauen dazu bringen, sich für ihre sexuellen Gefühle zu schämen und Angst zu haben, ehrlich damit umzugehen. Und das Letzte, was Frauen brauchen, ist noch mehr sexuelle Scham, Schuld oder Scheinheiligkeit – dieses Mal als Feminismus serviert.

• ‚In practice, attempts to sort out good erotica from bad porn inevitably come down to „What turns me on is erotic; what turns you on is pornographic.“
– In der Praxis werden Versuche, gute Erotica von schlechter Pornografie zu unterscheiden, unausweichlich damit enden: ‚Was mich anmacht, ist erotisch, was dich anmacht, ist pornografisch.‘

•‘It is precisely sex as an aggressive, unladylike activity, an expression of violent and unpretty emotion, an exercise of erotic power, and a specifically genital experience that has been taboo for women. Nor are we supposed to admit that we, too, have sadistic impulses, that our sexual fantasies may reflect forbidden urges to turn the tables and get revenge on men.
– Es ist genau Sex als eine aggressive, undamenhafte Aktivität, ein Ausdruck von gewaltvoller und unschöner Gefühle, eine Ausübung erotischer Macht und eine ausdrücklich genitale Erfahrung, die für Frauen tabu war. Noch sollen wir zugeben, dass auch wir sadistische Impulse haben, dass unsere sexuellen Fantasien möglicherweise verbotene Bedürfnisse spiegeln, den Spieß umzudrehen und Rache an den Männern zu nehmen.

• ‚In any case, sanitized feminine sexuality, whether straight or gay, is as limited as the predatory masculine kind and as central to women’s oppression; a major function of misogynist pornography is to scare us into embracing it.
– In jedem Fall ist die bereinigte weibliche Sexualität, ob hetero- oder homosexuell, ebenso eingeschränkt wie die ausbeuterische männliche, und ebenso zentral in der Unterdrückung der Frauen; eine Hauptfunktion von misgyner Pornografie ist es, uns durch Angst dazu zu bringen, sie anzunehmen.

• ‚The basic purpose of obscenity laws is and always has been to reinforce cultural taboos on sexuality and suppress feminism, homosexuality, and other forms of sexual dissidence. No pornographer has ever been punished for being a woman-hater, but not too long ago information about female sexuality, contraception, and abortion was assumed to be obscene. In a male supremacist society the only obscenity law that will not be used against women is no law at all.
– Das schlichte Ziel von Gesetzen gegen ‚Unzucht‘ ist und war es schon immer, kulturelle Tabus zur Sexualität zu bekräftigen und Feminismus, Homosexualität und andere Formen der sexuellen Gegenbewegung zu unterdrücken. Kein Pornograf ist jemals dafür bestraft worden, ein Frauenhasser zu sein, aber vor noch nicht allzu langer Zeit wurden Informationen zu weiblicher Sexualität, Verhütung und ABtreibung als ‚unzüchtig‘ angesehen. In einer männlich beherrschten Gesellschaft ist das einzige Unzuchts-Gesetz, das nicht gegen Frauen angewendet wird, *kein Gesetz*.

• ‚In contrast to the abortion-rights movement, which is struggling against a tidal wave of energy from the other direction, the anti-porn campaign is respectable. It gets approving press and cooperation from the New York City government, which has its own stake (promoting tourism, making certain neighborhoods safe for gentrification) in cleaning up Times Square. It has begun to attract women whose perspective on other matters is in no way feminist („‚I’m anti-abortion,'“ a participant in WAP’s march on Times Square told a reporter, „‚but this is something I can get into'“). Despite the insistence of WAP organizers that they support sexual freedom, their line appeals to the anti-sexual emotions that feed the backlash.
– Im Kontrast zur Bewegung für das Recht auf Abtreibung, die gegen eine Flutwelle der Energie aus der Gegenrichtung zu kämpfen hat, ist die Anti-Porn-Kampagne wohlanständig. Sie erhält zustimmende Presse und Mitarbeit der Regierung der Stadt New York, die ihre eigenen Interessen (vermehrter Tourismus, gewisse Bezirke für die Gentrifizierung sicher zu machen) daran hat, den Time Square zu säubern. Sie hat angefangen, Frauen anzuziehen, deren Perspektive in anderen Belangen in keiner Weise feministisch ist (‚Ich bin gegen Abtreibung‘, erzählte eine Teilnehmerin des WAP-Marsches auf dem Time Square einem Journalisten, ‚aber diese Bewegung ist eine, bei der ich mich wiederfinde.‘). Entgegen dem Beharren der WAP (Women Against Pornography) Organisatorinnen, dass sie sexuelle Freiheit unterstützen, klingt ihre politische Linie an bei den anti-sexuellen Gefühlen, die die Gegenreaktion verstärken.

Ich erinnere mich an den Nachhall der deutsche PorNO-Kampagne, die wohl in einer Linie steht mit dem heutigen Dogmatismus, den Alice Schwarzer für Feminismus hält; meines eigenen geringen Interesses am Porno-Konsum ungeachtet halte ich die freie, selbstbestimmte Ausübung von (selbstverständlich konsensueller) Sexualität auch als Arbeit für einen notwendigen Bestandteil der Geschlechtergerechtigkeit.


Quellen Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem entsprechend markierte Stelle:
(1) University of Oregon Art History Student Association
(2) The Whore in All of Us: Transgressive Female Sexuality in the Works of Lydia Thompson and the British Blondes, Mae West, and Annie Sprinkle

27/2023: Vibeke Vasbo, 9. Juli 1944

Vibeke Vasbo kam als zweites von vier Kindern zweier Ärztys auf der dänischen Insel Als zur Welt. Sie wuchs in Tandslet auf, verbrachte aber auch viel Zeit in Aabenraa auf dem dänischen Festland, bei ihrer Großmutter mütterlicherseits, der Politikerin Ingeborg Reflsund Thomsen. Diese prägte wohl auch ihr späteres politisches Bewusstsein.

Als Jugendliche wollte Vasbo Journalistin werden, sie schrieb Kurzgeschichten und Gedichte; nach dem Abschluss der weiterführenden Schule ging sie für ein halbes Jahr als Au Pair nach Cambridge, anschließend studierte sie Deutsch und Englisch an der Universität Kopenhagen. Im Studium lernte sie Karen Syberg kennen; die beiden Frauen gründeten bald nach dem Vorbild der US-amerikanischen Redstockings (Link Englisch) die dänische Frauenrechtsbewegung Rødstrumperne. Die ‚Rotstrümpfe‘ demonstrierten und setzten sich für Frauenrechte – eine Demonstration 1970 endete (laut Wikipedia) mit dem Verbrennen von Büstenhaltern, einer angeblich beliebten Geste unter Feministinnen der Zeit, die möglicherweise ins Reich der Legenden verbannt gehört (außer, wenn die Däninnen es nun doch tatsächlich gemacht haben). Die ‚Rotstrümpfe‘ gründeten auch ein Frauencamp auf der Insel Femø und setzten sich für das Recht auf Abtreibung ein. Vasbo brach ihr Studium 1973 mit 29 Jahren ab und begann, im Kopenhagener Bispebjerg Hospital zu arbeiten.

Nach einer kurzen Ehe mit einem Seemanns-Pastor in Hull(2) lebte Vasbo inzwischen in einer Beziehung mit der norwegischen Schriftstellerin Gerd Brantenberg (deren ‚Die Töchter Egalias‘ mir damals in den 1990ern doch eine Epiphanie verschafft – heute sicher nicht mehr 100% zeitgemäß, da vollkommen binär, wies es doch schon auf die Absurdität der Geschlechterrollen hin, indem es die Vorzeichen umgekehrt setzte; lange, bevor es Social Media und seitenverkehrt gab). Wie auch in anderen Ländern entwickelte sich in der Frauenbewegung eine bedauerliche Ablehnung der lesbischen Mitstreiterinnen, sodass Vibeke mit 200 anderen Mitgliedern die eigene lesbische Bewegung (‚lesbisk bevægelse‚) gründete. Vasbo und Brantenberg zogen nach Oslo, wo Vasbo als Kranführerin arbeite. Aus ihren Tagebüchern entstand ihre erste Veröffentlichung im Jahr 1976 – auf deutsch ‚Tagebuch‘, trägt das Buch im Original den wunderbaren Titel ‚Al den løgn on kvinders svaghed‚ – ‚All die Lügen über die Schwäche der Frauen‘. Es stellt die erste Erzählung aus Sicht einer offen lesbischen Frau in der dänischen Literatur dar.

1981 traf sie den Priester Leo Thomsen. Sie beendete den Kontakt zur Lesbenbewegung, doch die Beziehung zu Thomsen war schwierig – Vasbos Roman ‚Miraklet i Amalfi‚ (‚Das Wunder von Amalfi‘) erzählt davon – und endete einen Monat vor seinem Tod 1998.

Vasbo schrieb seitdem noch weitere Bücher, etwa ‚The Song of Hild‚ über die Klostergründerin Hilda von Whitby.(3)


Quelle Biografie: Wiki englisch
außerdem:
(2) Sacristy Press
(3) Blogbeitrag zum Buch Song of Hild

24/2023: Josephine Ho, 16. Juni 1951

Josephine Hos akademische Laufbahn ist beeindruckend: Zuerst studierte sie an der National Chengchi University in Taipeh Western Language and Literature und schloss 1972 mit einem Bachelor of Art ab. Anschließend machte sie 1975 ihren Master of Science in Erziehungswissenschaft an der University of Pennsylvania, einen Doctor of Education in Linguistik an der University of Georgia 1981 und schließlich 1992 noch einen Doctor of Philosophy in Englisch an der Indiana University of Pennsylvania.

Bereits seit den 1990er Jahren – kurz, nachdem Taiwan von einem Einparteiensystem in eine Demokratie überging, siehe unten – trat Ho als Frauenrechtsaktivistin in Erscheinung. Nachdem 1989 der erste taiwanische Gerichtsprozess wegen sexueller Belästigung geführt wurde, organisierte sie im Mai 1994 die erste Demonstration gegen sexuelle Belästigung in Taiwan, die unter dem selbstbewussten Slogan lief: „Wir wollen keine Belästigung, wir wollen Orgasmen. Wenn ihr uns weiter sexuell belästigt, schneiden wir ihn mit der Schere ab!“ Sie begründete 1995 das Center for the Studies of Sexualities an der Nationalen Zentraluniversität in Taipeh, in dem zu den Themen Gender, sexuelle Aufklärung und sexuelle Selbstbestimmung, Sexarbeit und Transgeschlechtlichkeit geforscht wird; sie selbst schrieb 15 Bücher zur taiwansischen Gender- und Sexualtitätsforschung. Seit 2006 ist sie an der Universität Professorin, seit 2010 leitet sie das Forschungszentrum.

Ho gilt – neben ihrem Aktivismus auch für die Friedensbewegung, die Anti-Globalisierungsbewegung, gegen Atomkraft und für Menschenrechte – als Begründerin der taiwanischen Queer-Bewegung. Auf der Webseite ihres Forschungszentrums informiert sie über die diversen Themen der Sexualrechtsbewegung – dafür wird sie insbesondere über diese Webseite von Gegnern angegriffen. 2003 klagte eine konservativ-christliche Organisation gegen sie, weil sie angeblich über Zoophilie nicht nur informiere, sondern diese ausdrücklich befürworte. Tatsächlich enthielt die Webseite Artikel zu diesem Thema als Teil der Sexualforschung, die Seite wurde gesperrt. Ein Netzwerk aus Studierenden, Wissenschaftlerys und Aktivistys bildete sich und konnte mit Unterstützung einer internationalen Petition einen Gewinn für die Informationsfreiheit erlangen und die Aufhebung der Sperre erreichen.

Für ihren Einsatz für die Frauenrechte, aber auch die Rechte der LGBTQIA+-Bewegung war Josephine Ho eine von 1.000 Frauen, die 2005 für den Friedensnobelpreis nominiert wurden.


Um Josephine Hos Aktivismus einzuordnen, finde ich es hilfreich, auch die Geschichte Taiwans kurz darzustellen, für alle, die wie ich noch nicht so viel darüber wissen. (In der März-Ausgabe der GEO wurde die Geschichte und aktuelle Lage der Insel vor dem chinesischen Festland wie immer spannend erzählt, ich kann den Artikel sehr empfehlen. Ich habe ein Print-Abo, zugegebenermaßen.)

Die Urbevölkerung Taiwans gehört zu den austronesischen Völkern und betrieb wirtschaftlichen Austausch mit den Völkern auf den Philippinen und dem chinesischen Festland. In der europäischen Geschichte taucht Taiwan zuerst 1583 auf, als die Portugiesen die Insel entdecken, die sie (Ilha) Formosa, die Schöne (Insel), nennen. 1624 besetzen niederländische Seeleute und Händler den Süden, zwei Jahre später lassen sich spanische Händler im Norden nieder. Die niederländischen Kolonisatoren werben verstärkt Siedler vom chinesischen Festland an, was zu mehreren Immigrationswellen führt – die Nachfahren der eingewanderten Han-Chinesen bilden heute die Mehrheit der taiwanischen Bevölkerung. Die austronesische Urbevölkerung geht zu großen Teilen in dieser Bevölkerung auf, nur in einigen unzugänglichen Bergregionen bleiben indigene Völker bis ins 20. Jahrhundert davon unberührt. Die Niederländer führen in der von ihnen regierten Region die christliche Religion und das europäische Schulsystem ein. 1661 verdrängt der chinesische Kaufmann/Pirat Zhen Chenggong die Niederländer von Formosa und gründet dabei das (chinesische) Königreich Tungning – auch er holt in mehreren Wellen Festlandchinesen auf die Insel. Dieses wird 1683 vom Festland-Königreich der Qing-Dynastie besiegt und Taiwan dem Königreich als Teil einer Festland-Provinz einverleibt. Die Insel ist daraufhin 200 Jahre lang chinesisch.
Nachdem China den ersten japanisch-chinesischen Krieg 1895 verloren hatte, musste es die Penghu-Inseln zwischen Tawian und dem Festland an Japan abtreten. Daraufhin rief die Provinzregierung auf Taiwan die Republik Formosa aus; Japan musste die Insel in einem mehrmonatigen Kampf erobern. Bis 1945 blieb Taiwan japanische Kolonie, in dieser Zeit versuchte die Besatzungsmacht, den Shintoismus als Staatsideologie (und -religion) einzuführen und ‚zivilisierte‘ die restliche indigene Bevölkerung, etwa indem die noch übliche Kopfjagd abgeschafft wurde.
In einer Erhebung 1919 bestand die Bevölkerung dieser Zeit aus (ungefähr) 3 Millionen Han-Taiwanys (Nachfahren der eingewanderten Han-Chinesen), 100.000 Japanern und 120.000 indigenen Taiwanys.
Mit der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg wurde die Insel wiederum in die inzwischen eingerichtete Republik China eingegliedert; die republikanischen Truppen wurden auf Taiwan zunächst freudig begrüßt, doch stürzten die Taiwanys die Regierung der Kuomintang 1947 nach dem starkem wirtschaftlichem Niedergang (die schwelende Unzufriedenheit im Volk aufgrund der Korruption und gewaltbereiten Regierung brach sich nach einem Massaker Bahn, dessen genaues Ausmaß noch heute nicht vollständig bekannt ist). Als die Republik 1949 im Bürgerkrieg zwischen den Kuomintang (KMT) und den Kommunisten zerbrach, floh die KMT-Regierung um Chian Kai-shek nach Taiwan und richtete Taipeh als Hauptstadt der Republik China (Taiwan) ein. Mit ihnen flohen etwa 1,5 Millionen Chinesen vom Festland auf die Insel, die heute ungefähr 14% der Bevölkerung Taiwans ausmachen.
In den folgenden vierzig Jahren blieb Taiwan von der KMT als einzige Partei regiert. Erst 1987 wurde das Kriegsrecht aufgehoben, eine Oppositionspartei – die Demokratische Fortschrittspartei – wurde zu Wahlen zugelassen und regierte seitdem Jahr 2000 abwechselnd mit der KMT. Seit dem Aufbrechen des Einparteiensystems erhält auch die indigene taiwanische Sprache wieder Raum und das Bestreben, die ursprüngliche Kultur des Inselvolkes wiederzuentdecken und zu bewahren.

Dies ist selbstverständlich nur ein sehr kurz gefasster, Details sparender Überblick, die Verlinkungen können zur Vertiefung dienen.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch

20/2023: Inna Bocoum, 19. Mai 1984

CN: FGM

Als sechstes von sieben Kindern kam Inna Bocoum in Bamako, der Hauptstadt Malis, zur Welt. Ihren heutigen Künstlernamen verdankt sie ihrer Mutter, die sie ‚Modja‘ nannte: In der westafrikanischen Sprache Fulfulde bedeutet es ’nicht gut‘ (auf englisch: ‚cheeky‚), könnte also vielleicht mit ‚Tunichtgut‚ übersetzt werden.

Ihre Kindheit verlebte Inna Bocoum zu Teilen in Ghana. Während eines Besuchs bei der malischen Familie, als Inna noch keine vier Jahre alt war, wurde sie in Abwesenheit ihrer Eltern von ihrer Großtante betreut. Diese nahm – ohne Einverständnis der Eltern – eine Beschneidung an dem Mädchen vor. Die weibliche Genitalverstümmelung ist eine Tradition in vielen nord- und mittelafrikanischen Ländern, die Großtante übte somit in ihrem Glauben eine gute Tat an ihrer Verwandten aus. Für Inna Bocoum bedeutete es ein tiefsitzendes Trauma, eine Beschneidung ihrer Selbstwirksamkeit, in ihren Teenager-Jahren resultierten daraus große Schwierigkeiten mit ihrer Selbstwahrnehmung als Frau. (2, 3)

In ihrem Elternhaus wurde sie schon in ihrer Kindheit musikalisch geprägt; ihr Vater teilte mit ihr seine Liebe zu Jazz, Blues und Soul, ihre Mutter die zu Miriam Makeba. Auch ihre Geschwister beeinflussten ihren Musikgeschmack und -stil, mit Punk, HipHop, Heavy Metal und Disco. Mit sechs Jahren schrieben ihre Eltern sie bei einem Chor ein, später, als die Familie wieder in Bamako lebte, besuchte sie oft einen ihrer Nachbarn, der ebenfalls ihre Musikkarriere förderte: Salif Keïta. Der stellte den Kontakt zur Rail Band (Link Englisch) her, sodass sie erste Schritte in der malischen Musikbranche machte.

Sie unterzog sich rekonstrukitver Operationen, die ihre körperliche Gesundheit wie ihr Selbstbewusstsein wiederherstellten. (3, 4)

2009, mit 23, hatte Inna Modja ihren ersten Auftritt im französischen Fernsehen, als sie auf dem Fête de la Musique mit Jason Mraz sang. Im selben Jahr veröffentlichte sie ihre ersten Singles und ihr Album ‚Everyday is a new World‚. Zwei Jahre später landete sie einen französischen Sommerhit mit ‚French Cancan (Monsieur Sainte Nitouche)‚.

Inna Modja: French Cancan (Monsieur Sainte Nitouche)

Auf ihrem Album ‚Motel Bamako‚ im Jahr 2015 bezog sie Position zu verschiedenen politischen Themen, etwa die post- und neokolonialen Problematiken der Wasserrechte, der Flucht vom afrikanischen Kontinent nach Europa aufgrund von Krieg und Nahrungsmangel, und auch zu Gewalt an Frauen, unter anderem in Form von weiblicher Genitalverstümmelung. Die Lieder des Albums singt sie auf Englisch, Französisch und Bambara, einer anderen Sprache, die in Mali gesprochen wird.

Kurzfilm zu Inna Modja La Valse de Marylore (CN: körperliche/sexuelle Gewalt)

Aufgrund ihres Engagements durfte sie 2015 auch vor den Vereinten Nationen auftreten. Auch hier spricht sie über die Schwierigekeiten vieler afrikanischer Länder mit Bürgerkrieg und Trockenheit, außerdem über ihre Erfahrungen mit FGM und die Entscheidung, rekonstruierende Operationen vornehmen zu lassen.

Inna Modjas Auftritt vor der UNO

Zur FGM und rekonstrukiver Chirurgie möchte ich auch noch einmal In Search…‚ von Beryl Magoko empfehlen, der sich sehr persönlich und empfindsam mit der Thematik auseinandersetzt.


Quellen: Wiki englisch | deutsch
außerdem:
(2) deutschlandfunk
(3) SRF
(4) UN News

Dank an Vicky und das Wort für den hoffentlich richtigen Begriff in der Bildbeschreibung

19/2023: Tanya Zolotoroff Nash, 10. Mai 1898

CN: systematische Gewalt gegen Gehörlose

Tanya Zolotoroff kam als Kind einer wohlhabenden jüdischen Familie in Odessa zur Welt, damals Teil des russischen Zarenreiches. Ihr Vater stellte Pelzmützen her, was guten Verdienst einbrachte: Sie lebten mit mehreren Angestellten, unter anderem individuellen Kindermädchen für die damals drei Kinder. Dennoch waren die Eltern überzeugte Sozialisten und hielten politische Salons in ihrem Heim ab. Als 1904 der russisch-japanische Krieg ausbrach, beschlossen sie, in die USA auszuwandern, da jüdische Bürger dafür insbesondere eingezogen wurden – sie wurden ausdrücklich als ‚Kanonenfutter‘, also entbehrliche Massen, eingesetzt.(2)

Niemensch in der Familie sprach Englisch, ihre rasche Einbürgerung verdankten sie verschiedenen anderen Familienmitgliedern, die bereits im Land lebten. Die Zolotoroffs ließen sich in Brooklyn nieder, doch lebten sie hier in bitterer Armut. Der Vater fand Arbeit in einer Fabrik am Fließband, die Mutter verkaufte Süßkartoffeln im Park. Tanya bewunderte ihre Mutter für ihre Tatkraft, musste jedoch auch miterleben, wie ihre Mutter noch zwei weitere Kinder gebar und insgesamt zwölf Abtreibungen vornehmen lassen musste.(2)

Zwei Tanten von Tanya besuchten eine Sprachenschule, um Englisch zu lernen; Tanya war eigentlich noch zu jung für diese Schule, trug sich jedoch als ‚Lehrassistentin‘ an, sodass sie dem Unterricht trotzdem beiwohnen konnte. Sie war sprachbegabt und auch sonst sehr intelligent, nahm das Englische schnell auf und wurde oft für ihr gute Sprachkenntnis gelobt. Sie gewann mit dreizehn sogar einen Buchstabierwettbewerb, konnte aber an der Preisverleihung nicht teilnehmen, weil sie keine tragbaren Schuhe hatte. Mit 15 musste sie die Schule verlassen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Sie blieb politisch interessiert, besuchte außerhalb ihrer Arbeitszeit viel die Bibliothek und schloss sich der Brooklyn Philosophical Society an. Dort traf sie Felix Nash, einen jungen Mann in der Ausbildung zum Rabbi (nicht das Gleiche wie ein Rabbiner), und auch, wenn sie bei ihrer ersten Begegnung uneins waren, verliebten sie sich und heirateten 1927.

Nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte, wandte sich Felix Nash der Sozialarbeit zu. 1929 übernahm er die Leitung der Society for the Welfare of the Jewish Deaf – zu einem Zeitpunkt, als diese vor den Tatsachen der Weltwirtschaftskrise stand. Viele Menschen waren zu dieser Zeit ohne Auskommen, doch Gehörlose und Ertaubte hatten noch weniger Möglichkeiten, sich zu behelfen, da ihre Arbeitsmöglichkeiten eingeschränkt waren. Vor den Türen der Society standen Schlangen von hilfsbedürftigen, gehörlosen und ertaubten Juden, also gab Zolotoroff Nash ihre Tätigkeit bei einer Zeitung auf und unterstützte ihren Mann bei seiner Arbeit. Sie lernte in kurzer Zeit American Sign Language (ASL), wenn auch nie so gut wie Englisch.(2) Kurz darauf übernahm sie selbst die Leitung der Society, da ihr Mann mit nur 30 Jahren an einem Gehirntumor verstarb.

Zolotoroff Nash musste feststellen, dass es der Society entschieden an Geld fehlte für alle Aufgaben, die sie für die Gemeinschaft erfüllen sollte, also begann sie, aus eigener Tasche zu zahlen oder im Bekanntkreis Spenden aufzutreiben. Sie öffnete die Organisation für andere Menschen mit Behinderung, etwa Taubblinde, aber auch für nicht-jüdische Gehörlose. Sie unterstützte ihre Gemeinschaft in Belangen der Medizin, bei der Arbeitssuche, organisierte Übersetzer und Anwälte, klärte über Verhütung bzw. Geburtenkontrolle auf; hierfür ging sie durch die Stadtviertel New Yorks, in denen vornehmlich Immigranten lebten, und suchte gehörlose Frauen auf, um sie über ihre Rechte und Möglichkeiten zu unterrichten. Außerdem half sie gehörlosen Immigranten bei der Einwanderung in die USA. Dabei scheute sie auch nicht vor verzeihlichem Betrug zurück: Beim Einbürgerungsantrag mussten Immigranten Fragen beantworten, um ihre Kenntnis der US-amerikanischen Geschichte zu beweisen, und Zolotoroff Nash übersetzte für sie – dabei gab sie grundsätzlich die richtigen Antworten, ungeachtet dessen, was die eigentlich Befragten in Gebärdensprache angaben. Sie gründete das Magazin der Organisation, The Jewish Deaf, und brachte gehörlose Kinder in Sommercamps unter; um die Integration zu verbessern, reiste sie voraus und brachte den schon anwesenden, hörenden Kindern die Grundkenntnisse der ASL bei, damit eine erste Kommunikation gewährleistet war.(2)

Eine Anekdote erzählt, dass Zolotoroff Nash einmal Helen Keller im Krankenhaus besuchte, nachdem dieser ein Zeh amputiert werden musste. Zolotoroff Nash buchstabierte ihr danach in die Hand, dass sie froh sei, dass Keller einen Zeh und nicht einen Daumen verloren hätte – sie hätte sonst einen Sprachfehler gehabt! Keller fand das selbst sehr erheiternd.(2)

1968 startete sie ihr letztes, größtes Projekt: Sie initiierte den Bau eines Wohnkomplexes für gehörlose Senioren. Hierfür kümmerte sie sich um Lizenzen, Baugenehmigungen, Aufträge und Finanzierung, die es ermöglichte, die Wohnungen für niedrigste Preise zu vermieten. In den 137 Wohnungen wurden standardisiert visuelle Signale für Türklingeln, Telefone und Feueralarme eingebaut, außerdem Kameras, die es den Bewohnerys ermöglichten zu sehen, wer vor der Tür stand; alle Flure wurden breit genug für Rollstühle angelegt. Nur wer weniger als 9.000$ (oder 10.000$ als Paar) im Jahr verdiente, konnte dort eine Wohnung mieten. Der Bau der Tanya Towers wurde 1974 abgeschlossen, Zolotoroff Nash blieb auch, nachdem sie sich von der Leitung der (inzwischen) New York Society for the Deaf zur Ruhe gesetzt hatte, als Beraterin für die Organisation tätig.(2)

Tanya Zolotoroff Nash starb am 10. Juli 1987 mit 99 Jahren.


Quellen: Wiki englisch
außerdem:
(2) I Don’t Know Her: ADVOCATE – Tanya Zolotoroff Nash (die erste Viertelstunde geht es um ein versehentliches Fremdouting einer der beiden Podcasterys, bevor sie zum Thema kommen)


Im oben genannten Podcast spricht Avery Mead auch über die Geschichte der Gehörlosenkultur und ASL, dabei setzt they den Aktivismus von Tanya Zolotoroff Nash auch in Bezug zum allgemeinen geschichtlichen Hintergrund. Ich möchte dies für die Leserys gerne kurz (und auf Deutsch) zusammenfassen, auch, weil ich dabei einiges gelernt habe, was ich ungemein faszinierend fand. Außerdem möchte ich noch sehr kurz auf die Geschichte der Deutschen Gebärdensprache eingehen.

Nach dem, was heute zu wissen ist, hat es schon immer überall auf der Welt Gebärdensprachen gegeben, nicht nur für spezielle Tätigkeiten (während der Jagd, in kriegerischen Konflikten etc.), sondern ausdrücklich für die Kommunikation zwischen und mit gehörlosen oder ertaubten Menschen. Mir war die Geschichte des Idioma des Signos Nicaragüense (ISN) aus Steven Pinkers ‚The Language Instinct‚ bekannt, im Podcast hörte ich jedoch zum ersten Mal von Martha’s Vineyard Sign Language (MVSL):

Auf der kleinen Insel vor der US-amerikanischen Westküste (nordöstlich von New York) siedelten in der Frühzeit der britischen Kolonialisierung vornehmlich Menschen aus dem Kent’schen Weald. In dieser Bevölkerung gab es eine Häufung von rezessiv vererbbarer Gehörlosigkeit, sodass dort im 18. Jahrhundert auf der Insel eine gehörlose Person auf 155 Hörende kam, in manchen Gegenden sogar, wie im an der Südküste gelegenen Chilmark, kam eine gehörlose Person auf nur vier Hörende. Zum Vergleich, der US-amerikanische Durchschnitt ist eine gehörlose Person auf etwa 1.000 Hörende. In dieser Situation hatte es sich vollständig normalisiert, dass Hörende und Gehörlose miteinander in einer Gebärdensprache kommunizierten – und zwar nicht nur ausschließlich, um die auditiven Unterschiede zu umgehen, sondern auch als Handhabe in Situationen, in denen Lautsprache nicht möglich oder nicht erwünscht war. Die MVSL – und das hat mich wirklich ein bisschen umgehauen – ging möglicherweise aus einer noch älteren, der Old Kentish Sign Language (Link Englisch) hervor, von der es einen Bericht aus dem 17. Jahrhundert gibt. Die Gehörlosen auf Martha’s Vineyard waren ganz selbstverständlich in die Inselgemeinschaft integriert – schon aufgrund der Statistik, hatte doch jede Person auf der Insel mindestens eine Verwandtschaft mit einer gehörlosen Person. Die Menschen auf Martha’s Vineyard sprachen allesamt, mehr oder weniger flüssig, die ortsübliche Gebärdensprache.

Währenddessen hatte sich im 18. Jahrhundert auch in Frankreich der Gedanke der Gehörlosenbildung mit Gebärdensprache etabliert, dank Charles-Michel de l’Epée. Ein Schüler de l’Epées, Laurent Clerc, traf in Frankreich auf den US-Amerikaner Thomas Hopkins Gallaudet, der für eine befreundete Familie mit einer gehörlosen Tochter nach Europa gereist war, um sich genau darüber fortzubilden. Gallaudet lud Clerc in die USA ein und gemeinsam bereisten sie Neuengland. Aus MVSL und der französischen Langue des signes français (LSF), entwickelten die beiden die frühe Form des ASL; sie gründeten 1817 das Connecticut Asylum for the Instruction and Education for Deaf and Dumb Persons, heute American School for the Deaf, Gallaudet gründete später die erste Universität für Gehörlose, die heute Gallaudet University heißt.

Leider entwickelte sich nun gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Idee der Eugenik (Erbgesundheitslehre), von der unter anderem der ‚erste kommerzielle Betreiber der Telefonie‘, Alexander Graham Bell überzeugt war, der selbst Sohn einer gehörlosen Mutter und Ehemann einer gehörlosen Frau war und sogar am Connecticut Asylum als Lehrer gearbeitet hatte. Er forderte ein Eheverbot für Gehörlose und wandte sich gegen die Gehörlosenbildung mit Gebärdensprache. Insgesamt schlug das Klima dahingehend um in Audismus, Gehörlose wurden gezwungen, Lautsprache zu lernen, z.T. mit auf den Rücken gebundenen Händen; gehörlose Menschen mit Uterus wurden ohne ihr Wissen und Einverständnis nach Geburten sterilisiert. Diese ablehnende Haltung gegenüber einer Gehörlosenkultur war Status Quo zu der Zeit, als Tanya Zolotoroff Nash mit ihrem Mann die Society for the Welfare of the Jewish Deaf leitete – eine nicht unwichtige Einordnung für diese hörende Advokatin der Gehörlosen.

In Deutschland übrigens folgte die Gehörlosenpädagogik spätestens seit dem Mailänder Kongress von 1880 der oralen Methode – auch wenn es schon fast hundert Jahre vorher die beiden unterschiedlichen Methoden in Frankreich und Deutschland gab, mit sehr unterschiedlichen Erfolgen. Der Nationalsozialismus tat sein Übriges – in der Mediathek Hessen sind die Filme von Helmut Vogel verfügbar, die über die Verfolgung Gehörloser durch die Faschisten berichten: (1), (2), (3) (ich verlinke diese ungesehen). Erst seit den 1980er Jahren begann sich das Verständnis von Gebärdensprache als vollwertige Sprache weltweit durchzusetzen; heute gelten in einigen Ländern die regionalen Gebärdensprachen sogar als Amtssprache. In Deutschland ist die Deutsche Gebärdensprache (DGS) seit 1998 als Sprache anerkannt.

18/2023: Del Martin, 5. Mai 1921

Dorothy Louise Taliaferro kam in San Francisco zur Welt und studierte Publizistik an der University of California, Berkeley und dem San Francisco Stat College. Einen Doktorgrad verdiente sie sich am Institute for the Advanced Study of Human Sexuality. Sie heiratete einen Mann, der ihr den Nachnamen Martin gab, doch die Ehe, aus der eine Tochter hervorging, endete nach vier Jahren.

1950, mit 29 Jahren, lernte Martin bei ihrer Arbeit als Journalistin in Seattle Phyllis Lyon kennen. Zwei Jahre später waren die beiden ein Paar, ein weiteres Jahr später bezogen sie zusammen eine Wohnung in San Francisco. Während sie für sich selbst ihre Identifizierung als Lesben und ihre Lebensweise als Paar gefunden hatten, fühlten sie sich in der übrigen Gesellschaft allein – als Homosexuelle in einer homosexuellenfeindlichen Gesellschaft, aber auch in der Gemeinschaft anderer Homosexueller. Es gab zwar auch in San Francisco eine Bar-Szene, in der sich Schwule und Lesben trafen, doch Martin und Lyon suchten nach einer anderen Art der Begegnung. Sie lernten ein Paar schwuler Männer kennen, die sie wiederum einem anderen lesbischen Paar vorstellten. Von diesem Paar kam die Frage an Martin und Lyon, ob sie sich zusammentun wollten für eine Organisation – anfänglich war einfach eine Art Club gemeint, der zum Austausch, zur gegenseitigen Unterstützung dienen und für das Gefühl einer Zugehörigkeit sorgen sollte zwischen der Diskriminierungen der heteronormativen Gesellschaft und der unorganisierten Welt der Homosexuellen-Bars, die außerdem der andauernden Schikane durch die Polizei ausgesetzt war. Martin und Lyons hatten Interesse, und so entstand der Club aus acht Frauen. Eine der Gründerinnen hatte die ‚Lieder der Bilitis (Link Englisch)‚ gelesen, eine Sammlung erotischer Gedichte, von der der Autor behauptete, sie seien Übersetzungen aus dem Alten Griechisch; Bilitis sei eine Zeitgenossin Sapphos gewesen. Aufgrund dieser eher obskuren Andeutung auf Lesbianismus nannten die Frauen ihren Club ‚Daughters of Bilitis‚, vermeintlich, weil Lesben den Hinweis verstehen würden, während der Name für Uneingeweihte schlicht nach einem weiteren Buchclub klänge. Nach Meinung Martins und Lyons war die Anspielung allerdings so verborgen, dass niemand sie verstand, denn außer dem besagten Mitglied kannte keine das Buch.(2)

Die ursprüngliche Gruppe spaltete sich schließlich auf in vier Frauen, die weiterhin schlicht einen geheimen Club betreiben wollten, und die anderen vier, die sich bald auf die Fahnen schrieben, nicht nur sich gegenseitig bei den alltäglichen Problemen zu helfen, sondern auch die Gesellschaft über die Realität lesbischer Frauen aufzuklären. Die Daughters hatten zu dieser Zeit kaum mehr als 15 Mitglieder und Martin und Lyons ermutigten jeden einzelnen Neuzugang persönlich. Von Beginn an ging es darum, sich gegenseitig und auch andere, ‚frischer geschlüpfte‘ Lesben bei den Herausforderungen zu unterstützen, die homosexuelle Frauen mehr als homosexuelle Männer betrafen. Sie sahen sich dabei nicht nur durch die homophobe Allgemeinheit bedroht, auch aus der homosexuellen Gemeinschaft schlug ihnen Abwehr entgegen. Viele Frauen empfanden es bedrohlicher, sich in einem ‚Club‘ außerhalb der Bars zu organisieren, als in den Bars ihre Zeit zu verbringen; es gingen auch Gerüchte um, der Club sei nur für Paare, es würden dort Orgien gefeiert und ähnliches. Insbesondere höhergestellte Frauen, die sich dank ihres Status besser in die Gesellschaft einfügten, während sie gleichzeitig als Paare zusammenleben konnten, fühlten sich von einer ‚Organisation‘ wie den Daughters bedroht – denn wenn über Lesbianismus gesprochen wurde, fiel der Blick auch auf sie, und sie wären von den gleichen Diskriminierungen betroffen gewesen. In dieser Zeit entstand auch der erste Kontakt zu Mattachine Society, die allerdings nicht ihr Vorbild war – da die Society bereits länger existierte, hatte diese schon festere Strukturen und arbeitete organisierter, doch die Frauen hörten erst davon, nachdem sie ihre Gemeinschaft gegründet hatten. Die Daughters erhielten auch eine gewisse Unterstützung von der Society, doch es stellte sich bald heraus, dass männliche Homosexuelle mit ganz anderen Problemen konfrontiert waren – ihre sexuelle Handlungen waren unter Strafe gestellt und die sexuelle Freiheit war das Hauptziel der männlichen Homophilenbewegung, während weibliche Homosexuelle sich mehr mit den gesellschaftlichen Konsequenzen eines (unfreiwilligen) Coming Out befassen mussten, insbesondere Verlust der Arbeit, Verlust der Wohnung, falls Kinder vorhanden waren, auch Verlust der Erziehungsberechtigung.(2)

Im Laufe der 1950er Jahre wuchsen die Daughters of Bilitis über San Francisco hinaus, 1959 existierten Ortsverbände in Los Angeles, Chicago, New York City und Rhode Island. In der Zwischenzeit hatten Martin und Lyon das Club-Magazin The Ladder gegründet und waren die ersten Redakteurinnen bis 1962. Beide blieben auch bis ans Ende der 1960er Jahre bei den Daughters aktiv, über die Zeit, in der in der Gemeinschaft Konflikte über die Vorgehensweise – eher still und aufklärerisch oder laut und politisch aktiv – zu vielen Abgängen führten.

Von 1967 an waren beide auch Mitglieder der National Organization for Women, Del Martin wurde die erste offen lesbisch lebende Person in der Leitung der Organisation. Das Paar engagierte sich in seiner ganzen weiteren Lebensspanne in verschiedenen Organisationen für die Rechte und die Gesundheit nicht nur lesbischer Frauen, später auch für die Rechte älterer Menschen: Sie gründeten 1972 den Alice B. Toklas Democratic Club, Del Martin war 1995 Delegierte in der Konferenz zum Thema Altern im Weißen Haus. Sie schrieben auch mehrere Bücher gemeinsam, Del Martin verfasste ein Buch über häusliche Gewalt.

Del Martin und Phyllis Lyon blieben ihr Leben lang ein Paar, doch erst 2004 konnten sie heiraten, nachdem der Bürgermeister von San Francisco die Maßgabe erteilt hatte, Heiratsurkunden auch für gleichgeschlechtliche Paare auszustellen. Der kalifornische Bundesgerichtshof erklärte diese Ehen allerdings wieder für nichtig, und so mussten Martin und Lyon ein weiteres Mal heiraten, als 2008 das gleiche Gericht gleichgeschlechtliche Ehen schließlich doch für legal erklärte. Zwei Monate nach ihrer Hochzeit starb Del Martin 87-jährig an den Komplikationen eines Armbruches.


Quellen: Wiki deutsch | Wiki englisch
außerdem: (2) Making Gay History

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§218!