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33/2020: Gerty Cori, 15. August 1896

frauenfiguren gerty cori
By National Library of Medicine, Images from the History of Medicine, B05353, Public Domain

Gerty Cori kam in Prag als Gerty Radnitz zur Welt; ihr Vater, Otto Radnitz, war ein Chemiker, der eine Methode zur Raffination von Zucker erfunden hatte und nun eine eigene Zuckerfabrik leitete, ihre Mutter, Martha geborene Neustadt, war eine kulturell interessierte Frau, die mit Franz Kafka befreundet war. Gerty und ihre beiden jüngeren Schwestern erhielten zunächst Privatunterricht, bevor sie mit zehn Jahren auf das Lyzeum gingen.

Mit 16 Jahren wusste Gerty, dass sie Medizin studieren wollte, ihr fehlten bis dahin jedoch noch einige schulische Kenntnisse. Um diese einzuholen, lernte sie innerhalb eines Jahres die Inhalte von acht Schuljahren Latein und fünf Schuljahren Physik, Chemie und Mathematik. So bestand sie mit 18 Jahren die Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium an der Deutschen Karl-Ferdinands-Universität Prag.

Im Studium lernte sie Carl Cori kennen. Die beiden verliebten sich und schlossen 1920 gemeinsam – nachdem Carl zwischenzeitlich im Ersten Weltkrieg eingezogen worden war – ihr Medizinstudium ab. Im gleichen Jahr heirateten sie, wofür Gerty vom Judentum zum Katholizismus konvertierte, und zogen nach Wien. Dort arbeitete Gerty als Assistenzärztin im Karolinen-Kinderspital und erforschte die Funktion der Schilddrüse bei der Regulation der Körpertemperatur. Außerdem schrieb sie mehrere Aufsätze zu Blutkrankheiten. Die Lebensumstände nach dem Krieg waren schwierig, oftmals fehlte es an Lebensmitteln, sodass Gerty sogar Augenprobleme entwickelte, die auf einen Vitamin-A-Mangel zurückzuführen waren. Zur gleichen Zeit wurde der Antisemitismus im Land immer offensichtlicher, sodass das Ehepaar Cori 1922 in die USA auswanderte.

Carl fand eine Anstellung beim State Institute for the Study of Malignant Diseases (heute Roswell Park Cancer Institute, Link Englisch), während Gerty zunächst weitere sechs Monate in Wien blieb, weil sie keine Anstellung fand. Sie zog jedoch schließlich nach und arbeitete mit ihrem Mann im Labor, obwohl der Leiter des Insituts sogar drohte, Carl Cori zu entlassen, wenn Gerty nicht aufhörte. Die beiden ließen sich nicht beirren und erforschten gemeinsam, wie Glucose mit Hilfe von Hormonen im menschlichen Körper verstoffwechselt wird. Das Ehepaar veröffentlichte in der Zeit in Roswell insgesamt 50 Aufsätze gemeinsam – wobei die- oder derjenige zuerst als Autor:in genannt wurde, der oder die die meiste Arbeit geleistet hatte – und Gerty Cori veröffentlichte noch elf weitere Schriften als alleinige Autorin.

1928 nahmen die Coris die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Im Folgejahr stellten sie ihre Theorie vor, die ihnen schließlich den Nobelpreis einbringen sollte: den Cori-Zyklus. Dieser beschreibt den biochemischen Kreislauf im menschlichen Körper, mit dem Glucose in den Muskeln zu Lactat umgewandelt wird – Glykolyse genannt – , während gleichzeitig Lactat kurzzeitig in der Leber zu Glucose zurückgebildet wird – Gluconeogenese genannt. Diese Erkenntnis, wie die Verwertung von Zucker in den Muskeln funktioniert, sowie der Rolle der Leber dabei war eine wichtige Grundlage für das Verständnis und somit der Behandlung von Diabetes mellitus.

Diese junge Frau erklärt auf dem Kanal FitfürBiochemie den Cori-Zyklus für halbwegs in die Chemie Eingeweihte

Zwei Jahre, nachdem sie diese Theorie veröffentlicht hatten, verließen sie das Insitut in Roswell. Carl wurden mehrere Stellen ohne Gerty angeboten, eine Position in Buffalo lehnte er ab, weil sie ihm durchaus nicht erlauben wollten, mit seiner Frau zu arbeiten. Gerty wurde sogar ausdrücklich vorgeworfen, sie schade der Karriere ihres Mannes, wenn sie weiter mit ihm arbeite. Schließlich ging das Ehepaar Cori gemeinsam an die Washington University in St. Louis, Missouri, wo ihnen beiden Stellungen angeboten worden waren, allerdings in Gertys Fall in einer niedrigeren Position, mit folgerichtig schlechterer Bezahlung: Sie verdiente als Forschungsassistentin nur ein Zehntel von Carls Gehalt. Arthur Compton, zu dieser Zeit Rektor der Universität, machte für die Coris eine Ausnahme von der Nepotismus-Regel, mit der auch Maria Goeppert-Mayer Schwierigkeiten hatte. Bei ihrer gemeinsamen Arbeit an der Washington University entdeckten Gerty und Carl Cori das Glucose-1-phosphat, eine Form von Glucose, das in vielen Stoffwechselvorgängen eine Rolle spielt und auch nach ihnen Cori-Ester heißt. Sie beschrieben seine Struktur, identifizierten das Enzym, das den Cori-Ester katalysiert und bewiesen, dass Glucose-1-phosphat der erste Schritt in der Umwandlung des Kohlehydrats Glykogen zu Glucose ist, welche im Körper als Energie verwertet werden kann.

Gerty Cori erforschte zur gleichen Zeit auch Glykogenspeicherkrankheiten und identifzierte mindestens vier davon, die jeweils mit individuellen Enyzymdefekten zusammenhängen; die verhältnismäßig harmlose Typ III-Glykogen-Speicherkrankheit heißt nach ihr auch Cori-Krankheit. Sie war die erste Person, die nachwies, dass eine vererbte Krankheit mit einem Enzymdefekt zusammenhängen kann.

Nach 13 Jahren an der Washington University wurde Gerty Cori endlich außerordentliche Professorin und vier Jahre später, 1947, auch volle Professorin. Im gleichen Jahr erfuhr sie, dass sie an Myelosklerose litt, und wenige Monate später wurde ihr gemeinsam mit ihrem Mann und dem argentinischen Physiologen Bernardo Alberto Houssay der Nobelpreis für für Physiologie oder Medizin verliehen. Sie war insgesamt erst die dritte Frau mit einem Nobelpreis – Marie Curie und deren Tochter Irène Joliot-Curie waren die ersten beiden, die diesen Preis für Physik respektive Chemie erhalten hatten. Gerty Cori hingegen war nun die erste Frau, die in der Kategorie Physiologie und Medizin ausgezeichnet wurde.

Im Anschluss an diesen Erfolg wurde sie Fellow der American Academy of Arts and Sciences, als viertes weibliches Mitglied in die National Academy of Sciences gewählt sowie von mehreren anderen Societies aufgenommen, von Harry S. Truman wurde sie zum Ratsmitglied der National Science Foundation ernannt. Nachdem sie jahrzentelang gegen den Widerstand von Entscheidern unbeirrt mit ihrem Mann zusammengearbeitet hatte, wurde ihr nun zwischen 1948 und 1955 die Ehrendoktorwürde an fünf Universitäten verliehen – an der Boston University, am Smith College, an der Yale University, an der Columbia University und an der University of Rochester. Insgesamt gewann sie, zum Teil gemeinsam mit ihrem Mann, sechs hochdotierte wissenschaftliche Preise. Sie arbeitete noch weitere zehn mit immer schlechterer Gesundheit, bis sie am 26. Oktober 1957 an der Myelosklerose verstarb.

1998 wurde Gerty Cori in die National Women’s Hall of Fame aufgenommen. Das Labor an der Washington University, in dem sie gearbeitet hatte, wurde 2004 von der American Chemical Society (deren Mitglied sie war) zur Historic Landmark erklärt. Vier Jahre später brachte der US Postal Service eine 41-cent-Briefmarke ihr zu Ehren heraus. Krater auf dem Mond und der Venus sind nach ihr benannt und noch 2015 taufte das US Department of Energy den Hochleistungrechner im Berkeley Lab nach ihr, der als fünfter in der Liste der 500 leistungsfähigsten Computer rangiert.

Die Website des Nobelpreises führt selbstverständlich ihre Biografie (Link Englisch).

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Ebenfalls diese Woche

12. August 1898: Maria Klenova (Link Englisch)
Als Begründerin der russischen Meeresgeologie erforschte sie beinahe dreißig Jahre lang die Polarregionen und war die erste Frau, die vor Ort in der Antarktis arbeitete.

12. August 1919: Margaret Burbidge
Diese amerikanische Astronomin tauchte bereits im Beitrag über Vera Rubin auf; die erste weibliche Direktorin des Royal Greenwich Observatory forschte zu Quasaren und wie Rubin zur Rotation von Galaxien.

15. August 1892: Kathleen Curtis (Link Englisch)
Die neuseeländische Mykologin begründete die Pflanzenpathologie in ihrer Heimat; ihre Doktorarbeit schrieb sie über Kartoffelkrebs und sie beschrieb 1926 erstmalig einen Bovisten, der endemisch in Tasmanien und Neuseeland auftritt und heute vom Aussterben bedroht ist, den Claustula fischeri (Link Englisch).

26/2020: Maria Goeppert-Mayer, 28. Juni 1906

Maria Goeppert wurde in Katowice, damals Preußen, in eine Familie von Professoren geboren. Als sie 10 Jahre alt war, zog sie mit ihren Eltern nach Göttingen. Dort besuchte sie eine höhere Schule, die speziell Mädchen für ein Universitätsstudium vorbereiten sollte; mit 17, ein Jahr früher als ihre Komiliton:innen, machte sie als eines von drei oder vier Mädchen das Abitur.

Zunächst studierte sie an der Universität Göttingen Mathematik, zu dieser Zeit um 1924 müsste sie auch Emmy Noether dort angetroffen haben. Nach drei Jahren Studium wechselte Goeppert jedoch zur Physik, in der sie nach weiteren drei Jahren ihre Dissertation über die Theorie der Zwei-Photonen-Absorption schrieb. Diese Theorie, dass ein Molekül oder Atom zur gleichen Zeit (innerhalb von 0,1 Femtosekunde) zwei Photonen aufnehmen kann und dabei in einen energetisch angeregten Zustand übergeht, konnte zu dieser Zeit nicht experimentell nachgewiesen werden. Dieses Ereignis ist extrem unwahrscheinlich: Die Absorption eines Photons in einem Molekül oder Atom geschieht in etwa einmal pro Sekunde unter guten Bedingungen, das heißt bei hoher Lichteinstrahlung. Die gleichzeitige Absorption zweier Photonen tritt hingegen unter den gleichen Bedingungen nur alle 10 Millionen Jahre auf. Erst 1961 konnte Goepperts Theorie dank der Erfindung des Lasers nachgewiesen werden, die Einheit, in der die Wahrscheinlichkeit einer Zwei-Photonen-Absorption gemessen wird, heißt ihr zu Ehren GM (Goeppert-Mayer). Ihre Prüfer im Rigorosum waren Max Born, James Franck und Adolf Windaus, alles drei zu diesem Zeitpunkt oder spätere Nobelpreisträger. Eugene Wigner, ebenfalls Nobelpreisträger, bezeichnete ihre Arbeit später als „Meisterwerk der Klarheit und Greifbarkeit“.

Im gleichen Jahr, in dem sie ihren Doktortitel errang, hatte sie auch Joseph Edward Mayer geheiratet, einen Fellow der Rockefeller Foundation und Assistent von James Franck. Mit ihm zog sie nach ihrer Promotion in die USA, wo Mayer als außerordentlicher Professor an der Johns Hopkins University lehrte. Goeppert-Mayer konnte dort keine Anstellung finden, denn die Hochschule hatte strenge Nepotismus-Regeln, die die gleichzeitige Beschäftigung von Ehepaaren untersagten. Diese waren ursprünglich eingerichtet worden, um Gönnerschaft zu unterbinden, doch inzwischen hielten sie hauptsächlich die Ehefrauen der Professoren von beruflicher Tätigkeit auf dem Campus ab. Goeppert-Mayer konnte sich schließlich gegen sehr kleines Gehalt im Fachbereich für Physik an der deutschen Korrespondenz beteiligen, so hatte sie auch Zugang zu den Laboren. In dieser Zeit arbeitete sie mit Karl Herzfeld an seinen Forschungen zur Quantenmechanik, sie unterrichtete auch unentgeltlich und schrieb eine Arbeit über doppelten Betazerfall. Sie kehrte bis 1933 noch dreimal nach Göttingen zurück, unter anderem um dort mit Max Born an einem Artikel für das Handbuch der Physik zu arbeiten. 1933 verloren Born und James Franck aufgrund der Judenverfolgung unter der faschistischen Regierung Deutschlands ihre Stellen an der Göttinger Universität, James Franck folgte seinem ehemaligen Assistenten nach Baltimore.

1937 wurde Mayer allerdings von der Johns Hopkins Universität entlassen, die Gründe dafür sind unklar. Mayer vermutete Misogynie, nämlich dass der Dekan es nicht gerne sähe, wie frei Mayer seiner Frau Zugang zu den Laboren gewährte. Herzfeld stimmte ihm zu, möglicherweise fühle sich aber auch das amerikanische Kollegium von „zu vielen Deutschen“ (das Ehepaar Goeppert-Mayer, Herzfeld und Franck) überrannt. Es soll auch Beschwerden über die Inhalte des Chemie-Unterrichts gegeben haben, den Goeppert-Mayer hielt: Sie spreche zu viel über moderne Physik. Goeppert-Mayer lehrte noch bis 1939 in Baltimore, dann wechselte das Ehepaar gemeinsam an die Columbia University in New York. Joseph Mayer konnte dort als Professor lehren, Maria Goeppert-Mayer bekam hier zwar ein eigenes Büro, doch für ihre Tätigkeit an der Fakultät wiederum kein Gehalt.

An der Columbia University freundete sich Goeppert-Mayer mit dem Chemiker Harold Urey und dem Physiker Enrico Fermi an und schloss sich deren Forschungen an, zu den Valenzelektronen der bis dahin noch unentdeckten transuranischen Elementen. Die Anzahl der Valenzelektronen, das heißt der Elektronen auf der äußersten Schale eines Elements, die an chemischen Verbindungen beteiligt sein können, bestimmen die Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Gruppen des Periodensystems und lassen Vermutungen über ähnliche chemikalische Eigenschaften zu. Basierend auf dem Thomas-Fermi-Modell, das die Elektronenhülle wie eine Gaswolke interpretiert, stellte Goeppert-Mayer die Voraussage auf, dass die Elemente, die im Periodensystem hinter dem Uran folgen müssten, zur Gruppe der Metalle der Seltenen Erden gehören würden. Diese Voraussage sollte sich als wahr herausstellen.

1941 wurde Maria Goeppert-Mayer zur Fellow der American Physical Society und im Dezember dieses Jahres trat sie ihre erste bezahlte Lehrtätigkeit am Sarah Lawrence College an. Nachdem die USA in den Zweiten Weltkrieg eingetreten waren, schloss sie sich im Folgejahr in Teilzeit dem Manhattan-Projekt an. Ihre Aufgabe wurde es, einen Weg zu finden, das Isotop 235U, einen wichtigen Spaltstoff, in natürlichem Uran auszusondern. Dafür untersuchte Goeppert-Mayer die chemischen und thermodynamischen Eigenschaften von Uranhexafluorid (Uran(VI)-fluorid), einer Verbindung von Uran und Fluor. Sie erwog die Möglichkeit, das gewünschte Isotop mit Hilfe einer photochemischen Reaktion aus dem Stoff auszufällen, doch dies war zu dem Zeitpunkt noch nicht praktikabel; auch hier wurde die Erfindung des Lasers notwendig, um Goeppert-Mayers Theorien in die Praxis umzusetzen.

Ihr Freund Edward Teller holte sie auch kurzzeitig ins Team seines Opacity Project, das die Erschaffung einer Superbombe (Link Englisch) anstrebte. Ihr Mann wurde an die Front im Pazifik berufen, und Goeppert-Mayer beschloss, die beiden Kinder in New York zu lassen und mit Teller in Los Alamo am Project Y zu arbeiten.

Nach dem Ende des Krieges wurde Joseph Mayer Professor für Chemie an der University of Chicago, Maria Goeppert-Mayer wurde von der Hochschule als freiwillige außerordentliche Professorin eingestellt. Teller folgte ihr nach Illinois, um die Entwicklung thermonuklearer Waffen voranzutreiben. Als ihr eine Teilzeitstelle am Argonne National Laboratory angeboten wurde, als leitende Physikerin in der Abteilung für theoretische Physik, antwortete sie erstaunlicherweise: „Ich verstehe nichts von Kernphysik!“ Sie trat die Stelle jedoch an. Außerdem programmierte sie den ENIAC des Aberdeen Proving Ground auf eine bestimmte Vorgehensweise für Schnelle Brüter.

Ihre wichtigeste, erfolgreichste Arbeit leistete Goeppert-Mayer trotz dieser vielseitigen Einsätze in den 1940ern. Während sie an der University of Chicago und dem Argonne angestellt war, entwickelte sie ein mathematisches Modell für den Aufbau des Schalenmodells, das sie 1950 veröffentlichte. Sie erklärte, warum eine bestimmte Anzahl Nukleone (Protonen und Neutronen) in Atomkernen besonders häufig vorkamen und besonders stabil sind. Diese Zahlen nannte Eugene Wigner die ‚Magischen Zahlen‚, die Reihe der „stabilen“ Protonen- und Neutronen-Anzahlen lautet 2, 8, 20, 28, 50, 82 und 126. Das Schalenmodell war für die Elektronen-aufenthaltswahrscheinlichkeitsräume des Atoms bereits erfolgreich, doch vom Atomkern bestand zu diesem Zeitpunkt noch ein anderes Modell, welches jedoch nicht die Inseln der Stabilität in den Elementen erklärte. Im Gespräch mit Enrico Fermi stellte dieser Goeppert-Mayer die Frage, ob es einen Hinweis auf Spin-Bahn-Kopplung gäbe – einen Zusammenhang des Spin, also der Eigendrehung eines Teilchens, und seiner Bahn, also seiner Bewegung innerhalb des Atoms, der sich in der Stärke der Wechselwirkung des Teilchens bemerkbar macht. Diese Kopplung war für Elektronen bekannt, doch angestoßen von Fermis Frage stellte Goeppert-Mayer die Theorie auf, dass dieser Effekt auch im Atomkern wirke und konnte so die Bedeutung der ‚magischen Zahlen‘ in der Kernphysik erklären. Sie erläuterte es kurz und anschaulich wie folgt:

Denken Sie an einen Raum voller Walzertänzer:innen. Nehmen wir an, sie durchtanzen den Raum in Kreisen, jeder Kreis umschlossen von einem weiteren Kreis. Nun stellen Sie sich vor, Sie könnten zweimal so viele Tänzer:innen in einem Kreis unterbringen, indem Sie ein Paar mit und das andere Paar entgegen dem Uhrzeigersinn tanzen lassen. Nun bringen Sie noch weitere Variationen ein; alle Paare drehen sich um sich selbst wie Kreisel, während sie durch den Raum kreisen, jedes Paar dreht sich also um sich selbst (twirling) und durch den Raum (circling). Aber nur einige von denen, die gegen den Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen, drehen sich auch im Uhrzeigersinn um sich selbst. Die anderen drehen sich im Uhrzeigersinn um sich selbst, während sie gegen den Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen. Das gleiche ist wahr für die, die im Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen: Einige drehen sich im Uhrzeigersinn um sich selbst, andere dagegen.

Übersetzt nach dem Abschnitt ‚Nuclear shell modell‘ des englischen Wikipediabeitrags

Zum gleichen Schluss waren zeitgleich die Physiker Otto Haxel, Hans D. Jensen und Hans E. Suess in Hamburg gekommen; Goeppert-Mayers Arbeit wurde zur Prüfung im Februar 1949 eingereicht, die der Hamburger Forscher im erst im April. Als Goeppert-Mayer in Juni 1949 die Ankündigung der Ergebnisse ihrer Kollegen las, versuchte sie noch, ihre Veröffentlichung zu verschieben, damit beide Arbeiten nebeneinander erscheinen könnten, doch dies ließ sich nicht mehr einrichten. So wurde zuerst Goeppert-Mayer als die Entdeckerin des Schalenmodells für den Atomkern bekannt. Es entstand jedoch ein gutes kollegiales Verhältnis zwischen Goeppert-Mayer und Jensen und die beiden brachten 1950 gemeinsam ein Buch zu ihrer Theorie heraus.

In den 1950er Jahren wurde Maria Goeppert-Mayer Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der National Academy of Sciences, doch erst 1960 wurde sie endlich vollwertiges Mitglied einer Fakultät, als sie den Lehrstuhl für Physik an der University of California übernahm. Bereits kurz darauf erlitt sie einen Schlaganfall, der sie jedoch nicht von der Arbeit abhalten sollte. 1963 erhielt sie gemeinsam mit Hans D. Jensen eine Hälfte des Nobelpreises für Physik, die andere Hälfte erhielt Eugene Wigner. Goeppert-Mayer war die zweite weibliche Gewinnerin dieses Preises nach Marie Curie, 60 Jahre zuvor. Zu dieser Errungenschaft titelte damals die San Diego Tribune: ‚S.D. Mother Wins Nobel Physics Prize‘ (‚Mutter aus San Diego gewinnt Physik Nobelpreis‘). Hierzu bezog die Nachfolgepublikation The San Diego Union-Tribune im Oktober 2018 Stellung, anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Physik an die dritte Frau überhaupt, Donna Strickland, 55 Jahre nach Goeppert-Mayer.

Zwei Jahre später wurde sie zum Fellow der American Academy of Arts and Sciences. 1971 erlitt sie einen Schlaganfall, in dessen Folge sie ein Jahr lang im Koma lag, bis sie am 20. Februar 1972 verstarb. Die American Physical Society rief 1986 den Maria Goeppert-Mayer Award ins Leben, der jugnen Physikerinnen verliehen wird. Gewinnerinnen müssen einen Doktortitel innehaben, sie erhalten einen Geldbetrag und die Möglichkeit, an vier größeren Institutionen Vorträge über ihre Arbeit zu halten. Auch das Argonne National Laboratory verleiht jedes Jahr im Namen Goeppert-Mayers einen Preis an herausragende Wissenschaftlerinnen, ihre letzte Universität in Kalifornien hält ein jährliches Symposium in ihrem Namen, in dem Wissenschaftlerinnen zusammenkommen. Ein Krater auf der Venus von 35 Kilometer Durchmesser ist nach Maria Goeppert-Mayer benannt.

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Ebenfalls diese Woche

22. Juni 1939: Ada Yonath
Über diese Chemikerin schrieb ich im Juni 2018.

23. Juni 1871: Jantine Tammes
Die Leidtragende des Matilda-Effektes trug entscheidende Erkenntnisse zur Pflanzengenetik bei, die jedoch ihrem männlichen Kollegen zugeschrieben wurden.

23. Juni 1951: Maria Klawe
Die amerikanische Informatikerin leitet seit 2006 als erste Frau das Harvey Mudd College in Kalifornien.

26. Juni 1862: Ella Church Strobell (Link Englisch)
Gemeinsam mit ihrer Kollegin Katharine Foot trug die Zellbiologin mit Fotografien zum besseren Verständnis der Chromosomen und ihrer Funktion bei.

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