Schlagwort: grenzgängerinnen

KW 41/2013: Helene Deutsch, 9. Oktober 1884

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Helene Deutsch war zunächst Patientin bei Freud, weil sie Konflikte in sich wahrnahm zwischen der Rolle der Frau und der Rolle der Mutter. In einem Geniestreich, den man zu diesen Zeiten nicht erwarten durfte, entließ Freud sie aus der Analyse, weil er keine Neurose feststellen konnte. (Will sagen: Völlig normal.)

Im Anschluss wurde sie seine Schülerin und Assistentin, die sich erstmals in der Psychoanalyse vornehmlich und ausschließlich mit der Psyche der Frau befasste. Nach ihrer Flucht in die USA aufgrund des Zweiten Weltkrieges/Dritten Reichs wurde sie eigenständige und erfolgreiche Psychoanalytikerin.

Während sie vom Feminismus wohl eher mit Missfallen betrachtet wurde, weil sie sich unweigerlich aus der patriarchalisch-chauvinistischen Gedankenwelt Freuds entwickelte, ist doch nicht zu vergessen, dass sie sich als erste Frau allein und mit einer gewissen Innenkenntnis mit den Besonderheiten der weiblichen Psyche, insbesondere der mütterlichen, befasste. Überhaupt anzuerkennen, dass Frauen nicht per se durch Schwangerschaft und Geburt in einen quasi-animalischen Mutter-Zustand verfallen (den es im Tierreich ja auch nicht wirklich gibt) und in der Erwartung an die elterliche wie ehefrauliche Pflicht kein Dilemma, sondern reines Glück empfinden, ist doch schon ein großer Schritt, für Anfang des 20. Jahrhundert.

KW 40/2013: Ida Rubinstein, 5. Oktober 1885

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Wenn Igor Strawinski, ein Mann, der ungeachtet seiner kompositionellen Erfolge offenbar ein chauvinistisches Arschloch war, sie als „die dämlichste Frau der Kunstwelt“ bezeichnet, ist das eigentlich eine Adelung, etwas, was eine Frau wie Ida Rubinstein wie einen Orden am Revers tragen sollte.

Sie war keine ausgebildete Tänzerin, aber sie wurde in die Ballets Russes aufgenommen. Sie war groß und schlank und offenbar – typisch für eine Frau im frühen 20. Jahrhundert – künstlerisch und sexuell selbstbewusst. Sie war höchst gebildet und gleichzeitig die erste Frau, etwa 20 Jahre vor der skandalösen Josephine Baker, die fast nackt auf der Bühne unverhüllt erotisch tanzte.

Ida Rubinstein war die Tänzerin, für die Ravel den Boléro schrieb. Meine Lieblingsanekdote aus dem Wiki-Artikel: Wie Ravel auf den schockierten Ausruf einer Zuschauerin „Hilfe, ein Verrückter!“ erwiderte: „Die hat’s kapiert.“ So gut schreiben heute nicht mal mehr Drehbuchautoren.

Wer im Boléro nicht eine eindeutig sexuelle Komponente entdeckt, hat möglicherweise keinen Unterleib. Um es aber ganz deutlich zu zeigen, habe ich mich mal nach Performances des Boléro umgeschaut und bin dabei auf eine gestoßen von einer Ballerina (heißt das so oder ist das politisch inkorrekt?), die nicht nur sehr beeindruckend in ihrem Körperausdruck ist, sondern sogar, wie mir scheint, Ähnlichkeit mit Ida Rubinstein hat. Ihre Interpretation des Boléro – eine Choreographie für eine Frau und 20 (!) Männer – hat so viel Lebensenergie, Sex und Schwung. Wie ihr strenger Gesichtsausdruck höchster Konzentration sich in den letzten Minuten in einem befreiten Lachen voller Lust am Körper auflöst, das ist Glück.

Ravel Bolero Maya Plisetskaya

KW 37/2013: Elsa Schiaparelli, 10. September 1890

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Ein reiner Lustbeitrag – als Grenzgängerin kann ich Elsa Schiaparelli höchstens geltend machen für ihren Flirt mit und ihren Einfluss auf die Kunst des Dadaismus.

So hat sie unter anderem mit Dalí an Kleidern gearbeitet, die in die Modegeschichte eingingen:

Elsa Schiaparelli Designs Google-Ergebnisse

Warum ich solche Lust auf sie hatte? Weil sie ihren Eintritt in die Modewelt hatte mit einem selbstgestrickten Pullover. Das legt sie mir näher ans Herz als alle anderen Kandidatinnen diese Woche, etwa Irène Joliot-Curie oder Laura Secord. Das hier ist der Pullover:

Else Schiaparelli Bowknot Sweater Google-Ergebnisse

Inspiriert davon habe ich sogar mal ein Wollkleid für meine Tochter (das leider nur sehr wenig getragen wurde):

Eigenes Design inspiriert von Elsa Schiaparelli (gestrickt)
Eigenes Design inspiriert von Elsa Schiaparelli (gestrickt)

KW 34/2013: Christine Chubbuck, 24. August 1944

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Während für Nachrichtenmedien – im Fernsehen besonders – gilt „bad news are good news“, sich also Tragödien, Dramen und spektakuläres Scheitern als Inhalte besonders gut verkaufen lassen, gehört zu der Faszination des Zuschauers auch ein gewisses Gefühl der Sicherheit; zumindest beim Betrachten von Kriegsbildern oder Verbrechensszenarien ist dem Zuschauer der TV-Nachrichten hierzulande seine physische Unversehrtheit gewiss. (Die beständige und geschürte Unsicherheit einer wirtschaftlichen Sicherheit will ich bei dieser These mal außen vor lassen.)

Das heißt: Nachrichten lassen sich betrachten wie Unterhaltungsmedien, mit dem Thrill, dass es sich um „wahre Begebenheiten“ handelt. Und selbst in den geschmacklosesten Fällen bleibt ein Unterschied zum snuff, zur ungekürzten und auf die niedersten emotionalen Reaktionen des Publikums abzielenden Darstellung real ausgeübter Gewalt. Man sieht Lebende, Verletzte und Tote – doch der Moment des Sterbens gehört (dankenswerterweise) in der westlichen Welt konsequent in die innerste Privatsphäre der Menschen.

Christine Chubbuck übertrat willentlich und überlegt diese Grenze. Ihre Gründe dafür sind zu suchen in einer unergründlichen Mischung aus Depression und Frustration mit der Medienwelt, in der sie arbeitete. Persönliche Schwierigkeiten, einen Partner zu finden – gar einen Vater für zukünftige Kinder, denn nach einer Eierstockoperation war ihr die zeitliche Dringlichkeit vor Augen geführt worden – sowie berufliche Stagnation führten in Kombination mit ihrer exponierten Tätigkeit als Talkshow-Moderatorin zu einem einzigartigen Moment amerikanischer Fernsehgeschichte, als Christine Chubbuck sich vor laufender Kamera in den Hinterkopf schoss.

Mit ihrer Tat überschritt sie nicht nur die Grenze vom Privaten ins die Öffentlichkeit. Die Methode ihres Freitodes ist auch ungewöhnlich für eine Frau, die statistisch gesehen eher zu „milden“ Mitteln wie Selbstvergiftung tendieren. Ein ausführlicher zeitgenössischer Artikel der Washington Post (vom 4. August 1974) gibt tiefere Einblicke in die möglichen Gründe für ihre Tat.

Zwei Jahre später gewann Sidney Lumets Network 4 Oscars, in welchem sich Peter Finchs Rolle angekündigt und live vor der Kamera das Leben nimmt. Die Aussagen damaliger Kollegen von Christine Chubbuck in einem 10-minütigen „Boulevard of Broken Dreams“-Beitrag lassen einen dann auch noch mal ganz ernsthaft an Will Ferrells grandiosen Anchorman denken.

KW 32/2013: Phoolan Devi, 10. August 1963

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Phoolan Devi ist eine dieser Frauen, deren Existenz mich zugleich in Erstaunen wie in Begeisterung versetzt, denn: Wie kommen sie zu ihrem Mut, zu ihrem Feuer?

Phoolan Devi, geboren auf dem indischen Land, wo die Traditionen noch immer am stärksten gelebt werden. Mit Sicherheit nicht aufgezogen im Sinne der europäischen Frauenemanzipation, im Gegenteil: Als Mädchen wird sie wohl eher beständig dem Gefühl ausgesetzt gewesen sein, nicht nur überflüssig, sondern ihrer Familie eine Last zu sein – was sie nur durch harte körperliche Arbeit und eine erfolgreiche Verheiratung wiedergutmachen könnte. Wo holt eine Person entgegen dieser expliziten Unterdrückung den Widerspruchsgeist, die Renitenz her, die ihr auf dem Bild geradezu aus den Augen sprüht?

Zugegeben, meine Kenntnis des Lebens auf dem Land in Indien beschränkt sich auf das Jugendbuch „Wie Spucke im Sand“ von Klaus Kordon (für das ich ausdrücklich eine Leseempfehlung aussprechen möchte). Was man jedoch in letzter Zeit aus Indien vernommen hat, rückt dieses Bild nicht gerade in eine positive Richtung. Ich bin außerdem ziemlich sicher, dass Phoolan Devi das Vorbild für die Figur der Meera in Kordons Buch ist.

Die Erkenntnis, dass auch unter widrigen Umständen das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Freiheit erblühen kann, bestätigt mich in der Überzeugung, dass es keine sprachlichen Begriffe für die elementaren Dinge im Leben braucht, damit Menschen einen Drang zu ihnen entwickeln können. In einer Diskussion vor Jahren in einem Englisch-Seminar – zu Orwells 1984 – konnte ich diese Intuition nicht mit Fakten belegen: Auch wenn die Menschen kein Wort für Freiheit haben, sehnen sie sich danach. Auch wenn Mädchen nicht dazu erzogen werden, für sich selbst einzustehen: Sie werden es unter den entsprechenden Umständen gegen alle Wahrscheinlichkeit dennoch tun.

KW 30/2013: Jeanne Baret, 27. Juli 1740

Jeanne Barret Madlla Bare

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Geschichten von Frauen, die sich in alten Zeiten als Männer verkleidet haben und so erfolgreich eine Karriere verfolgten, gibt es einige. Sie klingen immer alle irgendwie nach Märchen; heutzutage sind solche Geschichten meist nur Anlass für günstig produzierte Fernsehfilme, alte Witze über die achso typischen männlichen und weiblichen Verhaltensweisen aufzuwärmen, um am Ende doch wieder jeden glücklich in seiner Normrolle zu platzieren.

Jeanne Baret verkleidete sich als Mann, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ging als erste Frau in Männermontur auf Weltreise. Keiner der Mitreisenden – außer ihrem Dienstherren Commerçon, der wohl sowieso ihr Liebhaber war – bemerkte es. Stattdessen brauchte es die Tahitianer, um zu aufzudecken, dass es sich um eine Frau handelte. Jeanne Baret unterstützte ihren Dienstherren bei seinen Expeditionen und Forschungen und ersetzte ihn später sogar im Krankheitsfall. Sie leistete alle Arbeit, als sei sie der Mann, als der sie sich verkleidete.

Wie üblich beim Matilda-Effekt (über den ich im Artikel über Rosalind Franklin erfuhr) wurde ihr Beitrag zu Geschichte der Naturforschung lange und vollständig unterschlagen. Gottseidank finden sich immer noch unbenannte Spezies auf unserem Planeten, sodass 2012 endlich eine Pflanze nach ihr benannt wurde.

Bild: By Cristoforo Dall’Acqua (1734-1787) [Public domain or Public domain], via Wikimedia Commons

KW 29/2013: Assata Shakur, 16. Juli 1947

Assata Shakur FBI

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In den 1960er Jahren war Assata Shakur Mitglied der Black Panthers und geriet so ins Fadenkreuz des FBI. Sie war eine zeitlang Verdächtige in so ziemlich jedem Bankraub oder Verbrechen, an dem eine schwarze Frau beteiligt war. Wie könnte es anders sein, wurde ihr die Rolle der „Mutter“ und treibenden Kraft zugeschrieben, als sie in einer Gruppe mit mehreren Männern politisch und/oder kriminiell aktiv war (denn wenn eine einzelne Frau mit mehreren Männern handelt, kann sie nur entweder eine hörige Sklavin oder die bösartige Mutter sein, die alle kontrolliert, sie kann niemals einfach nur eine Person von mehreren ohne exponierte Position sein).

Nachdem sie wegen Polizistenmord verhaftet und verurteilt worden war, wurde sie 1973 aus dem Gefängnis befreit und ging nach Kuba ins Exil.
Erst im Mai diesen Jahres wurde sie vom FBI auf die Liste der meistgesuchten Terroristen gesetzt und ist damit die erste Frau auf dieser Fahndungsliste.

Bild: By U.S. Government (FBI; reported on The Guardian) [Public domain], via Wikimedia Commons

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