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45/2020: Suzanne Comhair-Sylvain, 6. November 1898

Suzanne Comhaire-Sylvain (Link Englisch) kam in Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis, als Tochter des haitianischen Dichters, Anwalts und Diplomaten Georges Sylvain (Link Englisch) und dessen Frau zur Welt. Sie studierte in ihrer Geburtstadt und Kingston auf Jamaika, bevor sie in Paris ihren BSc und ihren Doktortitel in Anthropologie machte. Damit war sie die erste weibliche Anthropologin haitianischer Abstammung.

Ihr Interesse galt der haitianischen Folklore sowie der Rolle und sozialen Situation der Frau in Haiti und Afrika. Vor allem aber forschte sie zur Herkunft des haitianischen Kreol, eine Kreolsprache, die durch den Kontakt der afrikanischen Sklaven mit französischen Siedlern entstand. Das haitianische Kreol besteht aus zahlreichen französischen Vokabeln aus dem 18. Jahrhundert sowie der Niger-Kongo-Sprachen, weist aber auch Einflüsse des Spanischen, Portugiesischen, Englischen und west-afrikanischer Sprachen auf (hier lohnt sich bei Interesse auch der englische Wikipedia-Beitrag). Einen kleinen Einblick, wie haitianisches Kreol klingt, bietet der kurze Clip unten. Die Gesprächsrunde zur Geschichte und Gegenwart der Sprache klingt auch spannend.

Erste Lektionen zum Erlernen des haitianischen Kreol von HaitiHub
Eine Gesprächsrunde haitianischer Stimmen zur Geschichte und Gegenwart des Kreol

Comhaire-Sylvains Forschungen wurden wenig beachtet, da zu dieser Zeit – und auch heute noch! – Misch-Sprachen nicht allgemein als Sprachen anerkannt wurden und werden. (Dabei zeigen gerade diese jüngeren Sprachen so wundervoll das natürliche Streben nach einer Grammatik auf, etwa wie sich aus Pidgin-Sprachen, die auf das Wesentliche reduziert sind, in zweiter Generation die komplexeren Kreol-Sprachen entwickeln!)

Der polnische Sozialanthropologe Bronisław Malinowski jedoch wurde über ihre Arbeit auf Comhaire-Sylvain aufmerksam und lud sie zu sich nach London ein. Dort wurde sie seine Forschungsassistentin und besuchte zugleich weitere Kurse an der London University, später an der London School of Economics. Außerdem recherchierte sie sehr erfolgreich zu ihrem Thema in den Archiven des British Museum und schrieb daraufhin ihr Hauptwerk zu den afrikanischen Wurzeln des haitianischen Kreol (vermutlich 1953: ‚Haitian Creole: grammar, texts, vocabulary.‘).

In ihrem weiteren Leben betrieb sie Feldforschung auf Haiti, im Kongo, in Togo und Nigeria. Sie heiratete Jean Comhaire (daher der Doppelname), den belgischen Leiter des Fachbereichs für Anthropologie an der University of Nigeria in Nsukka, und leitete mit ihm eine UNESCO-Mission auf Haiti.

Suzanne Comhaire-Sylvain starb am 20. Juni 1975 in Nigeria an den Folgen eines Autounfalls.

Die Familie Sylvain ist voller wichtiger haitianischer Persönlichkeiten. Ihr Vater Georges war ein Aktivist und Symbol der Auflehnung gegen die amerikanische Besatzung Haitis, sein Bruder, Suzannes Onkel, Benito Sylvain (Link Englisch) war neben seiner journalistischen Tätigkeit ebenfalls Anwalt udn Diplomat, wie Georges, war 1900 an der Organisation des ersten Pan-Afrikanischen Kongress beteiligt und gilt mithin als einer der Mitbegründer des Panafrikanismus. Suzannes Schwester Yvonne Sylvain (Link Englisch) war die erste weibliche Ärztin haitianischer Abstammung, die erste Gynäkologin Haitis und Mitglied der Ligue Féminine d’Action Sociale (Link Englisch), die die andere Schwester, Soziologin Madeleine Sylvain-Bouchereau (Link Englisch) mitgegründet hatte.

Sämtliche Arbeiten Suzanne Comhaire-Sylvains wurden bis 2014 von den Bibliotheken der Stanford University katalogisiert und öffentlich zugänglich gemacht.

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Ebenfalls diese Woche

4. November 1942: Patricia Bath (Link Englisch)
Als erste WoC/afroamerikanische Frau war sie Assistenzärztin der Ophthalmologie an der New York University sowie Chirurgin am UCLA Medical Center, außerdem die erste Ärztin of Colour mit einem medizinischen Patent. Sie war Pionierin der Laserchirurgie bei Katarakten (CN Bilder), hielt fünf Patente inne und gründete das Institute for the Prevention of Blindness in Washington, D.C.

6. November 1988: Alexandra Elbakyan
Die kasachische Programmiererin startete 2011 die Schattenbibliothek Sci-Hub, um wissenschaftliche Texte auch wirtschaftlich benachteiligten Studierenden zugänglich zu machen; dies allerdings unter Verletzung des Urheberrechtes.

frauenfiguren zombie marie curie xkcd Person: 'My teacher always told me that if I applied myself, I could become the next Marie Curie' MC: 'You know, I wish they'd get over me.' P: 'Zombie Marie Curie!' MC: 'Not that I don't deserve it. These two Nobels ain't decorative. But I make a sorry role model if girls just see me over and over as the one token lady scientist. Lise Meitner figured out that nuclear fission was happening, while her colleague Otto Hahn was staring blankly at their data in confusion, and proved Enrico Fermi wrong in the process. Enrico and Otto both got Nobel prizes. Lise got a National Women's Press Club award. They finally named an element after her, but not until 60 years later. Emmy Noether fought past her victorian-era finishing-school upbringing, pursued mathematics by auditing classes, and, after finally getting a PhD, was permitted to teach only as an unpaid lecturer (often under male colleagues' names).' P: 'Was she as good as them?' MC: 'She revolutionized abstract algebra, filled gaps in relativity, and found what some call the most beautiful, deepest result in theoretical physics.' P: 'Oh.' MC: 'But you don't become great by trying to be great. You become great by wanting to do something, and then doing it so hard that you become great in the process. So don't try to be the next me, Noether, or Meitner. Just remember that if you want to do this stuff, you're not alone.' P: 'Thanks.' MC: 'Also, avoid Radium. Turns out it kills you.' P: 'I'll try.'
https://xkcd.com/

7. November 1867: Marie Curie
Mit Sicherheit eine der meist genannten und verlinkten Wissenschaftlerinnen auf diesem Blog und, wie es ein Freund vor kurzem nannte, mein ‚white whale‘ (quasi mein Moby Dick). Ich werde auf diesem Blog wohl niemals einen Beitrag nur über sie verfassen, aus zweierlei Gründen: Zum einen ist ihre Biografie und Material zu ihr massiv, also viel zu lesen und unmöglich für sinnvoll zusammenzufassen. Und zum zweiten: Ihr kennt sie alle schon. Wozu sollte ich auf sie aufmerksam machen?
In einem meiner Lieblingscomics mit ihr von xkcd tritt sie als Zombie auf und lässt Wahrheitsbomben fallen, an die auch ich mich mit diesem Blog halte.

7. November 1878: Lise Meitner
48 Mal wurde sie von männlichen Kollegen für den Nobelpreis vorgeschlagen, 29 Mal davon für Physik, 19 Mal für Chemie; sechsmal allein von Max Planck, mehrfach von James Franck, Max Born und Niels Bohr, auch ihr geschätzter Kollege Otto Hahn schlug sie einmal vor. Dass sie diese Auszeichnung trotz ihrer oftmals gar nicht oder schlecht bezahlten, bahnbrechenden Arbeit auf dem Gebiet der Kernphysik niemals erhielt, macht sie zu einem prominenten, mustergültigen Opfer des Matilda-Effekts.

7. November 1939: Barbara Liskov
Über diese Mathematikerin und Programmiererin schrieb ich 2019 zu ihrem runden Geburtstag.

26/2020: Maria Goeppert-Mayer, 28. Juni 1906

Maria Goeppert wurde in Katowice, damals Preußen, in eine Familie von Professoren geboren. Als sie 10 Jahre alt war, zog sie mit ihren Eltern nach Göttingen. Dort besuchte sie eine höhere Schule, die speziell Mädchen für ein Universitätsstudium vorbereiten sollte; mit 17, ein Jahr früher als ihre Komiliton:innen, machte sie als eines von drei oder vier Mädchen das Abitur.

Zunächst studierte sie an der Universität Göttingen Mathematik, zu dieser Zeit um 1924 müsste sie auch Emmy Noether dort angetroffen haben. Nach drei Jahren Studium wechselte Goeppert jedoch zur Physik, in der sie nach weiteren drei Jahren ihre Dissertation über die Theorie der Zwei-Photonen-Absorption schrieb. Diese Theorie, dass ein Molekül oder Atom zur gleichen Zeit (innerhalb von 0,1 Femtosekunde) zwei Photonen aufnehmen kann und dabei in einen energetisch angeregten Zustand übergeht, konnte zu dieser Zeit nicht experimentell nachgewiesen werden. Dieses Ereignis ist extrem unwahrscheinlich: Die Absorption eines Photons in einem Molekül oder Atom geschieht in etwa einmal pro Sekunde unter guten Bedingungen, das heißt bei hoher Lichteinstrahlung. Die gleichzeitige Absorption zweier Photonen tritt hingegen unter den gleichen Bedingungen nur alle 10 Millionen Jahre auf. Erst 1961 konnte Goepperts Theorie dank der Erfindung des Lasers nachgewiesen werden, die Einheit, in der die Wahrscheinlichkeit einer Zwei-Photonen-Absorption gemessen wird, heißt ihr zu Ehren GM (Goeppert-Mayer). Ihre Prüfer im Rigorosum waren Max Born, James Franck und Adolf Windaus, alles drei zu diesem Zeitpunkt oder spätere Nobelpreisträger. Eugene Wigner, ebenfalls Nobelpreisträger, bezeichnete ihre Arbeit später als „Meisterwerk der Klarheit und Greifbarkeit“.

Im gleichen Jahr, in dem sie ihren Doktortitel errang, hatte sie auch Joseph Edward Mayer geheiratet, einen Fellow der Rockefeller Foundation und Assistent von James Franck. Mit ihm zog sie nach ihrer Promotion in die USA, wo Mayer als außerordentlicher Professor an der Johns Hopkins University lehrte. Goeppert-Mayer konnte dort keine Anstellung finden, denn die Hochschule hatte strenge Nepotismus-Regeln, die die gleichzeitige Beschäftigung von Ehepaaren untersagten. Diese waren ursprünglich eingerichtet worden, um Gönnerschaft zu unterbinden, doch inzwischen hielten sie hauptsächlich die Ehefrauen der Professoren von beruflicher Tätigkeit auf dem Campus ab. Goeppert-Mayer konnte sich schließlich gegen sehr kleines Gehalt im Fachbereich für Physik an der deutschen Korrespondenz beteiligen, so hatte sie auch Zugang zu den Laboren. In dieser Zeit arbeitete sie mit Karl Herzfeld an seinen Forschungen zur Quantenmechanik, sie unterrichtete auch unentgeltlich und schrieb eine Arbeit über doppelten Betazerfall. Sie kehrte bis 1933 noch dreimal nach Göttingen zurück, unter anderem um dort mit Max Born an einem Artikel für das Handbuch der Physik zu arbeiten. 1933 verloren Born und James Franck aufgrund der Judenverfolgung unter der faschistischen Regierung Deutschlands ihre Stellen an der Göttinger Universität, James Franck folgte seinem ehemaligen Assistenten nach Baltimore.

1937 wurde Mayer allerdings von der Johns Hopkins Universität entlassen, die Gründe dafür sind unklar. Mayer vermutete Misogynie, nämlich dass der Dekan es nicht gerne sähe, wie frei Mayer seiner Frau Zugang zu den Laboren gewährte. Herzfeld stimmte ihm zu, möglicherweise fühle sich aber auch das amerikanische Kollegium von „zu vielen Deutschen“ (das Ehepaar Goeppert-Mayer, Herzfeld und Franck) überrannt. Es soll auch Beschwerden über die Inhalte des Chemie-Unterrichts gegeben haben, den Goeppert-Mayer hielt: Sie spreche zu viel über moderne Physik. Goeppert-Mayer lehrte noch bis 1939 in Baltimore, dann wechselte das Ehepaar gemeinsam an die Columbia University in New York. Joseph Mayer konnte dort als Professor lehren, Maria Goeppert-Mayer bekam hier zwar ein eigenes Büro, doch für ihre Tätigkeit an der Fakultät wiederum kein Gehalt.

An der Columbia University freundete sich Goeppert-Mayer mit dem Chemiker Harold Urey und dem Physiker Enrico Fermi an und schloss sich deren Forschungen an, zu den Valenzelektronen der bis dahin noch unentdeckten transuranischen Elementen. Die Anzahl der Valenzelektronen, das heißt der Elektronen auf der äußersten Schale eines Elements, die an chemischen Verbindungen beteiligt sein können, bestimmen die Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Gruppen des Periodensystems und lassen Vermutungen über ähnliche chemikalische Eigenschaften zu. Basierend auf dem Thomas-Fermi-Modell, das die Elektronenhülle wie eine Gaswolke interpretiert, stellte Goeppert-Mayer die Voraussage auf, dass die Elemente, die im Periodensystem hinter dem Uran folgen müssten, zur Gruppe der Metalle der Seltenen Erden gehören würden. Diese Voraussage sollte sich als wahr herausstellen.

1941 wurde Maria Goeppert-Mayer zur Fellow der American Physical Society und im Dezember dieses Jahres trat sie ihre erste bezahlte Lehrtätigkeit am Sarah Lawrence College an. Nachdem die USA in den Zweiten Weltkrieg eingetreten waren, schloss sie sich im Folgejahr in Teilzeit dem Manhattan-Projekt an. Ihre Aufgabe wurde es, einen Weg zu finden, das Isotop 235U, einen wichtigen Spaltstoff, in natürlichem Uran auszusondern. Dafür untersuchte Goeppert-Mayer die chemischen und thermodynamischen Eigenschaften von Uranhexafluorid (Uran(VI)-fluorid), einer Verbindung von Uran und Fluor. Sie erwog die Möglichkeit, das gewünschte Isotop mit Hilfe einer photochemischen Reaktion aus dem Stoff auszufällen, doch dies war zu dem Zeitpunkt noch nicht praktikabel; auch hier wurde die Erfindung des Lasers notwendig, um Goeppert-Mayers Theorien in die Praxis umzusetzen.

Ihr Freund Edward Teller holte sie auch kurzzeitig ins Team seines Opacity Project, das die Erschaffung einer Superbombe (Link Englisch) anstrebte. Ihr Mann wurde an die Front im Pazifik berufen, und Goeppert-Mayer beschloss, die beiden Kinder in New York zu lassen und mit Teller in Los Alamo am Project Y zu arbeiten.

Nach dem Ende des Krieges wurde Joseph Mayer Professor für Chemie an der University of Chicago, Maria Goeppert-Mayer wurde von der Hochschule als freiwillige außerordentliche Professorin eingestellt. Teller folgte ihr nach Illinois, um die Entwicklung thermonuklearer Waffen voranzutreiben. Als ihr eine Teilzeitstelle am Argonne National Laboratory angeboten wurde, als leitende Physikerin in der Abteilung für theoretische Physik, antwortete sie erstaunlicherweise: „Ich verstehe nichts von Kernphysik!“ Sie trat die Stelle jedoch an. Außerdem programmierte sie den ENIAC des Aberdeen Proving Ground auf eine bestimmte Vorgehensweise für Schnelle Brüter.

Ihre wichtigeste, erfolgreichste Arbeit leistete Goeppert-Mayer trotz dieser vielseitigen Einsätze in den 1940ern. Während sie an der University of Chicago und dem Argonne angestellt war, entwickelte sie ein mathematisches Modell für den Aufbau des Schalenmodells, das sie 1950 veröffentlichte. Sie erklärte, warum eine bestimmte Anzahl Nukleone (Protonen und Neutronen) in Atomkernen besonders häufig vorkamen und besonders stabil sind. Diese Zahlen nannte Eugene Wigner die ‚Magischen Zahlen‚, die Reihe der „stabilen“ Protonen- und Neutronen-Anzahlen lautet 2, 8, 20, 28, 50, 82 und 126. Das Schalenmodell war für die Elektronen-aufenthaltswahrscheinlichkeitsräume des Atoms bereits erfolgreich, doch vom Atomkern bestand zu diesem Zeitpunkt noch ein anderes Modell, welches jedoch nicht die Inseln der Stabilität in den Elementen erklärte. Im Gespräch mit Enrico Fermi stellte dieser Goeppert-Mayer die Frage, ob es einen Hinweis auf Spin-Bahn-Kopplung gäbe – einen Zusammenhang des Spin, also der Eigendrehung eines Teilchens, und seiner Bahn, also seiner Bewegung innerhalb des Atoms, der sich in der Stärke der Wechselwirkung des Teilchens bemerkbar macht. Diese Kopplung war für Elektronen bekannt, doch angestoßen von Fermis Frage stellte Goeppert-Mayer die Theorie auf, dass dieser Effekt auch im Atomkern wirke und konnte so die Bedeutung der ‚magischen Zahlen‘ in der Kernphysik erklären. Sie erläuterte es kurz und anschaulich wie folgt:

Denken Sie an einen Raum voller Walzertänzer:innen. Nehmen wir an, sie durchtanzen den Raum in Kreisen, jeder Kreis umschlossen von einem weiteren Kreis. Nun stellen Sie sich vor, Sie könnten zweimal so viele Tänzer:innen in einem Kreis unterbringen, indem Sie ein Paar mit und das andere Paar entgegen dem Uhrzeigersinn tanzen lassen. Nun bringen Sie noch weitere Variationen ein; alle Paare drehen sich um sich selbst wie Kreisel, während sie durch den Raum kreisen, jedes Paar dreht sich also um sich selbst (twirling) und durch den Raum (circling). Aber nur einige von denen, die gegen den Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen, drehen sich auch im Uhrzeigersinn um sich selbst. Die anderen drehen sich im Uhrzeigersinn um sich selbst, während sie gegen den Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen. Das gleiche ist wahr für die, die im Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen: Einige drehen sich im Uhrzeigersinn um sich selbst, andere dagegen.

Übersetzt nach dem Abschnitt ‚Nuclear shell modell‘ des englischen Wikipediabeitrags

Zum gleichen Schluss waren zeitgleich die Physiker Otto Haxel, Hans D. Jensen und Hans E. Suess in Hamburg gekommen; Goeppert-Mayers Arbeit wurde zur Prüfung im Februar 1949 eingereicht, die der Hamburger Forscher im erst im April. Als Goeppert-Mayer in Juni 1949 die Ankündigung der Ergebnisse ihrer Kollegen las, versuchte sie noch, ihre Veröffentlichung zu verschieben, damit beide Arbeiten nebeneinander erscheinen könnten, doch dies ließ sich nicht mehr einrichten. So wurde zuerst Goeppert-Mayer als die Entdeckerin des Schalenmodells für den Atomkern bekannt. Es entstand jedoch ein gutes kollegiales Verhältnis zwischen Goeppert-Mayer und Jensen und die beiden brachten 1950 gemeinsam ein Buch zu ihrer Theorie heraus.

In den 1950er Jahren wurde Maria Goeppert-Mayer Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der National Academy of Sciences, doch erst 1960 wurde sie endlich vollwertiges Mitglied einer Fakultät, als sie den Lehrstuhl für Physik an der University of California übernahm. Bereits kurz darauf erlitt sie einen Schlaganfall, der sie jedoch nicht von der Arbeit abhalten sollte. 1963 erhielt sie gemeinsam mit Hans D. Jensen eine Hälfte des Nobelpreises für Physik, die andere Hälfte erhielt Eugene Wigner. Goeppert-Mayer war die zweite weibliche Gewinnerin dieses Preises nach Marie Curie, 60 Jahre zuvor. Zu dieser Errungenschaft titelte damals die San Diego Tribune: ‚S.D. Mother Wins Nobel Physics Prize‘ (‚Mutter aus San Diego gewinnt Physik Nobelpreis‘). Hierzu bezog die Nachfolgepublikation The San Diego Union-Tribune im Oktober 2018 Stellung, anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Physik an die dritte Frau überhaupt, Donna Strickland, 55 Jahre nach Goeppert-Mayer.

Zwei Jahre später wurde sie zum Fellow der American Academy of Arts and Sciences. 1971 erlitt sie einen Schlaganfall, in dessen Folge sie ein Jahr lang im Koma lag, bis sie am 20. Februar 1972 verstarb. Die American Physical Society rief 1986 den Maria Goeppert-Mayer Award ins Leben, der jugnen Physikerinnen verliehen wird. Gewinnerinnen müssen einen Doktortitel innehaben, sie erhalten einen Geldbetrag und die Möglichkeit, an vier größeren Institutionen Vorträge über ihre Arbeit zu halten. Auch das Argonne National Laboratory verleiht jedes Jahr im Namen Goeppert-Mayers einen Preis an herausragende Wissenschaftlerinnen, ihre letzte Universität in Kalifornien hält ein jährliches Symposium in ihrem Namen, in dem Wissenschaftlerinnen zusammenkommen. Ein Krater auf der Venus von 35 Kilometer Durchmesser ist nach Maria Goeppert-Mayer benannt.

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Ebenfalls diese Woche

22. Juni 1939: Ada Yonath
Über diese Chemikerin schrieb ich im Juni 2018.

23. Juni 1871: Jantine Tammes
Die Leidtragende des Matilda-Effektes trug entscheidende Erkenntnisse zur Pflanzengenetik bei, die jedoch ihrem männlichen Kollegen zugeschrieben wurden.

23. Juni 1951: Maria Klawe
Die amerikanische Informatikerin leitet seit 2006 als erste Frau das Harvey Mudd College in Kalifornien.

26. Juni 1862: Ella Church Strobell (Link Englisch)
Gemeinsam mit ihrer Kollegin Katharine Foot trug die Zellbiologin mit Fotografien zum besseren Verständnis der Chromosomen und ihrer Funktion bei.

19/2019: Hilde Levi, 9. Mai 1909

Religion spielte in ihrem Leben nur als Hindernis zum Glück eine Rolle: Schon Hilde Levis Eltern lebten als assimilierte Juden in Frankfurt am Main, sie selbst lehnte nach erzwungenem Religionsunterricht in der weiterführenden Schule früh die Religion für sich ab. Zu dieser Haltung trug sicherlich auch ihre wissenschaftliche Weltansschauung bei; ihr Abitur machte sie 1928 als einziges Mädchen ihres Jahrgangs in Physik. Nach ihrem Abschluss verbrachte sie zunächst ein halbes Jahr in England und begann dann an der Münchener Universität Physik und Chemie zu studieren. Bereits zwei Jahre später wechselte sie für ihre Promotionsarbeit an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem. Dort bestand sie 1934 noch ihre Doktorprüfung, doch da die Nationalsozialisten im Jahr zuvor an die Macht gewählt worden waren, überschattete ihre jüdische Familiengeschichte ihr ganzes Leben. Aufgrund des Arierparagraphen hatte sie keinerlei berufliche Aussichten, sämtliche ihrer Lehrer und Mentoren waren bereits emigriert. Schließlich löste ihr Verlobter, der Physiker Hans Bethe, zwei Tage vor der Hochzeit die Verbindung, auf Anraten seiner Mutter, die selbst jüdischer Abstammung war. Diese Entscheidung schockierte die Kollegen des Paares, insbesondere die ebenfalls jüdischen Niels Bohr und James Franck, die lebenslang persönliche Vorbehalte gegen den späteren Nobelpreisträger hegten. (In Bethes Wikipedia-Eintrag ist im übrigen weder von seiner privaten Verbindung zu Hilde Levi noch von dieser Entscheidung gegen ihre Ehe die Rede, die immerhin dazu führte, dass Bethe bis nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nie an das Niels-Bohr-Institut eingeladen wurde, obwohl er ein führender Physiker der Zeit war.)

Die International Federation of University Women und Niels Bohr selbst vermittelten Levi eine Assistenzstelle bei James Franck, der selbst erst vor kurzem nach Kopenhagen emigriert war; er kannte zwar Levi bis dahin nicht persönlich, aber ihre Doktorarbeit über Spektren der Alkalihalogen-Dämpfe, deren wissenschaftlichen Wert er hoch einschätzt. Ihre Promotionsurkunde musste ihr Bruder ihr Monate nach ihrer Ausreise für sie in Empfang nehmen. Levi arbeitete für Franck, bis dieser 1935 Kopenhagen verließ, danach arbeitete sie als Assistentin des ebenfalls aus Deutschland emigrierten ungarischen Chemikers George de Hevesy. Die Entdeckung der Aktivierung, also induzierter Radioaktivität, durch das Ehepaar Joliot-Curie 1935 inspirierte de Hevesy und Levi zur Bestrahlung seltener Erden. Ihre Entdeckungen bei dieser Arbeit führten zur Entwicklung der Neutronenaktivierungsanalyse, mit der zum Beispiel 1961 ermittlet wurde, dass Napoléon zumindest an Arsenvergiftung litt, wenn nicht sogar daran starb.

1938 wurde Levi in Deutschland der Doktortitel aberkannt, ohne Angabe von Gründen, im gleichen Jahr musste sie ihren deutschen Pass in der Botschaft in Kopenhagen abgeben. Sie konnte mit de Hevesy bis 1940 weiter am Niels-Bohr-Institut arbeiten; nach der Besetzung Dänemarks durch die deutsche Wehrmacht wechselte sie zunächst innerhalb Kopenhagens an das Carlsberg-Institut. 1943 begannen die deutschen Besatzer jedoch auch in Dänemark, Juden zu deportieren, und Levi floh mit vielen anderen nach Schweden. Dort konnte sie bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges an einem Institut für experimentelle Biologie arbeiten.

Nach Kriegsende kehrte Levi nach Kopenhagen zurück und begann, unter August Krogh am Zoophysiologischen Institut der Universität Kopenhagen an radiobiochemischen Forschungen zu arbeiten. Bei einem Aufenthalt in den USA lernte sie die Radiokarbonmethode zur Altersbestimmung von Stoffen kennen, die Willard Libby 1946 entwickelt hatte. Sie entwickelte darauf aufbauend am Dänischen Nationalmuseum die erste Messeinrichtung für C14-Datierung, mit der kurz darauf das Alter des Grauballe-Mann ermittelt werden konnte. (Auch in diesem Wikipedia-Beitrag ist nicht die Rede von Levi, sondern Libby selbst wird als derjenige genannt, der die Untersuchung durchgeführt habe. Siehe Matilda-Effekt.)

Levi beriet die dänische Gesundheitbehörde zum Thema Strahlenschutz und lehrte 19 Jahre lang an der Universität Kopenhagen. Nach ihrer Pensionierung 1979 war sie am Aufbau des Niels-Bohr-Archivs beteiligt und arbeitete den wissenschaftlichen und persönlichen Nachlass de Hevesys auf. 2001 nahm sie an einem Treffen an der Humboldt-Universität teil, zu dem die Wissenschaftler geladen worden waren, die nach 1933 entlassen worden waren und Deutschland nachfolgend verlassen mussten. Sie starb 2003 im Alter von 94 Jahren in Kopenhagen.

Das Jewish Women’s Archive führt eine Biografie von ihr, das Niels-Bohr-Archiv ebenfalls. Auf der Seite des American Institute of Physics findet sich das Transkript eines Interviews mit ihr von 1971.

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