Schlagwort: kalender

26/2020: Maria Goeppert-Mayer, 28. Juni 1906

Maria Goeppert wurde in Katowice, damals Preußen, in eine Familie von Professoren geboren. Als sie 10 Jahre alt war, zog sie mit ihren Eltern nach Göttingen. Dort besuchte sie eine höhere Schule, die speziell Mädchen für ein Universitätsstudium vorbereiten sollte; mit 17, ein Jahr früher als ihre Komiliton:innen, machte sie als eines von drei oder vier Mädchen das Abitur.

Zunächst studierte sie an der Universität Göttingen Mathematik, zu dieser Zeit um 1924 müsste sie auch Emmy Noether dort angetroffen haben. Nach drei Jahren Studium wechselte Goeppert jedoch zur Physik, in der sie nach weiteren drei Jahren ihre Dissertation über die Theorie der Zwei-Photonen-Absorption schrieb. Diese Theorie, dass ein Molekül oder Atom zur gleichen Zeit (innerhalb von 0,1 Femtosekunde) zwei Photonen aufnehmen kann und dabei in einen energetisch angeregten Zustand übergeht, konnte zu dieser Zeit nicht experimentell nachgewiesen werden. Dieses Ereignis ist extrem unwahrscheinlich: Die Absorption eines Photons in einem Molekül oder Atom geschieht in etwa einmal pro Sekunde unter guten Bedingungen, das heißt bei hoher Lichteinstrahlung. Die gleichzeitige Absorption zweier Photonen tritt hingegen unter den gleichen Bedingungen nur alle 10 Millionen Jahre auf. Erst 1961 konnte Goepperts Theorie dank der Erfindung des Lasers nachgewiesen werden, die Einheit, in der die Wahrscheinlichkeit einer Zwei-Photonen-Absorption gemessen wird, heißt ihr zu Ehren GM (Goeppert-Mayer). Ihre Prüfer im Rigorosum waren Max Born, James Franck und Adolf Windaus, alles drei zu diesem Zeitpunkt oder spätere Nobelpreisträger. Eugene Wigner, ebenfalls Nobelpreisträger, bezeichnete ihre Arbeit später als „Meisterwerk der Klarheit und Greifbarkeit“.

Im gleichen Jahr, in dem sie ihren Doktortitel errang, hatte sie auch Joseph Edward Mayer geheiratet, einen Fellow der Rockefeller Foundation und Assistent von James Franck. Mit ihm zog sie nach ihrer Promotion in die USA, wo Mayer als außerordentlicher Professor an der Johns Hopkins University lehrte. Goeppert-Mayer konnte dort keine Anstellung finden, denn die Hochschule hatte strenge Nepotismus-Regeln, die die gleichzeitige Beschäftigung von Ehepaaren untersagten. Diese waren ursprünglich eingerichtet worden, um Gönnerschaft zu unterbinden, doch inzwischen hielten sie hauptsächlich die Ehefrauen der Professoren von beruflicher Tätigkeit auf dem Campus ab. Goeppert-Mayer konnte sich schließlich gegen sehr kleines Gehalt im Fachbereich für Physik an der deutschen Korrespondenz beteiligen, so hatte sie auch Zugang zu den Laboren. In dieser Zeit arbeitete sie mit Karl Herzfeld an seinen Forschungen zur Quantenmechanik, sie unterrichtete auch unentgeltlich und schrieb eine Arbeit über doppelten Betazerfall. Sie kehrte bis 1933 noch dreimal nach Göttingen zurück, unter anderem um dort mit Max Born an einem Artikel für das Handbuch der Physik zu arbeiten. 1933 verloren Born und James Franck aufgrund der Judenverfolgung unter der faschistischen Regierung Deutschlands ihre Stellen an der Göttinger Universität, James Franck folgte seinem ehemaligen Assistenten nach Baltimore.

1937 wurde Mayer allerdings von der Johns Hopkins Universität entlassen, die Gründe dafür sind unklar. Mayer vermutete Misogynie, nämlich dass der Dekan es nicht gerne sähe, wie frei Mayer seiner Frau Zugang zu den Laboren gewährte. Herzfeld stimmte ihm zu, möglicherweise fühle sich aber auch das amerikanische Kollegium von „zu vielen Deutschen“ (das Ehepaar Goeppert-Mayer, Herzfeld und Franck) überrannt. Es soll auch Beschwerden über die Inhalte des Chemie-Unterrichts gegeben haben, den Goeppert-Mayer hielt: Sie spreche zu viel über moderne Physik. Goeppert-Mayer lehrte noch bis 1939 in Baltimore, dann wechselte das Ehepaar gemeinsam an die Columbia University in New York. Joseph Mayer konnte dort als Professor lehren, Maria Goeppert-Mayer bekam hier zwar ein eigenes Büro, doch für ihre Tätigkeit an der Fakultät wiederum kein Gehalt.

An der Columbia University freundete sich Goeppert-Mayer mit dem Chemiker Harold Urey und dem Physiker Enrico Fermi an und schloss sich deren Forschungen an, zu den Valenzelektronen der bis dahin noch unentdeckten transuranischen Elementen. Die Anzahl der Valenzelektronen, das heißt der Elektronen auf der äußersten Schale eines Elements, die an chemischen Verbindungen beteiligt sein können, bestimmen die Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Gruppen des Periodensystems und lassen Vermutungen über ähnliche chemikalische Eigenschaften zu. Basierend auf dem Thomas-Fermi-Modell, das die Elektronenhülle wie eine Gaswolke interpretiert, stellte Goeppert-Mayer die Voraussage auf, dass die Elemente, die im Periodensystem hinter dem Uran folgen müssten, zur Gruppe der Metalle der Seltenen Erden gehören würden. Diese Voraussage sollte sich als wahr herausstellen.

1941 wurde Maria Goeppert-Mayer zur Fellow der American Physical Society und im Dezember dieses Jahres trat sie ihre erste bezahlte Lehrtätigkeit am Sarah Lawrence College an. Nachdem die USA in den Zweiten Weltkrieg eingetreten waren, schloss sie sich im Folgejahr in Teilzeit dem Manhattan-Projekt an. Ihre Aufgabe wurde es, einen Weg zu finden, das Isotop 235U, einen wichtigen Spaltstoff, in natürlichem Uran auszusondern. Dafür untersuchte Goeppert-Mayer die chemischen und thermodynamischen Eigenschaften von Uranhexafluorid (Uran(VI)-fluorid), einer Verbindung von Uran und Fluor. Sie erwog die Möglichkeit, das gewünschte Isotop mit Hilfe einer photochemischen Reaktion aus dem Stoff auszufällen, doch dies war zu dem Zeitpunkt noch nicht praktikabel; auch hier wurde die Erfindung des Lasers notwendig, um Goeppert-Mayers Theorien in die Praxis umzusetzen.

Ihr Freund Edward Teller holte sie auch kurzzeitig ins Team seines Opacity Project, das die Erschaffung einer Superbombe (Link Englisch) anstrebte. Ihr Mann wurde an die Front im Pazifik berufen, und Goeppert-Mayer beschloss, die beiden Kinder in New York zu lassen und mit Teller in Los Alamo am Project Y zu arbeiten.

Nach dem Ende des Krieges wurde Joseph Mayer Professor für Chemie an der University of Chicago, Maria Goeppert-Mayer wurde von der Hochschule als freiwillige außerordentliche Professorin eingestellt. Teller folgte ihr nach Illinois, um die Entwicklung thermonuklearer Waffen voranzutreiben. Als ihr eine Teilzeitstelle am Argonne National Laboratory angeboten wurde, als leitende Physikerin in der Abteilung für theoretische Physik, antwortete sie erstaunlicherweise: „Ich verstehe nichts von Kernphysik!“ Sie trat die Stelle jedoch an. Außerdem programmierte sie den ENIAC des Aberdeen Proving Ground auf eine bestimmte Vorgehensweise für Schnelle Brüter.

Ihre wichtigeste, erfolgreichste Arbeit leistete Goeppert-Mayer trotz dieser vielseitigen Einsätze in den 1940ern. Während sie an der University of Chicago und dem Argonne angestellt war, entwickelte sie ein mathematisches Modell für den Aufbau des Schalenmodells, das sie 1950 veröffentlichte. Sie erklärte, warum eine bestimmte Anzahl Nukleone (Protonen und Neutronen) in Atomkernen besonders häufig vorkamen und besonders stabil sind. Diese Zahlen nannte Eugene Wigner die ‚Magischen Zahlen‚, die Reihe der „stabilen“ Protonen- und Neutronen-Anzahlen lautet 2, 8, 20, 28, 50, 82 und 126. Das Schalenmodell war für die Elektronen-aufenthaltswahrscheinlichkeitsräume des Atoms bereits erfolgreich, doch vom Atomkern bestand zu diesem Zeitpunkt noch ein anderes Modell, welches jedoch nicht die Inseln der Stabilität in den Elementen erklärte. Im Gespräch mit Enrico Fermi stellte dieser Goeppert-Mayer die Frage, ob es einen Hinweis auf Spin-Bahn-Kopplung gäbe – einen Zusammenhang des Spin, also der Eigendrehung eines Teilchens, und seiner Bahn, also seiner Bewegung innerhalb des Atoms, der sich in der Stärke der Wechselwirkung des Teilchens bemerkbar macht. Diese Kopplung war für Elektronen bekannt, doch angestoßen von Fermis Frage stellte Goeppert-Mayer die Theorie auf, dass dieser Effekt auch im Atomkern wirke und konnte so die Bedeutung der ‚magischen Zahlen‘ in der Kernphysik erklären. Sie erläuterte es kurz und anschaulich wie folgt:

Denken Sie an einen Raum voller Walzertänzer:innen. Nehmen wir an, sie durchtanzen den Raum in Kreisen, jeder Kreis umschlossen von einem weiteren Kreis. Nun stellen Sie sich vor, Sie könnten zweimal so viele Tänzer:innen in einem Kreis unterbringen, indem Sie ein Paar mit und das andere Paar entgegen dem Uhrzeigersinn tanzen lassen. Nun bringen Sie noch weitere Variationen ein; alle Paare drehen sich um sich selbst wie Kreisel, während sie durch den Raum kreisen, jedes Paar dreht sich also um sich selbst (twirling) und durch den Raum (circling). Aber nur einige von denen, die gegen den Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen, drehen sich auch im Uhrzeigersinn um sich selbst. Die anderen drehen sich im Uhrzeigersinn um sich selbst, während sie gegen den Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen. Das gleiche ist wahr für die, die im Uhrzeigersinn durch den Raum tanzen: Einige drehen sich im Uhrzeigersinn um sich selbst, andere dagegen.

Übersetzt nach dem Abschnitt ‚Nuclear shell modell‘ des englischen Wikipediabeitrags

Zum gleichen Schluss waren zeitgleich die Physiker Otto Haxel, Hans D. Jensen und Hans E. Suess in Hamburg gekommen; Goeppert-Mayers Arbeit wurde zur Prüfung im Februar 1949 eingereicht, die der Hamburger Forscher im erst im April. Als Goeppert-Mayer in Juni 1949 die Ankündigung der Ergebnisse ihrer Kollegen las, versuchte sie noch, ihre Veröffentlichung zu verschieben, damit beide Arbeiten nebeneinander erscheinen könnten, doch dies ließ sich nicht mehr einrichten. So wurde zuerst Goeppert-Mayer als die Entdeckerin des Schalenmodells für den Atomkern bekannt. Es entstand jedoch ein gutes kollegiales Verhältnis zwischen Goeppert-Mayer und Jensen und die beiden brachten 1950 gemeinsam ein Buch zu ihrer Theorie heraus.

In den 1950er Jahren wurde Maria Goeppert-Mayer Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der National Academy of Sciences, doch erst 1960 wurde sie endlich vollwertiges Mitglied einer Fakultät, als sie den Lehrstuhl für Physik an der University of California übernahm. Bereits kurz darauf erlitt sie einen Schlaganfall, der sie jedoch nicht von der Arbeit abhalten sollte. 1963 erhielt sie gemeinsam mit Hans D. Jensen eine Hälfte des Nobelpreises für Physik, die andere Hälfte erhielt Eugene Wigner. Goeppert-Mayer war die zweite weibliche Gewinnerin dieses Preises nach Marie Curie, 60 Jahre zuvor. Zu dieser Errungenschaft titelte damals die San Diego Tribune: ‚S.D. Mother Wins Nobel Physics Prize‘ (‚Mutter aus San Diego gewinnt Physik Nobelpreis‘). Hierzu bezog die Nachfolgepublikation The San Diego Union-Tribune im Oktober 2018 Stellung, anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Physik an die dritte Frau überhaupt, Donna Strickland, 55 Jahre nach Goeppert-Mayer.

Zwei Jahre später wurde sie zum Fellow der American Academy of Arts and Sciences. 1971 erlitt sie einen Schlaganfall, in dessen Folge sie ein Jahr lang im Koma lag, bis sie am 20. Februar 1972 verstarb. Die American Physical Society rief 1986 den Maria Goeppert-Mayer Award ins Leben, der jugnen Physikerinnen verliehen wird. Gewinnerinnen müssen einen Doktortitel innehaben, sie erhalten einen Geldbetrag und die Möglichkeit, an vier größeren Institutionen Vorträge über ihre Arbeit zu halten. Auch das Argonne National Laboratory verleiht jedes Jahr im Namen Goeppert-Mayers einen Preis an herausragende Wissenschaftlerinnen, ihre letzte Universität in Kalifornien hält ein jährliches Symposium in ihrem Namen, in dem Wissenschaftlerinnen zusammenkommen. Ein Krater auf der Venus von 35 Kilometer Durchmesser ist nach Maria Goeppert-Mayer benannt.

*

Ebenfalls diese Woche

22. Juni 1939: Ada Yonath
Über diese Chemikerin schrieb ich im Juni 2018.

23. Juni 1871: Jantine Tammes
Die Leidtragende des Matilda-Effektes trug entscheidende Erkenntnisse zur Pflanzengenetik bei, die jedoch ihrem männlichen Kollegen zugeschrieben wurden.

23. Juni 1951: Maria Klawe
Die amerikanische Informatikerin leitet seit 2006 als erste Frau das Harvey Mudd College in Kalifornien.

26. Juni 1862: Ella Church Strobell (Link Englisch)
Gemeinsam mit ihrer Kollegin Katharine Foot trug die Zellbiologin mit Fotografien zum besseren Verständnis der Chromosomen und ihrer Funktion bei.

25/2020: Muazzez İlmiye Çığ, 20. Juni 1914

Die Eltern von Muazzez İlmiye Çığ stammten beide aus Familien von Krimtataren, die in die Türkei ausgewandert waren; die Familie ihres Vaters lebte in Merzifon, die ihrer Mutter in Bursa, wo auch Muazzez İlmiye zur Welt kam. Einige Wochen nach ihrer Geburt begann der Erste Weltkrieg, und als das Osmanische Reich an dessen Ende aufgeteilt wurde und griechische Truppen einmarschierten, flohen Muazzez‘ Eltern mit ihr zunächst nach Izmir, später nach Çorum.

Nachdem sie dort die Grundschule abgeschlossen hatte, bestand sie mit 12 Jahren die Aufnahmeprüfung einer Schule für angehende Lehrerinnen in Bursa; nach fünf Jahren machte sie dort ihren Abschluss. Danach erhielt sie eine Anstellung als Lehrerin in Eskişehir, wo auch ihr Vater arbeitete, später kehrte sie nach Bursa zurück.

Im Rahmen seiner Reformen hatte Mustafa Kemal Atatürk an der Universtiät Ankara eine Fakultät für Sprache, Geschichte und Geografie (der Türkei?) gegründet, an der ausdrücklich auch weibliche Studentinnen erwünscht waren. İlmiye bewarb sich 1938 und wurde für den Studiengang der Altertumswissenschaft angenommen. Ihre Professoren in diesem Fachbereich waren unter anderem Hans Gustav Güterbock und Benno Landsberger, beides deutsche Juden, die vor dem Faschismus in die Türkei geflohen waren. Neben Sumerologie studierte Muazzez İlmiye auch Hethitologie und Deutsch, das Studium schloss sie 1940 ab. Im gleichen Jahr heiratete sie Kemal Çığ, den Direktor des Topkapi Museums in Istanbul, wo Muazzez İlmiye Çığ am Archäologischen Museum eine Aufgabe für die weiteren Jahrzehnte fand. 75.000 sumerische Tontafeln in Keilschrift lagerten in den Beständen des Museums, bis dahin noch nicht übersetzt oder eingeordnet. Gemeinsam mit Samuel Noah Kramer restaurierte und übersetzte sie die Tontafeln und veröffentlichte die Ergebnisse. Im Laufe der Jahre wurde dank ihrer Arbeit das Museum zu einem Lehrzentrum für die Sprachen des Nahen Ostens.

Mit 92 Jahren erlangte die Sumerologin weltweite Öffentlichkeit, nachdem sie in ihrem Buch ‚Fruchtbarkeitskulte und Heilige Prostitution‘ (Bereket Kültü ve Mabet Fahişeliği/Cult of Fertility and Holy Prostitution) die These aufgestellt hatte, dass das Kopftuch im Islam – oft als Zeichen von Keuschheit und Züchtigkeit gewertet – möglicherweise auf den Kopfschmuck sumerischer Tempelhuren zurückginge (deren Existenz inzwischen allerdings grundsätzlich angezweifelt wird). Sie wurde daraufhin der Beleidigung des Islam angeklagt, jedoch freigesprochen, was internationale Beachtung fand.

In diesem Interview vom 13. Mai 2020 erscheint die inzwischen 106-jährige noch sehr kregel, leider ist es nur in türkischer Sprache ohne deutsche Untertitel verfügbar.

TEDxtalks: Gespräch mit Muazzez İlmiye Çığ im Mai 2020

*

Ebenfalls diese Woche

16. Juni 1902: Barbara McClintock
Die amerikanische Zytogenetikerin entdeckte die „springenden Gene“ im Mais und gewann dafür als dritte Frau – nach dreimaliger Nominierung – endlich 1983 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin.

20. Juni 1919: Isabella Abbott (Link Englisch)
Als erste Kanaka Maoli mit einem Doktortitel in Naturwissenschaft wurde die Ethnobotanikerin eine Expertin für die Algen im Pazifik.

21. Juni 1927: Ye Shuhua (Link Englisch)
In den 1960er Jahren gelang der chinesischen Astronomin eine der präzisesten Messung der Universal Time.

24/2020: Emma Turner, 9. Juni 1867

Emma Turner (Link Englisch) nahm erst mit 33 Jahren die Fotografie auf, nach einer Begegnung mit dem Naturfotografen Richard Kearton (Link Englisch). Von ihrem Leben davor ist nicht viel bekannt.

Sie lebte und arbeitete 20 Jahre lang als ornithologische Fotografin im Naturschutzgebiet Hickling Board (Link Englisch) in Norfolk; große Teile des Jahres verbrachte sie dort, den Rest der Zeit lebte sie in Cambridgeshire. In Hickling Board hatte sie Hausboot, das sie selbst entworfen hatte, die Water Rail (zu Deutsch Wasserralle), nach dem ersten Tier, das sie in dem Naturschutzgebiet fotografiert hatte. Außerdem hatte sie eine Hütte auf einer Insel, die schließlich als Turner’s Island bekannt wurde. Schon 1905 war sie eine der ersten zehn Frauen, die zur Fellow der Linnean Society of London gewählt wurden.

1911 machte sie in Hickling Board das Bild von einem Rohrdommel-Küken, das den Beweis erbrachte, dass Rohrdommeln wieder im Vereinigten Königreich heimisch wurden. Diese Art war Ende des 19. Jahrhunderts lokal ausgestorben. Für ihr Foto gewann Turner die Goldmedaille der Royal Photographic Society.

1924 bis 1925 war sie 18 Monate lang die erste „Beobachterin“ (oder „Hüterin“) auf der Insel Scolt Head (Link Englisch). Sie veröffentlichte zwei Bücher über die Vögel ihrer Heimat und ihre Erlebnisse in den Naturschutzgebieten, wurde erstes weibliches Mitglied der British Ornithologists‘ Union und Ehrenmitglied der British Federation of University Women (Link Englisch), ohne je einen universitären Abschluss gemacht zu haben.

Eine Kollegin beschrieb sie wie folgt: „Als Frau sah sie, was zu tun war, und tat es.“ (Quelle: National Trust) 1938 verlor sie ihr Augenlicht, am 13. August 1940 starb sie mit 73 Jahren.

Ebenfalls diese Woche

11. Juni 1860: Mary J. Rathbun
Die amerikanische Meeresbiologin beschrieb über 1.000 neue Arten von Krebstieren.

14. Juni 1877: Ida Maclean
Sie wurde als erste Frau Mitglied der Chemical Society; außerdem war die Biochemikerin in der Frauenrechtsbewegung tätig und unter anderem Gründungsmitglied der British Federation of University Women.

Catherine Jérémie

* 1664 • † 1744

Catherine Jérémie (Link Englisch) kam als ältestes von 11 Geschwistern in einem kleinen Ort in Québec, Kanada (damals Neufrankreich), zur Welt. Mit 17 heiratete sie zum ersten Mal, mit diesem Mann hatte sie eine Tochter; mit 24 heiratete sie zum zweiten Mal und bekam in dieser Ehe noch weitere zehn (oder elf) Kinder.

1702 ließ sich Jérémie mit ihrer Familie in Montreal nieder, wo sie als Hebamme und Naturheilkundlerin arbeitete. Als eine der ersten Botaniker:innen in Kanada beschäftigte sie sich besonders mit der Medizin der kanadischen First Nations und deren Kenntnisse über naturheilkundliche Praktiken. Sie versorgte nicht nur französische Forscher mit den Informationen zu gesammelten Exemplaren und trug damit einen wichtigen Teil zur Naturgeschichte in Kanada bei. Sie wandte ihre Kenntnisse auch erfolgreich in der eigenen Hebammenpraxis an; eine Frau, die sie betreut hatte, nannte sie „die Magierin meines Lebens“.

23/2020: Elisabetta Fiorini Mazzanti, 3. Juni 1799

Elisabetta Fiorini Mazzanti, geboren in Terracina, verlor früh ihre Mutter und wurde von ihrem Vater in allen Fächern ausgebildet, die er für eine Person ihres Standes für wichtig hielt: Das waren Geschichte, Geografie, Literatur und Kunst sowie, neben ihrer Muttersprache Italienisch, Latein, Französisch, Englisch und Deutsch. Sie entwickelte bereits früh ein Interesse an Botanik; so wurde sie Schülerin des unter anderem in Botanik bewanderten Wissenschaftlers Giovanni Battista Brocchi.

Dieser ermutigte sie schließlich 1831 auch zur Erstellung ihres Hauptwerks in der Bryologie, Specimen Bryologicae Romanae. Ihr Interesse galt lebenslang den Moosen, auch wenn sie sich später wissenschaftlich mehr mit Süßwasseralgen befasste. Ihre Arbeit wurde zehn Jahre nach der ersten Veröffentlichung ein zweites Mal aufgelegt und förderte in Italien und Frankreich merklich die wissenschaftliche Erforschung von Moosen.

Elisabetta Fiorini Mazzanti verlor 1842 innerhalb eines Jahres ihren Ehemann, ihren Vater und ihr einziges Kind. Sie adoptierte später jedoch die Nichte eines anderen Botanikers, die bei ihr lebte und sie später im hohen Alter pflegte. Mit 75 Jahren veröffentlichte sie noch ein Werk, in dem sie ein bis dahin unbekanntes Moos in der Gegend um Neapel beschrieb, außerdem besuchte sie 1874 auch noch einen Botanikkongreß in Florenz. Nur Monate vor ihrem Tod kam ihre Abhandlung zur Flora rund um das Kolosseum in Rom heraus. Sie starb am 23. April 1879 mit 80 Jahren.

Ebenfalls diese Woche

-/-

22/2020: Claudia Alexander, 30. Mai 1959

Claudia Alexander (Link Englisch) kam in Vancouver in Kanada, zur Welt, wuchs jedoch in Santa Clara (Kalifornien), auf. Ihr eigentlicher Berufswunsch war Journalistin, doch ihre Eltern – eine Bibliothekarin und ein Sozialarbeiter – finanzierten das Studium und wollten, dass sie Ingenieurin werde. Sie fügte sich und arbeitete in einem Nebenjob in den Sommerferien im Ames Research Center, einem Forschungscenter der NASA. Dort arbeitete sie in der technischen Abteilung, doch sie begann sich auch für die Planetologie zu interessieren; sie schlich sich also in die wissenschaftliche Abteilung, um dort auszuhelfen, und stellte fest, dass ihr die Arbeit dort besser gefiel und leichter von der Hand ging.

So machte sie 1983 ihren Bachelor-Abschluss an der University of California, Berkeley, in Geophysik, weil sie dieses Fach für eine gute Basis in der Planetologie hielt. Zwei Jahre später machte sie ihren M.A. in Geo- und Astrophysik an der University of California, Los Angeles. In ihrer Abschlussarbeit untersuchte sie die Auswirkungen des magnetischen Zyklus der Sonne und der Sonnenwinde auf die Ionosphäre der Venus. Bis ins Folgejahr 1986 war sie sowohl am United States Geological Survey tätig, in der Erforschung von Plattentektonik, wie am Ames Research Center bei der Beobachtung der Jupitermonde. 1987 wechselte sie zur NASA, wo sie im Labor für Düsenantriebe zunächst als wissenschaftliche Koordinatorin arbeitete.

Sie erlangte 1993 ihren Doktortitel in Atmosphären-, Ozean- und Astro-Wissenschaften (Atmospheric, Oceanic and Space Sciences), speziell zum Thema astrophysisches Plasma (Link Englisch). In der finalen Phase der Galileo-Mission war sie als Projekt Managerin unter anderem für den kontrollierten Absturz der Sonde 2003 in die Atmosphäre des Jupiter verantwortlich. Die Galileo entdeckte 21 neue Jupitermonde und eine Atmosphäre („oberflächengebundene Exosphäre“) auf dem Mond Ganymed.

Neben den Jupitermonden, Plattentektonik, der Venus und dem astrophysischen Plasma forschte sie auch zur Entstehung und dem physikalischen Aufbau von Kometen, Magnetosphären und zur Unstetigkeit und Ausbreitung der Sonnenwinde. Sie war wissenschaftliche Koordinatorin bei der Cassini-Huygens-Mission zum Saturn und Co-Autorin von 14 wissenschaftlichen Schriften. Auch an der Rosetta-Mission der ESA, einer Sonde, die auf dem Kometen Tschurjumow-Gerassimenko landete, war sie als Projektwissenschaftlerin beteiligt.

Claudia Alexander setzte sich auch dafür ein, Frauen und Minderheiten verstärkt in die MINT-Fächer zu bringen – so schrieb sie unter anderem Kinderbücher und Science-Fiction-Romane. In ihrem TED-Talk „The Compelling Nature of Locomotion and the Strange Case of Childhood Education“ demonstrierte sie anhand des Themas der Lokomotion, wie sie wissenschaftlichen Unterricht für Kinder gestaltete.

TED-Talk von Claudia Alexander: „The Compelling Nature of Locomotion and the Strange Case of Childhood Education“

Leider erlag die vielseitige Planetologin am 11. Juli 2015 dem zehnjährigen Kampf gegen den Brustkrebs.

Die zwei Folgen „Ein wachsendes Problem“ (20a) und „Das ausgebrochene Bärtierchen“ (20b) der Kinder-TV-Serie Miles von Morgen sind ihr gewidmet.

*

Ebenfalls diese Woche

26. Mai 1821: Amalie Dietrich
Wenn ich mich recht entsinne, steht die Naturforscherin – zugegebenermaßen eine beeindruckend entschlossene Frau – auch in der Kritik, da sie neben botanischen Exemplaren auch menschliche Schädel aus Australien an Museen in der deutschen Heimat sandte.

27. Mai 1676: Maria Clara Eimmart
Die eigenen Beobachtungen stellte die Astronomin und ausgebildete Kupferstecherin in detaillierten Zeichnungen dar; darunter die Mondphasen sowie verschiedene Ansichten des Merkur, der Venus, des Mars, Jupiter und Saturn, einige Kometenformen und – nebenstehend – das Phänomen des Nebenmondes und der Nebensonne.

27. Mai 1959: Donna Strickland
Die Laserphysikerin erhielt als dritte Frau überhaupt 2018, gemeinsam mit zwei Kollegen, den Nobelpreis für Physik.

31. Mai 1887: Ethel Doidge (Link Englisch)
Die Fellow der Linnean Society of London trug als Mykologin und Bakteriologin zur Bekanntheit eines Phytopathogens bei, das Mangos befällt.

31. Mai 1912: Chien-Shiung Wu
Dafür, dass sie 1956 im Wu-Experiment die Paritätsverletzung bei schwacher Wechselwirkung nachwies und damit empirisch eine Hypothese bewies, dass in der Elementarteilchenphysik eine Vertauschung von rechts und links einen Unterschied machen kann – dafür hätte die Physikerin ebenfalls den Nobelpreis für Physik erhalten müssen; sie wurde dafür jedoch gar nicht erst nominiert. Sie erhielt jedoch 1963 den Comstock-Preis für Physik, 1975 die National Medal of Science und 1978 den Wolf-Preis in Physik.

21/2020: Ynés Mexía, 24. Mai 1870

Ynés Mexía kam als Tochter eines mexikanischen Diplomaten und einer US-Amerikanerin in Washington, D.C., zur Welt. Neun Jahre später ließen die Eltern sich scheiden, der Vater ging zurück nach Mexiko, Ynés wuchs bei ihrer Mutter in Texas auf. Als Erwachsene zog Mexía in das Heimatland ihres Vaters, wurde in erster Ehe Witwe und ließ sich von ihrem zweiten Ehemann scheiden.

1908 ging sie von Mexiko nach San Francisco und war dort zunächst als Sozialarbeiterin tätig. Mit 50 Jahren wurde sie dort Mitglied des Sierra Club, mit dem sie erste botanische Expeditionen ins Umland unternahm, bei denen ihr Interesse für Botanik geweckt wurde. Aus dem Hobby wurde bereits ein Jahr später ernsthaftes berufliches Interesse, und so schrieb sich Mexía mit 51 Jahren noch einmal als Studentin für das Fach Botanik an der University of California, Berkeley ein. Im Rahmen dieses Studiums lernte sie wohl auch Alice Eastwood kennen, von der sie das wissenschaftlich korrekte Sammeln von Exemplaren erlernte; beide Frauen waren Mitglieder der California Academy of Sciences. 1922 nahm sie an ihrer ersten botanischen Expedition im Rahmen ihres Studiums teil, geleitet vor Eustace L. Furlong (Link Englisch), einem Paläontologen. Zwei Jahre später wurde sie die US-amerikanische Staatsbürgerin, nach Mexiko kehrte sie danach nur noch aus wissenschaftlichem Interesse zurück. So reiste sie 1925 im Rahmen einer botanischen Expedition ins Land, entschloss sich jedoch dazu, ihre Gruppe zu verlassen und ihre Forschungen auf eigene Faust weiter zu betreiben. So reiste die 55-jährige schließlich alleine durch Mexiko, wobei sie 1.500 botanische Exemplare sammelte, von 500 Arten, von denen 50 bisher unbekannt waren. (Diese Zahlen entnehme ich dem englischen Wikipedia-Artikel, andere Quellen variieren, wobei „first trip“ und „species“/“specimen“ bei diesen nicht leicht zuzuordnen sind.) Ihre hilfreiche Kollegin Nina Floy Bracelin (Link Englisch) übernahm die Aufgabe, die von Mexía eingesandten Exemplare zu präparieren, von Experten klassifizieren zu lassen, zu katalogisieren und Duplikate an andere Herbarien zu versenden.

Ynés Mexía war selbst ein ungewöhnliches Exemplar. Als Frau über 50, noch dazu mit lateinamerikanischem Familienhintergrund, ein wissenschaftliches Studium zu beginnen und dann im Alleingang eigene Expeditionswege zu gehen, war zu der Zeit unerhört. Mexía jedoch war zäh und leidensfähig – bei ihrer ersten Expedition fiel sie von einer Klippe und brach sich mehrere Rippen, was sie nicht von ihren Forschungen abhielt. Sie liebte es, unter offenem Himmel zu leben, ritt in Hosen im „Herrensitz“ und entsprach im Großen und Ganzen nicht dem Bild einer älteren Dame. Sie wollte das Land und den Kontinent besser kennenlernen und fand, auf ihre unkomplizierte Art ginge das am Besten.

Nachdem sie aus Mexiko wiedergekehrt war, verschlug es sie 1928 im Auftrag der Universität nach Alaska, im darauffolgenden Jahr wiederum auf den südamerikanischen Kontinent, wo sie im Kanu den Amazonas hinaufreiste. In zweieinhalb Jahren erreichte sie so seine Quelle in den Anden. Auch 1934 bis 1936 bereiste sie den südamerikanischen Kontinent, in den zwei Jahren danach arbeitete sie wiederum in Mexiko. Als sie 1938 gerade in Oaxaca weilte, wurde sie krank und kehrte für ärtzliche Untersuchungen in die Vereinigten Staaten zurück. Dort wurde eine Diagnose auf Lungenkrebs gestellt, an der sie innerhalb eines Monats mit 68 Jahren verstarb.

Sie hinterließ in ihrem Testament der California Academy of Sciences eine ausreichende Summe, um Nina Floy Bracelin als Assistentin für Alice Eastwood einzustellen. In ihrer 13-jährigen Forschungskarriere – in der sie niemals einen Universitätsabschluss machte – sammelte sie um die 145.000 Exemplare, die bis heute noch nicht vollständig katalogisiert sind. 500 von den bis heute bearbeiteten Sammelstücken waren neue Arten, 50 davon wurden nach Ynés Mexía benannt.

Zum Sortieren der biografischen Angaben habe ich mich neben den Wikipedia-Beiträgen an diesen englischsprachigen Quellen orientiert: Dieser Artikel von Massive Science, dieser Eintrag auf Global Plants sowie zwei Seiten von Biodiversity Library Exhibition, wo Mexía bei den Early Women in Science und unter Latino Natural History gelistet ist.

*

Ebenfalls diese Woche

19. Mai 1903: Ruth Ella Moore (Link Englisch)
Die Bakteriologin war 1933 die erste Afroamerikanerin/WoC, die einen Doktortitel in Naturwissenschaften erlangte.

21. Mai 1799: Mary Anning
Nachdem sie eigentlich Fossilien nur gesammelt hatte, um mit dem Verkauf den Familienunterhalt zu bestreiten, erhielt sie später von der British Association for the Advancement of Science eine jährliche Pension zum Dank für ihre Leistungen für die Paläontologie.

24. Mai 1903: Eileen Guppy (Link Englisch)
Sie wurde als erste weibliche Geologin zum wissenschaftlichen Stab der British Geological Survey bestellt.

Marguerite Hessein de La Sablière

* ~ 1636-1640 • † 8. Januar 1693

Marguerite Hessein wurde in eine wohlhabende Familie des Hugenotten-Adels in Paris geboren, sowohl ihr Vater wie der Vater ihrer Mutter waren im Finanzwesen tätig. Sie erfuhr bereits in der Kindheit und Jugend eine klassische Bildung durch einen Onkel mütterlicherseits. Mit etwa 14 Jahren wurde sie mit Antoine Rambouillet de La Sablière verheiratet, einem Hugenotten mit gleichem Hintergund im Finanzwesen, der sich jedoch auch als Dichter hervortat. Sie bekam mit ihm drei Kinder, doch nach etwa zehn Jahren Ehe wurde sein Verhalten für sie unerträglich, er betrog sie und übte wahrscheinlich psychische und körperliche Gewalt aus. Bei der Scheidung, die ihn als Schuldigen anerkannte, wurde ihr die Mitgift sowie ein jährlicher Unterhalt zugesprochen. Mit dieser wirtschaftlichen Sicherheit ließ sie sich in der Rue Neuve-des-Petits-Champs nieder, wo sie 1669 ihren Salon öffnete.

Aufbauend auf der Bildung, die sie in ihrer Jugend genossen hatte, begann sie ein Unversalstudium und zog herausragende Wissenschaftler als Tutoren heran. Gilles Personne de Roberval unterrichtete sie in Mathematik, Joseph Sauveur in Geometrie, Barthélemy d’Herbelot in Anatomie. Sie besuchte öffentliche Vorlesungen zu diesem Thema von Joseph Guichard Du Verney und beteiligte sich aktiv an den astronomischen Forschungen von Jacques Cassini. Ihren literarischen Salon besuchten Molière, Jean Racine und die Marquise de Sévigné, auch Fontenelle, Pierre Daniel Huet und Christina von Schweden zählten zu ihren Gästen. Der Arzt und Philosoph François Bernier, der ebenfalls zu ihren Lehrern zählte, widmete ihr seine Zusammenfassung der Werke Pierre Gassendi. Mit ihrem breiten Spektrum an Interessen und Themen, in denen sie versiert war, galt sie zu ihrer Zeit als Universalgelehrte. Ihre prominente Position brachte ihr natürlich auch negative Aufmerksamkeit ein: Der zeitgenössische Satirendichter Nicolas Boileau machte sich in Satire contre les femmes über sie als ‚Blaustrumpf‚ lustig und karikierte ihren Ehrgeiz auf dem Gebiet der Astronomie; sie verliere bei der Beobachtung des Jupiter mit einem Astrolabium ihre Sehfähigkeit und die nächtliche Arbeit wirke sich nachteilig auf ihren Teint aus. Charles Perrault, der Boileau auch aufgrund der Streitigkeiten um die Überlegenheit der Moderne über die Antike nicht freundlich gesinnt war, verteidigte de La Sablière, sie sei nicht nur talentiert, sondern auch bescheiden genug, ihre Fähigkeiten nicht zu Schau zu stellen. (Denn auch wenn Frauen etwas können, sollen sie doch gefälligst nicht damit hausieren gehen.)

Zu zwei Literaten pflegte sie besondere Beziehungen. Der Fabeldichter Jean de La Fontaine war ihr Freund und Schützling; er unterrichtete sie in Naturgeschichte und Philosophie, sie ließ ihn nach dem Tod seiner vorherigen Schirmherrin 1673 bei sich wohnen und erlöste ihn damit von wirtschaftlichen Sorgen. Der Dichter verehrte sie nicht nur als Mäzenin und Freundin; er widmete ihr die Fabel ‚Der Rabe, die Gazelle, die Schildkröte und die Ratte‚, deren Moral es ist, dass jede:r Helfende bei einer gemeinsamen Aufgabe in gleichem Maße wichtig ist. Zum Abschluss der Fabel brachte er seine Gefühle ihr gegenüber zum Ausdruck:

Der Preis gebührt dem Herzen, ging’s nach mir.
Freundschaft, wohin kann sie sich nicht aufschwingen!
Das andere Gefühl, die Liebe – mindrer Ehr’
scheint sie mir wert; dennoch ermüd’ ich nimmermehr,
zu feiern sie und zu besiegen.
Ach, meinem Herzen kann sie keinen Frieden bringen!
Du ziehst die Freundschaft vor – von jetzt an stellt
in ihre Dienste sich mein Lied, wie’s auch ausfällt.
Mein Meister war Amor; mit einem andern wagen
und seinen Ruhm durch alle Welt
will ich wie auch den deinen tragen.

Wikipedia

Er nannte sie in seinen Texten ‚Iris‚ und blieb ihr treu in Freundschaft ergeben, während sie eine Affäre mit dem leichtlebigen Poeten Charles de La Fare einging.

Als 1679 ihr Ex-Ehemann starb, konnte Hessein de La Sablière zwar wieder mit ihren drei Kindern Kontakt aufnehmen, die beim Vater verblieben waren, doch ihr ging gleichzeitig der Unterhalt verloren. Im Folgejahr endete auch ihre Beziehung zu de La Fare unglücklich, als sich seine zahlreichen anderen Liebeleien in ihrer Gesellschaft herumsprachen. Die Salonière erlitt eine seelische Krise, die auch eine moralphilosophische wurde. Sie zog zunächst in eine bescheidenere Unterkunft, in die sie noch ihre Katze, ihren Hund und Jean de La Fontaine mitnahm – ihre „drei Haustiere“, soll sie sie genannt haben. Immer stärker wandte sie sich dem Katholizismus zu, begann einen Briefwechsel mit dem Mönch Armand Jean Le Bouthillier de Rancé und arbeitete freiwillig im Hospiz für unheilbar Kranke. Schließlich bezog sie eine kleine Wohnung auf dem Gelände des Hospiz, in die ihr de La Fontaine nicht folgen konnte.

Vom gesellschaftlichen Leben zog sie sich gänzlich zurück, stattdessen schrieb sie allerdings – neben der tiefschürfenden Korrespondenz mit Rancé – zwei Werke über ihre Moralphilosophie, Maximes Chrétiennes (Christliche Maxime) und Pensées Chrétiennes (Christliche Gedanken). In diesen befasste sie sich kritisch mit den Tugenden und Leidenschaften des christlichen Glaubens und argumentierte, dass eine vollständige Erkenntnis der Existenz Gottes allein durch das Abwerfen sowohl des Intellektes wie der Vorstellungskraft möglich sei. Eine Wahrnehmung Gottes sei nicht zu erreichen über Bilder oder Konzepte, sondern nur darüber, sich gänzlich von der Welt und ebenso von einer Wahrnehmung des eigenen Selbst zu lösen.

Entgegen der Bitten ihrer geistlichen Berater trennte sie sich nicht von ihrem Teleskop, bis zu ihrem Lebensende blieb sie an den Wissenschaften interessiert, pflegte ihre Bibliothek und beobachtete die Sterne. Als sie starb, war sie noch keine 60 Jahre alt.

Ihre Maximes Chrétiennes wurden erst 1705 anonym in einer Edition der Réflections ou Sentences et maximes morales von François de La Rochefoucauld herausgebracht, die Pensées Chrétiennes mit einem falschen Autorennamen, de La Sablé, versehen. Erst ihr Biograf Samuel Menjot d’Elbenne konnte das Werk korrekt zuweisen – indem er es mit der Korrespondenz der Autorin M.D.L.S. mit Rancé verglich, in der die drei Kinder de La Sablière namentlich genannt wurden. So wurden ihre zwei Schriften sowie ihr Briefwechsel mit dem Mönch erst 1923 gemeinsam unter dem korrekten Namen veröffentlicht.

Die Internet Encyclopedia of Philosophy bietet eine Biografie, aber vor allem eine ausführliche Erörterung ihrer Moralphilosophie (Link Englisch). Die Zahlen und Reihenfolge der Ereignisse ist nicht ganz deckungsgleich mit dem deutschen und/oder englischen Wikipedia-Beitrag. Letzterer schreibt ihr immerhin auch noch möglicherweise die Idee zu, zuerst Milch in die Tasse zu gießen, vor dem heißen Tee, damit das feine Porzellan nicht zerspringe.

20/2020: Dorothy Crowfoot Hodgkin, 12. Mai 1910

Als Tochter eines Kolonialbeamten in Ägypten kam Dorothy Crowfoot in Kairo auf die Welt, ihre Familie lebte dort im Winter und verbrachte die Sommer in England. Als Dorothy vier Jahre alt war, verblieb sie mit ihren Schwestern, davon war die ältere zwei Jahre alt und die jüngere sieben Monate, ganz bei Verwandten in England, während ihre Eltern weiterhin halbjährlich in Ägypten und später im Sudan lebten.

Ihre schulische Laufbahn war von vorneherein auf die Chemie ausgerichtet; an der weiterführenden Schule, in die sie mit 11 Jahren eingeschrieben wurde, war sie eines von zwei Mädchen, die Chemie lernen durften. Drei Jahre später empfahl ihr ein entfernter Cousin, Charles Harington, das Buch ‚Grundlagen der Chemie von D. S. Parsons, weitere zwei Jahre später schenkte ihre Mutter – selbst eine kundige Botanikerin – ihr ein Buch über Kristallstrukturanalyse. Damit hatte Crowfoot ihre Leidenschaft entdeckt. Nach dem Schulabschluss, bevor sie ein Studium begann, schloss sie sich für einige Zeit ihren Eltern in Jerasch an, dort war der Vater inzwischen als Direktor der British School of Archaeology für die Ausgrabungsstelle verantwortlich. Dorothy Crowfoot beschäftigte sich mit den Mosaiken in Kirchen aus byzantinischer Zeit, sie zeichnete die Muster nach und analysierte die chemische Zusammensetzung der Steine. Nach dieser Reise begann sie am Somerville College in Oxford Chemie zu studieren, vier Jahre später schloss sie dort ihr Studium mit Bestnote ab. Für ein Doktorandenstudium wechselte Crowfoot an das Newnham College in Cambridge, wo sie mit ihrem Doktorvater John Desmond Bernal an der Kristallstrukturanalyse von Proteinen arbeitete. In ihrer gemeinsamen Arbeit, bei noch Bernal für die Bildaufnahmen verantwortlich zeichnete, versuchten sie sich an der Analyse des Verdauungsenzyms Pepsin.

Während sie auf ihren Doktortitel hinarbeitete, erhielt Crowfoot 1933 ein Forschungsstipendium, das sie zurück an ihr erstes College nach Oxford holte. Sie begann dort 1934 als Tutorin Chemie zu unterrichten, eine Stelle, die sie trotz einer Diagnose der Rheumatoiden Arthritis im gleichen Jahr bis 1977 innehatte. Drei Jahre später errang sie ihren Doktortitel mit der Kristallstruktur- und chemischen Analyse von Sterinen. In den folgenden Jahren, in denen sie auch noch drei Kinder von ihrem Ehemann T. L. Hodgkin bekam, machte sie mehrere entscheidende Entdeckung mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse, so stellte sie 1945 in Zusammenarbeit mit einem Kollegen die dreidimensionale Struktur eines Steroids (Cholesteroliodid) dar.

frauenfiguren lactame
Ganz links: ein β-Lactam-Ring
By Jü – Own work, CC0

Ebenso ermittelte sie die Molekularstruktur des Penicillins, eine Entdeckung, die allerdings erst 1949 veröffentlicht wurde. Sie bewies entgegen der herrschenden Meinung mit ihrer Analyse, dass Penicillin einen β-Lactam-Ring enthielt, eine molekulare Ringstruktur mit einer Amid-Verbindung. Diese Struktur hat das Penicillin mit einigen anderen Antibiotika-Familien gemein.

frauenfiguren molekularstruktur cobalamin
Kristallstruktur von Vitamin B12 (Cobalamin)
Von NEUROtiker – Eigenes Werk, Gemeinfrei

Als 1948 das Vitamin B12 zum ersten Mal in kristalliner Form isoliert wurde, nahm sich Crowfoot Hodgkin dieses Molekül zur Analyse vor. Die ungewöhnliche Größe des Cobalamin-Kristalls stellte eine Herausforderung dar und es war nichts von dem Wirkstoff bekannt, außer dass er Kobalt enthielt. Die Kristalle des Cobalamin sind jedoch pleochroisch, das heißt: Aus unterschiedlichen Blickwinkeln bzw. bei unterschiedlich polarisiertem Licht erscheinen die Kristalle in unterschiedlichen Farben. Aus dieser Tatsache schloss Crowfott Hodgkin, dass das Molekül einen Ring enthalten musste, eine These, die sie mit der Röntgenstrukturanalyse bestätigte. Ihre Ergebnisse veröffentlichte sie 1955, neun Jahre später erhielt sie für ihre Forschungsergebnisse den Nobelpreis für Chemie.

In einem besonders langfristigen Forschungsprojekt beschäftigte sich Crowfoot Hodgkin mit der Kristallstruktur des Insulins. Sie begann bereits 1934 an einer Strukturanalyse zu arbeiten, doch die Technik war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgereift. Erst 35 Jahre später, 1969, sollte sie in der Lage sein, die Molekularstruktur von Insulin vollständig darzustellen, und auch, nachdem sie diesen Meilenstein erreicht hatte, beschäftigte sie sich weiter mit dem Hormon und seiner Wirkung im Körper.

Bis in die 1980er Jahre lehrte und forschte Dorothy Crowfoot Hodgkins in Oxford; unter dem Doppelnamen veröffentlichte sie erst zwölf Jahre nach der Heirat. 1947 wurde sie als dritte Frau Fellow der Royal Society (eine ihrer Vorreiterinnen war Agnes Arber). Aufgrund ihrer Verbindung zur Kommunistischen Partei – ihr Ehemann war zeitweise Mitglied gewesen – wurde sie 1953 der USA verwiesen und durfte anschließend nur mit einer Sondergenehmigung der CIA einreisen. Dennoch wurde sie 1958 ausländisches Ehrenmitglied der American Academy of Arts & Sciences ehrenhalber. Sie selbst war nicht Kommunistin, setzte sich 1976 aber als Präsdentin der Pugwash Conferences für eine Verständigung zwischen Wissenschaftlern in West und Ost ein, um der Gefahr eines Krieges mit Atomwaffen entgegenwirken wollte. Außerdem war sie eine lebenslange Labour-Unterstützerin – und dennoch hing zu Margaret Thatchers Regierungszeit ein Bild von Crowfoot Hodgkins in der Downing Street 10: Die Iron Lady hatte 1947 bei ihr den Bachelor-Abschluss in Chemie gemacht.

Die rheumatoide Arthritis machte ihr gegen Ende des Lebens mehr zu schaffen, dennoch nahm sie immer noch an Konferenzen rund um die Welt teil. Im Alter von 84 Jahren starb sie an den Folgen eines Schlaganfalls, am 29. Juli 1994.

Ein Stipendium für „herausragende Wissenschaftler:innen im Frühstadium ihrer Forschungskarriere, die aufgrund persönlicher Verhältnisse wie Elternschaft, Pflege oder aus gesundheitlichen Gründen flexible Arbeitsstrukturen benötigen“ vergibt die Royal Society in Dorothy Crowfoot Hodgkins Namen.

*

Ebenfalls diese Woche

11. Mai 1828: Eleanor Anne Ormerod
Die Entomologin beschäftigte sich mit Schadinsekten und erhielt die Floral Medal der Royal Horticultural Society.

12. Mai 1820: Florence Nightingale
Auf diese britische Begründerin der modernen Krankenpflege, die auch mit ihrem Polar-Area-Diagramm einen Beitrag zum Fachgebiet der Statistik leistete, muss ich nicht explizit hinweisen.

12. Mai 1977: Maryam Mirzakhani
Am 13. August 2014 gewann die Mathematikerin als erste Frau und erste Person aus dem Irak die Fields-Medaille. Leider starb sie nur drei Jahre später, mit 40 Jahren, an Brustkrebs.

13. Mai 1888: Inge Lehmann
Über die Seismologin schrieb ich 2017.

14. Mai 1899: Charlotte Auerbach
Diese Genetikerin wird nicht im Zeitstrahl der Frauen in der Wissenschaft aufgeführt, ich möchte sie aber doch mitnehmen, da sie aus meiner Wahlheimat stammt. Sie erforschte an Drosophila die mutagene Wirkung von Senfgas und wurde 1957, zehn Jahre nach Dorothy Crowfoot Hodgkin, Fellow der Royal Society.

Marie Meurdrac

* vor 1613 • † ~ 1680

Marie Meurdrac kennen wir heute als Autorin des Buches La Chymie Charitable et Facile, en Faveur des Dames oder kurz La Chymie des Dames aus dem Jahr 1666.

Bei ihrem Geburtsjahr herrscht Unstimmigkeit, etwa 1610, auf jeden Fall vor 1613 kam sie als Tochter eines Notars in Mandres-les-Roses bei Paris zur Welt. Mit etwa 15 Jahren heiratete Marie Meurdrac einen Kommandanten der Garde des Charles de Valois namens Henri de Vibrac. Mit ihm lebte sie auf Château de Grosbois, wo sie gegen Ende der 1650er Jahre die Comtesse de Guiche (oder Guise) kennenlernte, die Ehefrau von Armand de Gramont. Die beiden Frauen standen sich wohl sehr nah, denn der Comtesse gilt die Widmung in La Chymie des Dames.

Meurdrac war Autodidaktin, doch aufgrund ihrer sozialen Stellung und des Vermögens der Familie ein gut ausgestattetes Labor und Zugang zu allen möglichen, auch exotischen und damit wertvollen Zutaten. Sie stand in der paracelsischen Tradition der Iatrochemie, ihre alchemistischen Experimente dienten der Ermittlung und Herstellung von Heilmitteln, im Gegensatz zum Beispiel zur alchemistischen Suche nach dem Stein der Weisen, der alle Stoffe zu Gold machen könne.

La Chymie des Dames ist ein Buch von 334 Seiten, aufgeteilt in sechs Teile. Im ersten Teil erläutert Meurdrac das alchemistische Handwerkszeug, bespricht Apparate und Gewichte, außerdem zählt sie 106 alchemistische Symbolde auf. In weiteren vier Teilen beschäftigt sie sich mit den heilkundlichen Wirkungen verschiedener Elemente: Teil Zwei beschäftigt sich mit pharmazeutischer Botanik, also mit Heilpflanzen, in Teil Drei mit der Medizin aus tierischen Produkten, in Teil Vier mit den Metallen – wobei sie diesen eher zurückhaltend gegenüberstand wegen ihrer Nebenwirkungen – und Teil Fünf befasst sich mit Arzneien, die aus den verschiedenen Stoffen der vorangegangenen Teile zusammengesetzt sind. Im letzten Teil geht sie besonders auf kosmetische Chemie ein, die den Frauen helfen soll, ihre Schönheit zu steigern oder zu erhalten.

In der Einleitung erzählt Meurdrac, dass das Buch als Notizensammlung für ihren eigenen Gebrauch begann; sie habe alle Experimente, Heilmittel und Kosmetika selbst erprobt. Sie spricht auch von dem „inneren Ringen“, das sie empfunden habe: Zwischen dem Ideal der Frau ihrer Zeit, von der erwartet wurde, „still zu sein, zuzuhören und zu lernen, ohne das eigene Wissen laut darzulegen“ und ihrem Empfinden, dass es eine „Sünde gegen die Wohltätigkeit sei, die Gott mir gegeben hat und die der Welt nützen kann“. Sie wisse, dass sie sich gegen die traditionelle Rolle ihres Geschlechtes wende, aber sie wolle ihr Wissen an andere Frauen und mittellose Schichten weitergeben. Denn schließlich sei sie nicht die erste Frau, die diese Aufgabe übernahm – sie nimmt insbesondere Bezug auf Maria Prophitessa – und dass „les ésprits n’ont point des sexe“, der Geist habe kein Geschlecht. Mit dieser ungewöhnlichen Aussage für diese Zeit gilt Marie Meurdrac auch als Protofeministin.

Ihr Buch erlebte bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein in Frnakreich fünf Neuauflagen, sechs in Deutschland und auch eine italienische Übersetzung. Marie Merudrac war mit großer Wahrscheinlichkeit eine Inspiration für Molières Die gelehrten Frauen.

WEG MIT
§218!