Die dunkle, kleine Person mit der merkwürdigen Stimme und den schwarzen Augen, die aus der Gosse kam, begann mit der Verkörperung der Camille in Pierre Corneilles Horace 1838 ihren steilen Aufstieg an den französischen Theaterhimmel. Die großen Geister ihrer Zeit überschlugen sich mit Lobhudeleien, sie bereiste Europa, Russland und Amerika und war alles im allem die Ikone ihrer Tage.
Mit ihrer eher realistischen, reduzierten Darstellungstechnik veränderte sie damals das Selbstverständnis der Theaterwelt. In einer Zeit des Aufruhrs war sie eine aus der niedrigsten Schicht in die gehobene Gesellschaft Aufgestiegene; auch deshalb wahrscheinlich höchst beliebt beim Volk. Das Zusammentreffen der politischen Umstände mit der Annäherung der darstellenden Kunst an die Wirklichkeit weckt Assoziationen zum italienischen Neorealismus im Film der 1940er-Jahre.
Kleine Abschweifung
Solche wiederkehrenden Muster in der Geschichte finde ich faszinierend. In der französischen Februarrevolution ging es um die Erhaltung der Republik, basierend auf einer starken Arbeiter- und Bürgerschicht, versus die Rückkehr zur Monarchie. Im Italien der 1940er-Jahre ging es um Marxismus, also auch die Interessen der Arbeiter, versus Faschismus, also die Interessen einer herrschenden Elite. Sicher beeinflussten die politischen Umstände nicht unmittelbar Mademoiselle Rachels Darstellungsweise – aber führten doch dazu, dass diese im Gegensatz zum vorherrschenden Pathos und der Neigung zum Goutrieren (?) erfolgreich war und vom Publikum bevorzugt und gefeiert wurde. Auch veränderte sich in der französischen Februarrevolution das Material möglicherweise nicht so deutlich, das im Theater dargeboten wurde*, während sich im italienischen Film der 1940er auch in den Topoi die Hinwendung zum Realismus manifestierte. Mademoiselle Rachel und dem italienischen Neorealismus ist jedenfalls im Gesamtbild gemein: eine Abkehr von Blenderei mit großartigen Gesten und Effekten, Pathos und Monumental-Willen, eine Hinwendung zum Klaren, Schlichten, Reduzierten, auch: Echteren, mit der Lebenswelt des Massenpublikums Vereinbaren.
* Hier fehlt es mir an Information, wie stark Klassiker dominierten und wie sehr auch die Themen der neuen Stücke sich mit den politischen Umwälzungen veränderten. Allerdings sagt mein gefährliches Halbwissen, dass die französische Revolution von 1789 auch mit der Kunst-Epoche der Aufklärung einherging. Eine ähnliche kulturelle Entwicklung im Zusammenhang mit dieser Revolution zu vermuten, liegt also nah.
Ende der Abschweifung
Mehr als für ihre Bedeutung in der Kunst ist sie für mich aber als Frau interessant. Nicht nur, dass sie nach gängigen Maßstäben nicht wirklich schön war, aber durch ihre Haltung, ihre Stimme und ihren Ausdruck faszinierte. Sie war ein Mädchen aus der Unterschicht und blieb selbst in ihren erfolgreichsten Zeiten frei von der Moralbeflissenheit des Adels und der Oberschicht. Sie blieb unverheiratet, hatte viele Affären – unter anderem mit sage und schreibe drei (!) Männern aus der Napoleon-Familie – und brachte zwei uneheliche Söhne zur Welt. Vom Vater ihres ersten Sohnes gerügt ob ihrer Untreue, äußerte sie die Worte, die nicht nur mein Lieblingszitat sein dürften: „Ich bin was ich bin; ich schätze die Mieter mehr als die Besitzer.“ („I am what I am; I prefer renters to owners.“)
Es gibt nicht viel zu finden über diese vielseitige Frau; dieser eine Text auf authorama.com über sie macht jedoch einiges wett – abgesehen von einer liebevollen Unsachlichkeit (im Vergleich zu den Wikipedia-Texten) füllt er das Bild der Mademoiselle Rachel auf mit charmanten Anekdoten und der mitfühlenden Analyse ihres Charakters und ihrer einzigen wirklichen Liebesgeschichte zum unehelichen Sohn Napoleon Bonapartes.
PS.: Von ganz persönlichem Interesse ist die Tatsache, dass es eine Strickmaschine gibt, die nach ihr benannt sein soll. Die Raschelmaschine.
Bild Mademoiselle Rachel: Von Josef Kriehuber – Eigenes Foto einer Originallithographie aus eigenem Besitz., Gemeinfrei
Bild Raschelmaschine: By Josef Worm – Die Wirkerei und Strickerei (Max Jänecke Verlag, Leipzig, 1920), CC0