Monat: Dezember 2023

52/2023: Marjan Sax, 26. Dezember 1947

Wer in Düsseldorf und Umgebung lebt und dort ab und zu einkauft, dem ist das Carsch-Haus ein Begriff, ein Kaufhaus im Baustil des Neo-Klassizismus, das einen gesamten Block umfasste. Das Gebäude hat eine bewegte Geschichte: es wurde im Krieg stark beschädigt, beherbergte nach dem Krieg Institute der Reeducation, um dann später nach einem Umzug – das Gebäude wurde eingerissen, die Fassade an einem ortsversetzten ähnlichen Gebäude befestigt – wieder lange Zeit ein Kaufhaus zu sein (der eigentliche Ort des ehemaligen Carsch-Hauses ist heute nur noch ein kleiner Platz mit einem Ausstieg aus einem Parkhaus, wenn ich mich nicht täusche). Seinen Namen erhielt das Haus vom jüdischen Inhaber des Textil-Einzelhändlerunternehmens Carsch & Co., Paul Carsch. Dieser war mit Herren- und Knaben-Konfektionskleidung erfolgreich und reich geworden – aufgrund der Maßnahmen der Arisierung unter den Nationalsozialisten musste er 1933 allerdings zwangsweise sein Unternehmen an seinen Prokuristen verkaufen. Eine monatliche Rente für Carsch und seine Familie wurde zwar vereinbart, doch der Betrag, den er für sein Unternehmen erhielt, bleib (selbstverständlich) weit unter Wert. Paul und Bella Carsch konnten mit ihren beiden Kindern Walter und Else rechtzeitig nach Amsterdam auswandern und überlebten dort den Zweiten Weltkrieg in einem Versteck. Paul Carsch erhielt nie eine Entschädigung für den erlittenen Verlust.

Walter Carsch floh von Amsterdam aus weiter in die USA, Else Carsch heiratete in Amsterdam den ehemaligen Viehhändler Josef Sax, ebenfalls vor den Nazis geflohener Jude. 1947 kam ihre gemeinsame Tochter Marjan zur Welt.

Marjan Sax studierte Politik und engagierte sich während des Studiums stark in der Feminismus-Bewegung. Sie war beteiligt an der 1969 gegründeten Dolle Mina, ein Organistation für den Kampf für Frauenrechte, benannt nach Wilhelmina Drucker, außerdem an der Gründung des Vrouwenhuis in Amsterdam 1973, einem Ort für Frauen-Gesprächs- und Aktionsgruppen, der Vereinigung Wij Vrouwen Eisen (Wir Frauen fordern) 1974, die sich für das Recht auf Abtreibung einsetzte, des Saarein, dem ältesten noch bestehenden Frauen-Cafés in Amsterdam, sowie der Abteilung für Frauenforschung an der Universität von Amsterdam. 1976 leitete Sax – ungeplant – die Besetzung der Abtreibungsklinik Bloemenhove durch Wij Vrouwen Eisen, die dazu führte, das die geplante Schließung abgewendet wurde; diese Aktion gilt als mitentscheidend bei der Änderung der niederländischen Gesetzeslage hinsichtlich der Legalität und Verfügbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen. Ein kleiner autobiografischer Rückblick darauf findet sich auf dieser Seite:

Marjan Sax‘ Vater war bereits 1973 verstorben und hatte ihr als Alleinerbin 2,5 Millionen Gulden hinterlassen, die er nach dem Krieg im Metallhandel gewonnen hatte. Sie ließ das Geld zunächst auf dem Konto ruhen, da sie mit dieser Summer nichts anzufangen wusste und Vermögen in den politischen Kreisen, in denen sie sich bewegte, als ‚gauche‚ betrachtet wurde.(1) Sie arbeitete 1977 bis 1981 als Teamleiterin an einer Hochschule, 1982 war sie Mitbegründerin des Lesbisch Archief Amsterdam, heute in der Stiftung Internationales Homo/Lesbisches Informationszentrum und Archiv (IHLIA) integriert.

Ebenfalls 1982 fand Sax schließlich die richtige Verwendung für das geerbte Vermögen: Sie rief Mama Cash (Link Englisch) ins Leben, eine Stiftung zur Unterstützung und Förderung von feministischen Projekten, in der sie bis 2003 verschiedene leitende Funktionen einnahm. Die Stiftung gibt bis heute Fördergelder an Projekte und Aktivismusgruppen des Feminismus.

Nach der Gründung von Mama Cash arbeitete Sax von 1983 bis 1986 bei der Stichtig Vrouwen en Media (Stiftung Frauen und Medien) in der Erforschung der Situation von Journalistinnen bei niederländischen Tageszeitungen. Von 1985 war sie auch am Roze Draad (Rosa Draht) beteiligt, einer Unterstützerbewegung des Sexarbeiter*innen-Vereins De Rode Draad (Der Rote Draad), der 2012 für bankrott erklärt und aufgelöst werden musste. Außerdem unterstützte sie bei Vrouwen Tegen Uitzetting (Frauen gegen Ausweisung) weiblich Asylsuchende, und noch heute ist sie Mitgleid im Ehrenrat der jüdischen, israelkritischen Stiftung Een Ander Joods Geluid (Eine andere jüdische Stimme).


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem: (1) Mama Cash

51/2023: Gila Goldstein, 18. Dezember 1947

Grabstein von Gila Goldstein, by Danny-w – Own work, CC BY-SA 3.0

Gila Goldstein kam in Turin, Italien, auf die Welt, immigrierte in früher Kindheit mit ihrer Familie nach Israel und wuchs in Haifa auf. Mit 13 Jahren verstand sie, dass sie trans* war, und begann in ihrer weiblichen Identität unter dem Namen Gila zu leben. Sie musste survival sex praktizieren – sexuelle Handlungen gegen Unterkunft, Verpflegung und Sicherheit –, überlebte auf diese Weise jedoch, bis sie 1965, mit 18 Jahren, eine geschlechtsangleichende Operation in Belgien vornehmen lassen konnte – sie war damit die erste israelische trans* Frau, die diese Operation hatte durchführen lassen, doch bereits die zweite israelische Frau, die offen trans* lebte, nach Rina Natan (Link Englisch).

Goldstein blieb in Europa und trat als (Strip-Tease-)Tänzerin auf. Erst Mitte der 1970er Jahre kehrte sie nach Israel zurück, wo sie ebenfalls als Tänzerin arbeitete, unter anderem in der Bar 51. Amos Guttman, ein schwuler israelischer Regisseur, basierte die Figur der Stripperin Apolonia Goldstein in seinem Film ‚Bar 51‚ auf Gila.

1975 war Goldstein an der Gründung der Agudah – damals noch unter dem Namen ‚Gesellschaft für den Schutz persönlicher Rechte‘ – der nationalen Organisation der LGBTQIA+Community Israels. Für ihre Arbeit im Kampf für die Rechte queerer Menschen sollte sie 2003 einen Preis gewinnen.

In den 1990er Jahren begann Goldstein ihre Karriere als Sängerin, so war sie im Club Allenby 58 fest engagiert und nahm auch einige Platten auf; zum Jahrtausendwechsel fing sie auch mit der Schauspielerei an und gewann 2005 für ihre Rolle in ‚Yeladim Tovim (Good Boys)‚ eine Auszeichnung als beste Nebendarstellerin beim Miami LGBT Film Festival. Fünf Jahre später erschien ein Dokumentarfilm über sie selbst: ‚That’s Gila, that’s me‚.

The Gila Project‚, eine israelische Organisation zur Unterstützung von trans* Jugendlichen, die 2011 gegründet wurde, ist nach ihr benannt; 2015 führte Goldstein die Tel Aviv Pride Parade an. Zwei Jahre später verstarb sie 70-jährig nach einem Schlaganfall, die Meldungen zu ihrem Tod bezeichneten sie teilweise mit dem männlichen Namen ‚Ilan Ronen‘ – nicht ihr deadname, sondern ein erfundener Name, den Gila sich für bürokratische Probleme ausgedacht und in den Ausweis eingetragen hatte. Ihre Familie stellte jedoch sicher, dass ihr richtiger Name – Gila Goldstein – auf ihrem Grabstein stand.

Am 4. Juni dieses Jahre widmete Google ihr ein Doodle für Zugriffe aus Israel, um an ihren bahnbrechenden Aktivismus für die LGBTQIA+Community in Israel zu erinnern.


Quelle Biografie: Wiki englisch

50/2023: Lucia Sánchez Saornil, 13. Dezember 1895

Geboren in eine Madrider Arbeiterfamilie mit einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester, verlor Lucia Sánchez Saornil früh die Mutter und den Bruder und wurde vom verwitweten Vater großgezogen.(1) Sie war lyrische Autodidaktin, deren Gedichte – unter dem männlichem Pseudonym Luciano de San-Saor – in Magazinen des Futurismus veröffentlicht wurden; das Pseudonym war nicht nur ein für Frauen der Zeit übliches Instrument, um überhaupt ernst genommen zu werden, es ermöglichte Sánchez Saornil auch eine erotische Explizität, insbesondere, da sie über sexuelle Begegnungen mit Frauen schrieb.

Mit 21 Jahren begann sie beim Arbeitgeber ihres Vater, der Telefónica, als Telefonistin zu arbeiten; parallel besuchte sie die Real Academia de Bellas Artes de San Fernando zu einem Studium der Malerei. In den kommenden Jahren trat sie jedoch mehr und mehr mit ihren Texten in die Öffentlichkeit, als Lyrikerin aus dem Umkreis des Ultarismus, doch auch mit politischen Texten, in denen sie die Positionen des Anarchosyndikalismus vertrat. Kurz, nachdem die Zweite Spanische Republik 1931 ausgerufen worden war, beteiligte sich Sánchez Saornil, schon nicht mehr bei Telefónica beschäftigt, an einer Streikaktion gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber teil. Auf diesem Weg kam sie in Kontakt mit der Confederación Nacional de Trabajo (CNT), einem Zusammenschluss anarchosyndikalistischer Gewerkschaften Spaniens, für die sie in den kommenden Jahren als Redaktionssekretärin(1) arbeitete. Innerhalb der politischen Arbeit für die CNT begann sie sich immer mehr dafür einzusetzen, dass die gesellschaftlichen Umwälzungen zugunsten der Arbeiterklasse gleichzeitig die Gleichberechtigung der Frauen mit sich bringen müssten; den wichtigsten Weg dahin sah sie in der Bildung der Frau, aber auch in der Bewusstmachung der Thematik innerhalb der – männlich dominierten – politischen Arbeit. In Barcelona versuchte sie, bei einigen Gewerkschaften Ressourcen für eine Organisation für die Frauenbildung zu gewinnen, ohne Erfolg, woraufhin si enach Madrid zurückkehrte.

In ihrer Heimatstadt lernte sie die Jurastudentin Mercedes Comaposada kennen. Die beiden Frauen wurden 1933 als ‚Lehrerinnen‘ zu einer Versammlung des CNT eingeladen, um die Genossen für die Probleme der Frauen innerhalb des Arbeiterkampfes zu sensibilisieren und ihre Forderung nach Gleichberechtigung zu erläutern. Sie stießen hier auf taube Ohren – die meisten Männer hatten, bei aller politische Progressivität, eine sehr traditionelle Vorstellung von der Rolle der Frau oder empfanden die gesonderte Aufmerksamkeit für die weibliche Unterdrückung als energiezehrende ‚Aufspaltung‘. Sánchez Saornil und Comaposada begannen daraufhin, über die Gründung einer eigenen Organisation nachzudenken; Sánchez Saornil, die zu dieser Zeit für eine Bahngewerkschaft arbeitete, trug dafür eine Liste der anarchosyndikalistischen Frauengruppen ganz Spaniens zusammen und nahm Korrespondenz zu ihnen auf. Sie erhielten Rückmeldungen von überallher – mit ähnlichen Frustrationen – und so entwickelte sich bis 1935 aus ihren Briefwechseln die Basis für eine landesweite Frauenbewegung. Gleichzeitig veröffentlichte Sánchez Saornil vermehrt Artikel, in denen sie die Gleichberechtigungsforderung thematisierte; dabei schreckte sie auch vor einem öffentlcihen Schlagabtausch mit dem Generalsekretär des CNT zurück, der der Meinung war, zunächst müsse der Klassenkampf gewonnen werden, bevor man sich der geschlechtsspezifischen Problematik zuwenden könnte. Gemeinsam mit der Medizinerin Amparo Poch y Gascón schließlich riefen Sánchez Saornil und Comaposada 1936, wenige Monate vor dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges die Mujeres Libres (Freie Frauen) ins Leben. Die Organisation verschrieb sich der Forderung nach Frauenbildung in der Arbeiterklasse, der Ermöglichung von Ausbildung in der Industrie für Frauen, sowie der Bewußtseinsförderung der Unterdrückung der Frau im besonderen. Frauen seien innerhalb des politischen Kampfes von ihrer dreifachen Versklavung zu befreien: Durch Unwissenheit, Sexismus und Ausbeutung.

Schon in der CNT wie auch bei den Mujeres Libres galt Sánchez Saornil als scharfsinnige, gut organisierte ‚politische Brandstifterin‘ und ausgezeichnete Rednerin. Als der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, war Sánchez Saornil an der Verteidigung beteiligt und verlegte ihre Tätigkeit auf die Kriegsberichterstattung. Sie setzte ihre Lyrik als Instrument der Agitprop ein und erregte damit international Aufmerksamkeit; so wurde die US-amerikanische Friedensaktivistin Emma Goldman durch Sánchez Saornil dazu bewegt, die internationale Unterstützung der Spanischen Republik gegen die Franquisten zu organisieren.

Nachdem Madrid gefallen war, folgte sie der republikanischen Regierung nach Valencia und arbeitete dort in den folgenden Jahren als Redakteurin der anarchistischen Presse sowie als Generalsekretärin der Solidaridad Internacional Antifascista (SIA, ‚Internationale Antifaschistische Solidarität‘), für die sie regelmäßig die Front besuchte. Zu dieser Zeit lernte sie auch ihre Lebensgefährtin América Barroso kennen. Die Mujeres Libres bestanden inzwischen aus etwa 20.000 Frauen, die auf der Seite der Republik im Bürgerkrieg kämpften; von ihren politischen Genossen erhielt die Organisation jedoch wenig Unterstützung, selbst, als sie sich offiziell als nationaler Verbund formierten. Zur gleichen Zeit lehnte jedoch Sánchez Saornil selbst auch den Zusammenschluss zum Beispiel mit anderen, kommunistischen Frauenorganisationen ab, mit der Begründung, dass nur in politischer Einigkeit – nicht durch ‚weibliche‘ Einigkeit – die menschliche Diversität abgebildet werden könne.

Als die Franquisten 1939 den Bürgerkrieg gewonnen hatten, floh Sánchez Saornil mit Barroso zunächst nach Frankreich, wo sie noch immer im Auftrag des SIA spanische Kriegsflüchtlinge unterstützte. Als Anarchistin war sie nach dem Fall der französischen Regierung in Paris im Westfeldzug der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt und entging nur knapp dem Konzentrationslager. Anfang der 1940er Jahre kehrte sie mit ihrer Lebensgefährtin heimlich nach Spanien zurück – da sie nie fotografiert worden war und zumeist unter Pseudonym veröffentlicht hatte, konnte sie unerkannt bleiben. Die Mujeres Libres hatten sich unter dem faschistischen Franco-Regime aufgelöst, ihre Genossinnen verschwiegen bis dessen Ende nach Möglichkeit ihre Zugehörigkeit. Sánchez Saornil konnte sich einen geringen Lebensunterhalt mit Bildbearbeitung verdienen, später jedoch, nachdem sie in Madrid erkannt worden war und fliehen musste(1), war sie in Valencia vom Wohlwollen der Familie ihrer Lebensgefährtin abhängig – auch diese lesbische Beziehung musste selbstverständlich geheim bleiben.

Am Ende ihres Lebens pflegte sie ihre Schwester, die an einer chronischen Erkrankung litt; drei Monate nach deren Tod verstarb auch Lucía Sánchez Saornil, am 2. Juni 1970 mit 75 Jahren an Lungenkrebs. América Barroso ließ eine Zeile aus einem ihrer Gedichte auf ihren Grabstein meißeln: „Aber…ist es wahr? Ist alle Hoffnung tot?”(1)

Dass wir noch heute im Feminismus nicht weiter sind als vor 90 Jahren – dass noch immer der Kampf um Gleichberechtigung der Frau, insbesondere der Mutter, daran krankt, dass vor der politischen Arbeit noch stets die Care-Arbeit kommt, die ihr niemand abnimmt und die ihre Energie auffrisst, beweist dieser Artikel von 1935 aus Lucía Sánchez Saornils Feder: The Woman Question in Our Ranks.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch
außerdem:
(1) Anarchismus.at

49/2023: Mao Hengfeng, 9. Dezember 1961

CN: Zwangsabbruch, später Abbruch

Die Ein-Kind-Politik, die China 1980 landesweit einführte, wurde aufgrund von mangelnder Infrastruktur zwar niemals vollständig durchgesetzt, insbesondere auf dem Land. Wo sie durchgesetzt wurde, führte sie zu großem Leid.

Mao Hengfeng hatte bereits Zwillinge, als sie 1988 zum zweiten Mal schwanger wurde. Ihr Arbeitgeber entließ sie daraufhin – denn zu den Maßnahmen gehörte auch, dass Nachbarschaften oder Betriebe eine Geburtenquote zugeteilt bekamen, deren Überschreitung kollektiv bestraft wurde. Hengfeng weigerte sich, eine Zwangsabtreibung vornehmen zu lassen, und wurde dafür in ein Ankang eingewiesen, eine psychiatrische Anstalt, in der jedoch auch immer wieder politisch Verfolgte als ‚psychisch krank‘ inhaftiert werden. Das Kind kam im Februar 1989 auf die Welt, im März erhielt Hengfeng die Nachricht, dass sie ihre Stelle verloren hätte, weil sie 16 Tage lang ‚unbefugten Urlaub‘ genommen habe – dies bezeichnete die Zeit im Ankang und im Wochenbett. Hengfeng legte Berufung ein und durfte zunächst tatsächlich in ihre Arbeit zurückkehren.

Ihr Arbeitgeber legte jedoch ebenfalls Berufung ein. Bei dem Gerichtstermin war Mao Hengfeng inzwischen im 7. Monat ihrer dritten Schwangerschaft; die Richterin stellte ihr in Aussicht, zu ihren Gunsten zu entscheiden, sollte Hengfeng diese – gegen die staatliche Maßgabe verstoßende – Schwangerschaft abbrechen. Hengfeng entschied sich dafür, doch dennoch wurde der Berufung ihres Arbeitgebers stattgegeben.

Zwischen 1990 und 2004 reichte Hengfeng immer wieder Petitionen ein, in denen sie Entschädigung und Wiedergutmachung forderte nicht nur für die unrechtmäßige Entlassung oder den Schwangerschaftsabbruch, den sie unter Druck hatte vornehmen lassen, sondern auch für die Verweigerung von Menschenrechten wie der Meinungsfreiheit durch den chinesischen Staat. Ihre Petitionen blieben allerdings nicht nur ohne Erfolg, sondenr wurden gänzlich ignoriert. Aus dem Aktivismus für die selbst erlittenen Ungerechtigkeiten entwickelte Hengfeng einen politischen Aktivismus auch für andere, die unrechtmäßig in Ankangs oder in ‚RTL‚-Lagern inhaftiert waren – Haftanstalten zur ‚Umerziehung durch Arbeit‚, in denen Kleinkriminelle ohne einen Gerichtsbeschluss bis zu vier Jahre lang festgehalten werden konnten.

Bis 2011 wurde Mao Hengfeng immer wieder unter Polizeiüberwachung oder Hausarrest gestellt oder in ‚RTL‚-Lager verbracht, etwa für die Unterstützung anderer Petitionseinreichenden oder ‚Bittsteller‘. Nachdem sie in einem Hausarrest in einer staatlichen Wohnung zwei Lampen zerstört hatte, wurde sie wegen ‚vorsätzlicher Zerstörung von Eigentum‘ zu zweieinhalb Jahren Haft im Frauengefängnis in Shanghai verurteilt. Hier erlitt sie Misshandlungen und wurde 70 Tage lang in Einzelhaft gehalten –selbst in China sind höchstens 15 Tage Isolation gesetzlich erlaubt.

Für ihren Protest und die Unterstützung von Liu Xiaobo kam Hengfeng schließlich 2010 ein weiteres Mal in ein ‚RTL‚-Lager. Hier wurde sie gefoltert, erlitt Zwangsernährung, während ihr gleichzeitig die Lebensmittel, die ihre Familie ihr zusandte, vorenthalten wurden; andere Insassinnen wurden aufgefordert, sie zu überwachen und zu schlagen, wenn sie ihre Zelle verließ. Sie verbrachte Zeit in einem Gefängniskrankenhaus, wo auch festgestellt wurde, dass die Misshandlungen bei ihr Blutungen im Gehirn verursacht hatten. Am 28. Juli 2011 wurde sie ohne die Benachrichtigung ihrer Familienangehörigen in einem Rollstuhl vor ihre Wohnung gestellt, unfähig, sich bemerkbar zu machen oder sich auch nur aufzurichten. Nachdem sie schließlich gefunden wurde, versuchte ihre Familie sie am folgenden Tag in ein Krankenhaus zu bringen, doch die Polizei verhindete dies: Es fanden zu dieser Zeit die 14. Schwimmweltmeisterschaften in Shanghai statt und ‚Menschen wie sie‘ dürften in dieser Zeit nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden. Erst nach der Meisterschaft könnte sie sich wieder frei bewegen; wahrscheinlich jedoch steht sie bis heute unter Überwachung durch die Polizei.


Dass eine Regulierung der Familienplanung durch den Staat ein unrechtmäßiger Eingriff ist, der insbesondere für Menschen mit Uterus, aber auch die Kinder, die darunter gezeugt, gar geboren werden, schreckliche Konsequenzen hat – und es macht wenig Unterschied, ob es um eine Senkung oder eine Steigerung der Geburtenrate geht – steht völlig außer Frage. In einer patriarchalen Gesellschaft, wie es auch China ist, hat eine solche Geburtenregulierung jedoch noch andere, gesamtgesellschaftliche Folgen. Da auch in China die Erblinie über die männliche Nachkommenschaft verläuft, wurden – selbstverständlich – Schwangerschaften mit weiblich gelesenen Embryos häufiger angebrochen als mit männlich gelesenen Embryos. Nicht nur verzeichnet China nun mit den inzwischen erwachsenen Generationen ein Phänomen namens ‚kleiner Kaiser‘ – von sämtlichen Verwandten verwöhnte Einzelkinder mit wenig Sozialkompetenz – sondern ein übermäßiges Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern: Bis 2009 war das Verhältnis von männlich gelesenen Kindern zu weiblich gelesenen Kindern 120:100 (statt einer statistisch wahrscheinlichen 1:1-Rate). Die vornehmlich männlichen ‚kleinen Kaiser‘ haben daher wesentlich schlechtere Chancen, eine Partnerin zu finden, schon alleine, weil es so wenige zu finden gibt – die Geburtenrate bleibt somit langfristig niedrig und das lässt sich nicht mehr verändern.

Neben der Tatsache, dass Schwangerschaften generell, aber insbesondere mit weiblich gelesenen Embryos bis ins 3. Trimester noch ‚abgebrochen‘ wurden – und in diesem Fall halte ich den Begriff der Kindstötung im Mutterleib bei ansonsten lebensfähigem Embryo für angebracht – ist auch der Fakt erschreckend, dass weiblich gelesene Kinder, die auf die Welt kamen, aus dem gleichen Grund oft in Kinderheimen vor dem Staat versteckt wurden, in denen sie meist grausam vernachlässigt wurden. Die chinesische Ein-Kind-Politik war also für alle Menschen mit Uterus eine absolute, misogyne Katastrophe.


Quelle Biografie: Wiki deutsch | englisch

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