Kategorie: Fotografie

47/2023: Erica Malunguinho, 20. November 1981

Die Region Brasiliens, in der Erica Malunguinho geboren wurde und aufwuchs, ist geprägt von der Kultur aus Afrika nach Südamerika verschleppter Sklaven. In Recife, Hauptstadt der Provinz Pernambuco im Nordosten des Landes, machen PoC einen Großteil der Bevölkerung aus; Água Fria, der Stadtteil, in dem Malunguinhos Familie lebte, ist eine vornehmlich von Schwarzen bewohnte Nachbarschaft. Ihre Mutter war gebildet und arbeitete als Krankenpflegerin, sie sorgte auch für Ericas gute Ausbildung. Die Musik und Ästhetik des Jurema Sagrada* hatte starken Einfluss auf Malunguinhos künstlerische Entwicklung. Gleichzeitig erlebte sie nicht nur Rassismus, sondern auch Colorismus – hierarische Abwertung innerhalb der Schwarzen Gemeinschaft aufgrund dunklerer Haut.


*Jurema ist eine in Brasilien heimische Akazienart, die in diesem Kult als heilig (‚sagrada‚) gilt; der Baum liefert mit Holz und Blättern Baumaterialien, und Getränke, Aufgüsse und Salben aus seinen Bestandteilen werden für rituelle Handlungen verwendet. Die Religion vereint den Naturglauben der indigenen brasilianischen Bevölkerung mit der afrikanischen Religion der Yoruba sowie dem Katholizismus.


Nach der weiterführenden Schule ging Malunguinho nach São Paulo. Die räumliche Veränderung und das Studium der Kunstgeschichte und der Ästhetik gehörten zu einer Befreiung, bei der sie auch ihre Genderidentität erkannte und akzeptierte. Sie begann ihre Transition und wählte ihren Namen: ‚Malungo‘ ist ein Bantu-Wort, das eine*n Reisegefährt*in bezeichnet, ‚-inho‚ ist die portugiesische Verniedlichungsform.

Bereits während ihres Studiums bezog Malunguinho ein Studio im Stadtbezirk Campos Eliseos, von dem aus sie als Künstlerin in vielen Kunstformen tätig ist; im Laufe der Zeit baute sie ihr Studio zu dem Kulturzentrum ‚Aparelha Luzia‚* aus, in dem vornehmlich Schwarze Kunst, Unterhaltung und Politik zusammenkommen. Es dient als safe space für von Diskriminierung Betroffene, sowohl aufgrund der Hautfarbe wie auch der Orientierung und Identität – ein Knotenpunkt für Bildung, Austausch und gegenseitige Unterstützung, frei zugänglich für alle.


*Aparelho waren Zellen des zivilen Widerstand gegen die Militärdiktatur von 1964 bis in die 1980er Jahre; Malunguinhos Kulturzentrum versteht sich als ein solches Zentrum des zivilen Widerstands mit einer weiblichen Basis, weshalb es ‚aparelha‘ heißt. Luzia ist der Name eines der ältesten Skelette, die audf dem Kontinent gefunden wurden, ein Fossil der frühesten Einwohner Südamerikas. Den Brand des Nationalmuseums 2018 überstand zumindest der Schädel und einige Teile ihrer weiteren Überreste.(1)

Malunguinho bezeichnet das ‚Aparelha Luzia‚ auch als ein ‚quilombo‚: Dies waren, zum Teil wehrhafte, Siedlungen geflohener Sklaven in Brasilien, in denen sich eben solche Kulturen wie die der Jurema Sagrada entwickeln konnten. Malunguinho nimmt damit Bezug auf die Fähigkeit und den Willen der maroons, ihre eigene Gesellschaft nach ihrer Tradition und ihren Vorstellungen aufzubauen.


Es war die Ermordung der Politikerin Marielle Franco, die Erica Malunguinho dazu bewegte, sich aktiv politisch zu betätigen. Für die Partido Socialismo e Liberdade (Partei für Sozialismus und Freiheit) trat sie 2018, unterstützt vom Kollektiv des ‚Aparelha Luzia‚, für die Parlamentswahlen für den Bundesstaat São Paulo an und gewann einen Platz, am gleichen Tag, an dem Jair Bolsonaro zum Präsidenten des Landes gewählt wurde. (1) Sie war die erste trans* Frau, die in Brasilien in ein Parlament gewählt wurde. Ihr politisches Programm richtet sich vor allem gegen Rassismus und die Diskriminierung von Menschen in der LGBTQIA+Gemeinschaft, außerdem hat sie es sich zum Ziel gesetzt, Obdachlosigkeit zu bekämpfen, Opfern von sexueller Gewalt eine bessere Versorgung in Krankenhäusern zu ermöglichen und den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen zu erleichtern. Malunguinho möchte dem Publikum in ihrem quilombo auch verdeutlichen, dass das Private politisch ist und dass die Bevölkerung die Politik mitgestalten kann.(1)

Rosa-Luxemburg-Stiftung: Interview mit Erica Malunguinho „Queer sein in Brasilien ist ein Akt der Rebellion“

Quelle Biografie: Wiki englisch
außerdem:
(1) The Nation

21/2023: Barbara May Cameron, 22. Mai 1954

CN: In Titeln und Namen von Organisationen wird das alte englische Wort für amerikanische Ureinwohner verwendet, insbesondere jedoch als Selbstbezeichnung. In dieser Form und Funktion schreibe ich es aus.

In ihrem Essay Gee, You Don’t Seem Like An Indian From the Reservation schreibt Barbara May Cameron, dass sie bis zu ihrem fünften Lebensjahr bereits erlebt hatte, wie ein alter Mann von der Polizei tödlich in den Rücken geschossen wurde, und sie stumme Zeugin war, wie eine Gruppe Jugendlicher einen älteren Herrn zusammenschlugen. Cameron kam als Kind einer Hunkpapa Lakota Familie im Standing Rock Reservat in North Dakota zur Welt und wuchs dort bei ihren Großeltern auf. Schon als Kind, erzählte sie später, habe sie von der Stadt San Francisco gelesen und gesagt, eines Tages werde sie auch dort leben und die Welt retten.(2) In der neunten Klasse gewann sie einen Schreibwettbewerb (von Pepsi), der Preis war $1000 und eine Fahrt nach Washington, D.C.(3,4)

Sie besuchte die Highschool im Reservat, im Anschluss studierte sie Fotografie und Film am Institute of American Indian Arts (Link Englisch) in New Mexico, 1973 ging sie mit 19 Jahren nach San Francisco und studierte dort am San Francisco Art Institute. Sie war als Fotografin und Filmemacherin erfolgreich, als Aktivistin für homosexuelle Indigene schrieb sie auch zahlreiche Essays und Artikel.

1975 gründete sie mit Randy Burns (Link Englisch), einem Zuñi, die Gay American Indians, die erste Organisation, die sich für die gesellschaftliche Befreiung und Sichtbarkeit homosexueller Indigener einsetzte. Die Funktion der Organisation war nicht nur, als Homosexuelle of Color einen sicheren Raum zu finden, denn der Rassismus war auch in der hauptsächlich weißen Homosexuellen-Szene massiv – Schwarze und Indigene wurden nicht oder nicht ohne Weiteres in die Clubs gelassen. GAI diente auch als anthropologische Sammelstätte, in der die homosexuellen Indigenen ihr Wissen und ihre Erinnerungen an ihre Stammeskulturen zusammentrugen. Die Terminationspolitik (CN: I*-Wort) der 1950er-Jahre hatte diese so gut wie vernichtet, bei dem Versuch, sämtliche US-amerikanischen Indigenen zu ‚assimilieren‘: An Schule war es bei Strafe verboten, die eigenen Sprachen zu sprechen oder religiöse Rituale durchzuführen, Reservate – schon extrem begrenzte Lebensräume – sollten aufgelöst werden, dabei verloren viele die staatliche Unterstützung und jeden gesellschaftlichen Halt. Die Generation, die dies durchlebte, war schwer traumatisiert. Die Mitglieder von GAI waren zumeist die Kinder dieser Generation und erzählten sich nun gegenseitig, was sie noch von ihren Großeltern erfahren und gelernt hatten; sie sammelten auch die Namen für two spirits in ihren jeweiligen Stammessprachen. So wurde GAI auch zu einem historisch relevanten Projekt.

Zwischen 1980 und 1985 war sie an der Organisation der jährlichen Lesbian Gay Freedom Day Parade beteiligt – im ersten Jahr ihrer Beteiligung war sie nicht zufrieden mit der Repräsentation marginalisierter Gruppen als Sprecher. Diesem Gefühl gab sie in einer Rede Ausdruck, in der sie den Rassismus und Klassismus der Gemeinschaft ansprach und auf die Anfänge der Pride-Bewegung hinwies(3, Transkript und Übersetzung von mir):

Ihren Text ‚Gee, You Don’t Seem Like An Indian From the Reservation‚ schrieb sie 1981; darin beschreibt sie die Schwierigkeiten zur weißen Gesellschaft ebenso wie zu ihrer eigenen Kultur; sie nennt u.a. die Ermordung von Anna Mae Aquash als Anlass für ihren politischen Aktivismus. In den frühen 1980er begann auch die Beziehung zu ihrer Lebenspartnerin, mit der sie einen Sohn großzog. 1986 lebte sie mit einer Gruppe anderer Frauen unter dem Namen ‚Sonos Hermanas‚ (Wir sind Schwestern) eine Zeit in Nicaragua, um dort Frauen zu helfen.

Ende der 1980er Jahre war sie Vizepräsidentin des Alice B. Toklas LGBT Democratic Club, 1988 trat sie als Delegierte für Jesse Jacksons Rainbow Coalition (Link Englisch) beim Parteitag der Demokratischen Partei an. Sie leitete 1989 bis 1992 die Organisation Community United Against Violence, die Opfer von häuslicher Gewalt unterstützte. Ab Anfang der 1990er begann sich Cameron auch für die Aufklärung über HIV/AIDS und die Unterstützung Betroffener in der indigenen Gemeinschaft einzusetzen; sie besuchte 1993 die International Conference on AIDS als Delegierte des International Indigenous AIDS Network. Über ihren Besuch in Berlin schrieb sie das Essay ‚Frybread in Berlin‚ (Link Englisch, ganzer Text zum Download verfügbar). Sie war im Vorstand der San Francisco AIDS Foundation und des American Indian AIDS Institute, außerdem gründete sie das Institute on Native American Health and Wellness.

Werke von ihr erschienen in diversen Anthologien und Sammlungen:
Our right to love: a lesbian resource book (1978)
This Bridge Called My Back: Writings by Radical Women of Color (Link Englisch) (1981)
A Gathering Of Spirit: A Collection of Writing and Art by North American Indian Women (Link Englisch) (1983)
New Our Right To Love: A Lesbian Resource Book (1996)

Sie starb am 12. Februar 2002 mit nur 47 Jahren und wurde auf eigenen Wunsch, nach einem Leben vor allem in San Francisco, im Standing Rock Reservat beigesetzt. Ihr Drehbuch ‚Long Time, No See‚ blieb unvollendet.

Nicht viel mehr als dies, aber sehr charmant und lebendig erzählt Dr. Leah Leach im Gal’s Guide Podcast über Barbara May Cameron.


Quelle: Wiki englisch
außerdem:
(2) KQED
(3) Pride is a Protest
(4) Indigenous Goddess Gang

17/2023: April Ashley, 29. April 1935

Content Note: körperliche, sexuelle und emotionale Gewalt, Erwähnung von Suizid

„Lieber Gott, segne meinen Vater, segne meine Mutter, segne meine Geschwister und lass mich morgen als Mädchen aufwachen.“ So beschreibt April Ashley ihr allabendliches Gebet schon als Kind. Sie war eines von sechs überlebenden Kinder eines katholischen Vaters und einer protestantischen Mutter, sie hatte drei leibliche Brüder, zwei Schwestern und einen aus Bombay adoptierten Bruder. Nur ihr Vater liebte sie, doch war als Seeman wenig zugegen; ihre Geschwister lehnten sie ab und ihre Mutter ‚verabscheute‘ sie geradezu, weil sie so anders war.(Quelle: YouTube unten) Sie wurde auch von anderen Kindern in ihrer Heimatstadt Liverpool gehänselt und verprügelt.

Mit 16 Jahren konnte sie mit Hilfe einer Kundin, der sie Einkäufe auslieferte, bei der Handelsmarine anheuern. Doch dort wurde sie von ihrem Zimmergenossen schwer misshandelt und vergewaltigt; sie unternahm einen Suizidversuch und wurde daraufhin unehrenhaft entlassen, ein weiterer Versuch brachte sie in ein Psychiatrisches Krankenhaus, in dem sie Elektroschocktherapie erhielt und ihr Testosteron verabreicht wurde.

1955, mit zwanzig Jahren, konnte sie nach London ziehen und begann dort, als ‚cross dresser‚ zu leben. Einige Zeit später ging sie weiter nach Paris, wo sie unter dem Namen Toni April lebte und im Drag Cabarat ‚Le Carousel‚ auftrat, neben anderen trans*gender Künstlerinnen wie Coccinelle und Bambi. Sie bekam dort Östrogene und sah auch die Ergebnisse von Coccinelles geschlechtsangleichender Operation (CN: Fotos), woraufhin sie ihr Geld für eine eigene Operation ansparte. 1960 hatte sie die nötigen £3.000 zusammen und reiste nach Casablanca in Marokko zu Dr. Georges Burou. Dieser führte dort die von ihm entwickelte Vaginoplastik (Kolpopoese) bereits seit 1956 durch – Ashley sei seine neunte Patientin gewesen, schrieb sie später.

Die Operation war in Marokko verboten, Dr. Burou lebte und arbeitete dort diskret, seine Patientinnen kamen durch persönliche Kontakte mit anderen Patientinnen zu ihm. Zur Einschätzung der Lage (von Wikipedia): Im Jahr 1969 musste eine deutsche Patientin 10.000,-DM im Voraus zahlen, durfte dann zehn Tage später anreisen und erhielt bei der Aufklärung auch die Erklärung, wenn es tödliche Komplikationen gäbe, würe ihr Leichnam im Meer versenkt und ihr Ausweis verbrannt. (Laut DM-Euro-Rechner entspricht der Preis heutigen etwa 21.400,- €)

Ashley beschreibt die Operation als schmerzhaft, sie habe auch alle Haare verloren, doch habe sie niemals Reue gespürt, denn ‚wenn die Operation nicht gelungen wäre, hätte ich nicht weiterleben wollen‘.(Quelle: YouTube unten)

Nach der erfolgreichen Operation kehrte Ashley nach England zurück und lebte von nun an unter dem Namen April Ashley. Sie arbeitete als Mannequin und Model, unter anderem wurde sie von David Bailey für die British Vogue fotografiert. In dieser Zeit lernte sie auch ihren späteren ersten Ehemann, den ‚Honourable‚ Arthur Corbett, später 3. Baron Rowallan, kennen. Sie machte wie viele Fotomodelle auch erste Schritte in die Filmindustrie, mit einer kleinen Rolle in der Komödie ‚Der Weg nach Hong Kong‚, in der Bing Corsby, Bob Hope und Joan Collins die Hauptrollen spielten. Die Dreharbeiten wurden 1961 abgeschlossen, 1962 sollte der Film in die Kinos kommen. Kurz nach dem Dreh verkaufte jedoch ein*e ‚Freund*in‘ Ashleys Geschichte an die Presse und das Klatschmagazin ‚The Sunday People‚ outete sie noch 1961 als trans*gender. Daraufhin verlor Ashley ihre Angebote als Model und wurde aus dem Film herausgeschnitten. Zwei Jahre später heiratete sie Arthur Corbett, doch die Ehe hielt nicht lang. Getrennt und als Protagonistin eines ‚Skandals‘ konnte sie anschließend längere Zeit nicht seßhaft werden – immer, wenn ihre Geschichte in ihrem Umfeld bekannt wurde, verlor sie ihre Anstellung – unter anderem als Kellnerin und im Kunsthandel – und sie musste umziehen. Ihr Anwalt schrieb 1967 eine Unterhaltsforderung an Arthur Corbett, woraufhin dieser eine Klage einreichte, die Ehe annullieren zu lassen; dieser Fall wurde als Corbett v. Corbett zum traurigen Präzendenzfall. Dem Annullierungsantrag wurde 1970 stattgegeben, aufgrund der Tatsache, dass Ashley legal, nach ihren eingetragenen Angaben, noch als Mann galt – eine Tatsache, die Arthur Corbett bei der Eheschließung durchaus bewusst war.

April Ashley arbeitete in den 1970er Jahren als Empfangsdame in einem Londoner Restaurant, das sich von ihrer Geschichte mehr Zulauf von Gästen erhoffte. Die Situation führte dazu, dass Ashley vermehrt Alkohol trank, was auf lange Sicht zu gesundheitlichen Problemen bis hin zum Herzinfarkt führte. Sie heiratete ein weiteres Mal, doch auch diese Ehe endete in Scheidung, wenn auch freundschaftlich. 1982 schrieb sie gemeinsam mit einem britischen Journalisten ihre Autobiografie.

In den 1990er und 2000er Jahren versuchte Ashley mehrfach vergeblich, eine Änderung ihres Geschlechtseintrages zu erreichen und somit auch legal als Frau anerkannt zu werden, doch dies gelang ihr erst 2005 – mit 70 Jahren, 45 Jahre nach ihrer geschlechtsangleichenden Operation – nachdem das Vereinigte Königreich den Gender Recognition Act (Link Englisch) umgesetzt hatte. Sie erhielt daraufhin eine geänderte Geburtsurkunde und einen korrigierten Geschlechtseintrag in ihren persönlichen Daten. Im Folgejahr veröffentlichte Ashley eine Neuauflage ihrer Autobiografie mit einigen neuen Anekdoten, doch diese wurde wegen zu großer Übereinstimmung mit ihrer ersten Biografie – an der ein anderer Autor mitgewirkt hatte – aufgrund von Plagiarismus zurückgezogen.

Ashley verlebte den Rest ihres Lebens in Fulham als trans*gender Ikone der britischen LGBTQIA+-Community, sie verstarb im Dezember 2021 mit 86 Jahren.


Interview mit April Ashley in ‚Good Afternoon‘ (CN: Biologismus, Diskussion der ‚Toilettenfrage‘, Gefahren der Inhaftierung, körperliche und sexualisierte Gewalt u.a. gegen Kinder, Suizid – in leichtem Konversationston)
Sequenz über April Ashley in ‚What Am I?‘ (CN: verbale Transphobie)
Ausschnitt aus April Ashleys Auftritt bei ‚Loose Women‘ (CN: Deannaming, Fotografie von Ashley als Jugendliche/misgendert, emotionale Gewalt gegen Kinder, Suizidalität)

Quelle: Wiki deutsch | Wiki englisch

Elizabeth Fulhame

18. Jhdt.

Elizabeth Fulhame (Link Englisch) war vermutlich Schottin, sicher war sie mit einem Arzt verheiratet und lebte in Edinburgh.

Sie begann ihre Forschungen in der Chemie, weil sie eine Möglichkeit suchte, Stoffe mit Metallen und unter Lichteinfluss zu färben. 1780 hatte sie die Idee, Textilien mittels chemischer Reaktionen mit Gold, Silber oder anderen Metallen zu gestalten, ein Plan, der von ihrem Mann und dem Freundeskreis als „unwahrscheinlich“ abgelehnt wurde. Daraufhin machte sich Fulhame an ihre Untersuchungen und Experimente zu dem, was heute als Redoxreaktionen bekannt ist, die sie 14 Jahre lang beschäftigen sollten.

Sie versuchte, Metalle aus ihren Salzen zu gewinnen, in dem sie diese in unterschiedlichen Lösungszuständen – in wässrigen oder alkoholischen Lösungen oder trocken – verschiedenen Reduktionsmitteln aussetzte. Dabei entdeckte sie, wie durch chemische Reaktionen Metalle aus ihren Salzen herausgefällt werden konnten. Ihre Entdeckung, dass Metalle bei Raumtemperatur allein mit wässrigen Lösungen bearbeitet werden können, statt auf Höchsttemperatur geschmolzen zu werden, zählt zu den wichtigesten ihrer Zeit. Fulhame erreichte theoretische Erkenntnisse zu Katalysatoren, die als entscheidender Schritt in der Geschichte der Chemie gelten – und sie gelangte zu diesen noch vor Jöns Jakob Berzelius und Eduard Buchner.

Es ist interessant, dass Fulhames Entdeckungen über die Gewinnung von Metallen aus ihren Verbindungen in der europäischen Welt ein solches Ereignis war, wo doch Alchemist:innen im östlichen Mittelmeerraum und in China dies schon mehrere Jahrhunderte vorher vermutlich beherrschten (namentlich Fang im 1. Jahrhundert vor Christus, Maria Prophitessa um das 2. Jahrhundert nach Christus, Kleopatra die Alchemistin etwa 300 nach Christus und Keng Hsien-Seng zu Beginn des europäischen Mittelalters). Möglicherweise finde auch nur ich dies verwunderlich, weil ich die tatsächlichen chemischen Prozesse nicht vollständig begreife und/oder mir die Kenntnisse der Wissenschaftsgeschichte fehlen.

Eine weitere Hypothese, die Fulhame aufstellte und experimentell untermauerte, besagte, dass viele Oxidationsreaktionen nur durch Wasser möglich sind, Wasser an der Reaktion beteiltigt ist und als Endprodukt der Reaktion auftritt. Sie schlug als möglicherweise erste Wissenschaftlerin überhaupt Formeln für die Mechanismen dieser Reaktionen vor. Gleichzeitig wich ihre Theorie über die Rolle des Sauerstoff stark von herrschenden wissenschaftlichen Meinung ab.

Im 18. Jahrhundert war ein Großteil der Chemiker von der Phlogiston-Theorie von Georg Ernst Stahl überzeugt, die eine flüchtige Substanz für die chemischen Vorgänge bei Erwärmung und Verbrennung anderer Stoffe verantwortlich machte; Luft habe hingegen keinen Anteil an den Reaktionen. Dem Gegner der Phlogistontheorie, Antoine Lavoisier, konnte sie jedoch auch nicht in allen Hypothesen zur Rolle des Sauerstoff zustimmen.

Den gesamten Experimenten Fulhames lag ja der Wunsch zugrunde, Textilien mit lichtempfindlichen Chemikalien zu färben, und so machte sie auch Versuche mit Silbersalzen. Auch wenn sie nicht versuchte, Bilder mit dieser Methode zu gestalten, kam sie damit doch den Fotogramm-Versuchen Thomas Wedgwoods zuvor. Der Kunsthistoriker Larry J. Schaaf (Link Englisch) hält ihre Erforschung der chemischen Eigenschaften des Silbers daher für wegweisend in der Entwicklung der Fotografie.

1794 brachte Elizabeth Fulhame ihr Buch „Ein Essay über Verbrennung mit einem Blick auf die neue Kunst des Färbens und Malens, in welchem phlogistische und antiphlogistische Hypothesen als fehlerhaft bewiesen werden“ (An Essay On Combustion with a View to a New Art of Dying and Painting, wherein the Phlogistic and Antiphlogistic Hypotheses are Proved Erroneous). Ihre Experimente wurden im Vereinigten Königreich von Wissenschaftlern wahrgenommen und besprochen, Sir Benjamin Thompson und Sir John Herschel (Neffe von Caroline Herschel) äußerten sich lobend über Fulhames Arbeit.

Das Buch wurde vier Jahre später von Augustin Gottfried Ludwig Lentin (Link Englisch) ins Deutsche übersetzt, 1810 folgte eine Veröffentlichung in den Vereinigten Staaten. Noch im gleichen Jahr wurde sie zum Ehrenmitglied der Philadelphia Chemical Society ernannt; sie wurde von ihrem Zeitgenossen Thomas P. Smith gelobt: „Mrs. Fulhame erhebt nun so kühne Ansprüche auf die Chemie, dass wir ihrem Geschlecht nicht mehr das Privileg verweigern können, an dieser Wissenschaft teilzuhaben.“

Trotz des Erfolges hielt der amerikanische Herausgeber des Buches im Vorwort fest, dass Fulhames Arbeit längst nicht so bekannt sei, wie sie sein könnte oder sollte: „Der Stolz der Wissenschaft lehnte sich gegen den Gedanken auf, von einer Frau (‚a female‚) belehrt zu werden.“ Und auch Fulhame selbst gestand in der Einleitung ihres Textes, dass sie mit ihren Erkenntnissen auf Ablehnung gestoßen sei, aufgrund ihres Geschlechtes.

Doch Mißbilligung ist wohl unausweichlich: denn einige sind so dumm, dass sie mißmutig und still werden, und vom kalten Schauer des Schreckens erfasst werden, wenn sie etwas ansichtig werden, das sich auch nur einer Anmutung des Lernens nähert, in welcher Form dies auch auftrete; und sollte das Gespenst in der Form einer Frau erscheinen, die Stiche, unter denen sie leiden, sind wahrlich jämmerlich.“

übersetzt von Wikipedia

Fulhame war sich ihrer Rolle als Frau in der Wissenschaft durchaus auch bewusst; zwar hatte sie das Essay ursprünglich dafür niedergeschrieben, um mit ihren Entdeckungen und Erfindungen (zum metallischen Färben von Textilien) nicht plagiarisiert werden könnte. Doch ihr Werk sollte auch als ‚Leuchtturm für zukünftige Matrosen‘ dienen, womit weitere Frauen in der Wissenschaft gemeint waren.

Lavoisier konnte auf Fulhames Kritik an seinen Sauerstoff-Theorien nicht mehr reagieren: Sechs Monate vor der Veröffentlichung war er in der Französischen Revolution unter der Guillotine gestorben (begonnen hatte sein Abstieg wohl damit, dass er eine Abhandlung Marats über Verbrennungen kritisiert hatte). William Higgins, irischer Chemiker und ein weiterer Gegner der Phlogistontheorie, drückte sein Bedauern aus, dass sie seine Arbeiten nicht berücksichtigt hätte, in denen er die Rolle des Wassers bei der Entstehung von Rost beschrieben hatte. Doch hätte er ihr Buch mit großem Vergügen gelesen und wünsche innigst, dass ihrem löblichen Beispiel vom Rest ihres Geschlechtes gefolgt würde.

47/2019: Marianne Breslauer, 20. November 1909

Marianne Breslauer begann mit 18 Jahren ihre Ausbildung als Fotografin an der Photographischen Lehranstalt Lettehaus, weil sie zwei Jahre zuvor eine Ausstellung der Riess besucht hatte und sich seither für diese neue Kunstrichtung begeisterte. Mit 20 schloss sie diese Ausbildung mit einer Gesellenprüfung (bzw. Gehilfenprüfung) ab; sie nahm im selben Jahr mit ihren Bildern an einer Ausstellung in Stuttgart teil und ging anschließend nach Paris.

Dort entwickelte sie sich von den festen handwerklichen Regeln der Portraitfotografie, die sie in ihrer Ausbildung erlernt hatte, weiter hin zu den innovativen Ideen des Neuen Sehens, auch der Impressionismus nahm Einfluss auf ihre Bilder. Über eine Freundin wurde sie kurzfristig Schülerin von Man Ray, doch der riet ihr, mit ihren Fähigkeiten ihren eigenen Weg, unabhängig von ihm, zu gehen.

Bei einer Anstellung in einem Berliner Fotoatelier erlernte sie die Entwicklung und Negativvergrößerung, bis in die 1930er Jahre konnte Breslauer ihre Bilder erfolgreich an diverse Zeitungen und Magazine verkaufen. 1931 erschloss sie sich mit einer Reise nach Palästina auch das Gebiet der Reisereportage, etwa mit Annemarie Schwarzenbach über die spanischen Pyrenäen. Doch Breslauers jüdische Herkunft wurde bei Veröffentlichungen in Deutschland zum Problem. Sie weigerte sich, ihre Bilder unter einem Pseudonym erscheinen zu lassen und ging 1933 schließlich, ohne festen Wohnsitz, ins Ausland. Erst 1936 ließ sie sich mit ihrem Ehemann, dem Kunsthändler Walter Feilchenfeldt, in Amsterdam nieder, die Fotografie gab sie auf zugunsten des Geschäfts, das sie mit ihrem Mann betrieb. Die beiden befanden sich mit ihrem neugeborenen ersten Sohn in der Schweiz, als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, und sie blieben dort in verhältnismäßiger Sicherheit. 1944 bekamen sie einen zweiten Sohn, nach Kriegsende gründeten sie ein Kunsthandelsunternehmen. Als Walter senior 1953 starb, übernahm Marianne Breslauer Feilchenfeldt das Geschäft zunächst alleine, sie wurde die erste Frau, die sich erfolgreich in dem (natürlich) männerdominierten Metier behauptete. Später stieg ihr ältester Sohn mit in das Unternehmen ein.

In den 1980er Jahren wurden Breslauers Arbeiten von der Kunstszene wiederentdeckt. Nachdem sie 2001 starb, ging ihr Nachlass an die Fotostiftung Schweiz; auf deren Seite findet sich auch eine ausführliche Biografie mit einigen Bildern. Zur Ausstellung Marianne Breslauer – Unbeachtete Momente, die die Berlinische Galerie 2010 zeigte, schrieb die Jüdische Allgemeine einen Bericht mit kritischer Perspektive.

Google-Ergebnisse für Marianne Breslauer

41/2019: Carolee Schneemann, 12. Oktober 1939

Die New Yorker Künstlerin Carolee Schneemann setzte sich schon im College mit der unterschiedlichen wechselseitigen Wahrnehmung des männlichen und weiblichen Körpers auseinander. Vor allem die unterschiedliche Wertung der weiblichen Eigenwahrnehmung und -betrachtung durchzieht als Thema ihre Werke: Wie der weibliche Körper als Objekt (männlicher) künstlerischer Betrachtung geschätzt, aber als Subjekt der (weiblichen) künstlerischen Wahrnehmung verpönt ist – diese Diskrepanz begegnete ihr in ihrer Ausbildung und wurde zu einem Thema ihres Schaffens. (In diesem Artikel vom Observer wird dieser Sexismus der Kunst anhand eines Memes sehr schön dargestellt; die darin erwähnte Analyse von John Berger – Ways of Seeing, Episode 2 – habe ich auch gefunden und empfehle die Sichtung!)

„Eine Malerin, die Leinwand verlassen habe, um den Raum der Gegenwart und gelebte Zeit zu aktivieren“ (Quelle: Wikipedia) nannte Schneemann sich selbst. Der Wikipedia-Eintrag ist ausführlich und lädt zu einer weiteren Beschäftigung mit ihrer Kunst (und der ihrer Kollaborateure und Beeinflusser) ein. Ich möchte mich auf nur vier Werke beschränken, die mich persönlich besonders interessieren oder berühren.

Fuses (explizit) ist eine filmische Collage, in der Schneemann Bilder ihrer selbst und ihres damaligen Partners James Tenney nackt und bei sexuellen Handlungen, in nicht-chronologischem Schnitt und mit künstlerischer, analoger Bildbearbeitung – immer wieder erscheint auch ihre Katze wie ein neutraler Beobachter des Gezeigten. Angestoßen zur filmischen Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper in der Kunst und beim Sex wurde Schneemann von Stan Brakhage und dessen Window Water Baby Moving (explizit), welcher künstlerisch bearbeitet eine Geburt zeigt. Mit Fuses setzte sich Schneemann mit der Frage auseinander, ob die Darstellung des eigenen sexuellen Aktes sich von Prongraphie und klassischer Kunst unterscheidet. Obwohl das Video nicht ausgesprochen „pornographisch“ ist, wurden ihr Zügellosigkeit und narzisstischer Exhibitionismus vorgeworfen. Schneemann selbst merkte an, dass die künstlerische Bearbeitung für viele Betrachter hinter dem expliziten sexuellen Inhalt zurücktritt.

Ein Malerei-Happening, bei dem sich Schneemann in ein Geschirr hängte, um sie umgebende Wände mit Wachsmalstiften zu bemalen, ist Up to and Including Her Limits. Auch hier die Beschäftigung mit den Begrenzungen und Beschränkungen des weiblichen Körpers in der Kunst.

Von Interior Scroll gab es zwei Ausgaben. Eine erste fand auf einer Kunstausstellung namens Women Here and Now statt, zu Ehren des Jahres der Frau der Vereinten Nationen 1975. Schneemann stand unbekleidet bis auf ein Tuch und eine Schürze auf einem Tisch und las aus ihrem Buch Cézanne, she was a great painter, während sie wechselnde Posen einnahm, wie sie in Übungsklassen zum Aktzeichnen üblich sind. Nachdem sie die Schürze ausgezogen hatte, zog sie eine fortlaufende Papierrolle aus ihrer Vagina, von der sie einen Text vorlas, der aus einem ihrer Experimentalfilme stammte. Sie wiederholte diese Performance zwei Jahre später auf einem Filmfestival, zu dem Brakhage sie eingeladen hatte, namens The Erotic Woman. Aus Protest gegen diesen eingrenzenden Titel verlas dieses Mal von der Papierrolle eine Unterhaltung mit einem ungenannt bleibenden Filmkritiker (welchen sie später als die Filmkritikerin Annette Michelson enttarnte), in welcher sie für ihre „weibliche“ Kunst kritisiert wird. Sie wollte mit dieser Performance „die unsichtbare, marginalisierte und zutiefst unterdrückte Geschichte der Vulva [physikalisieren], diese mächtige Quelle des orgasmischen Vergnügens, der Geburten, der Transformation, der Mesntruation, der Mutterschaft, um zu zeigen, dass sie kein toter, unsichtbarer Ort ist“. (Quelle: Hyperallergic.com, Forty Years of Carolee Schneemann’s „Interior Scroll“)

Eine Variation dieser Veräußerung des vaginalen Inneren ist übrigens Casey Jenkins‘ Casting Of My Womb.

Mit einem jüngeren Werk stieß Schneemann wiederum auf Sensibilität: Die Bilder von Terminal Velocity entstanden wenige Monate nach dem 11. September 2001. Schneemann scannte Zeitungsfotos von neun Menschen, die aus dem World Trade Center in den Tod sprangen, und zoomte mit digitaler Technik soweit in die Bilder, dass diese als Individuen in einer verzweifelten Situation begreifbar wurden. Kritik erntete sie dafür aufgrund der Möglichkeit, dass diese Personen auf den Bildern von ihren Angehörigen erkannt werden könnten und damit Leid verursacht würde.

Carolee Schneemann starb am 6. März dieses Jahres. Deutschlandfunk Kultur führte anlässlich ihres Todes ein Interview mit Sabine Breitwieser, die Schneemanns Kunst 2015 für das Museum der Moderne in Salzburg kuratierte.

Generation Wealth

Lauren Greenfield (USA 2018)

Full Disclosure: Der deutsche Verleih JIP Film und Verleih ist an mich herangetreten und hat mir den Film für diese Rezension zugänglich gemacht; kein weiteres Honorar wurde vereinbart. Der Text spiegelt meine unbeeinflusste Meinung wieder.

Von Jugendlichen in Los Angeles, die „im Schatten Hollywoods“ aufwachsen, über Magersüchtige, die in einer Reha-Klinik versuchen, eine gesunde Beziehung zu ihrem Körper und seinem Nahrungsbedürfnis aufzubauen, bis hin zur Königin von Versailles – die Fotografin und Dokumentarfilmerin Lauren Greenfield hat sich im Laufe ihres beruflichen Lebens immer wieder mit Extremen befasst. Darüber, so sagt sie in ihrem neuesten Dokumentarfilm, hofft sie den Mainstream besser verstehen zu können.

In „Generation Wealth“ wirft Greenfield einen anthropologischen Blick auf die eigene Kultur und sich selbst als Teil davon. Ihre chronologische Aufarbeitung beginnt mit dem, was der american dream einst für ihre Einwanderer-Großeltern war – dass jeder es zum Erfolg bringen kann, unabhängig von Herkunft und Ausgangspunkt – und wie daraus in den 1980er Jahren die Gier nach Mehr zu einer Tugend wurde, so ausformuliert von Gordon Gecko (Michael Douglas) in „Wall Street„, dem symptomatischen period piece der Dekade. Greenfield selbst begann in den 1990ern zu arbeiten und richtete ihren Fokus auf die extremen Ausformungen der Wohlstandsgesellschaft, die dem folgten. Der vorliegende Dokumentarfilm entstand parallel zur Arbeit an der Ausstellung mit Fotoband gleichen Namens, bei der sie in den vergangenen 10 Jahren rund um die Welt Menschen vor die Kamera holte, die wealth (Reichtum, Vermögen, Wohlstand, aber auch Fülle oder Schatz) haben, hatten oder erreichen wollten – ein Panoptikum des gelebten Kapitalismus. Zu manchen ihrer Protagonisten hat Greenfield eine persönliche Beziehung, aus der Schul- oder Studienzeit; einige trifft sie im Lauf der Arbeit immer wieder und zeichnet damit nach, welche Kosten, aber auch welche Erkenntnisse das exzessive Streben nach Mehr mit sich bringt. Dabei nimmt Greenfield sich selbst als arbeitswütige Mutter nicht aus der Betrachtung heraus: Wiederholt sie das Leben ihrer Mutter, von der sie sich verlassen fühlte?

Greed is right, greed works. Greed clarifies, cuts through, and captures the essence of the evolutionary spirit. Greed, in all of its forms; greed for life, for money, for love, knowledge has marked the upward surge of mankind.

Gordon Gecko (Michael Douglas) in „Wall Street“

In den teilweise schmerzhaften, erschreckenden, vielleicht für einige gar abstoßenden Szenen, die Greenfield zusammenträgt, wird unleugbar deutlich, wie die Fixierung auf das Anhäufen von Reichtum, von außen sichtbaren Zeichen des Erfolges – wie der Kapitalismus ihn versteht – zur Kommerzialisierung und unweigerlich zur Verdinglichung des menschlichen, insbesondere des weiblichen Körpers wird. Ob es von Greenfield so gemeint ist oder nicht: Auch im Dokumentarfilm selbst stehen die Männer und Frauen in sehr unterschiedlichem Verhältnis zur Gier-Kultur. Florian Homm, vom FBI-gesuchter Ex-Hedgefond-Manager, der jetzt in seiner hessischen Heimat quasi im Exil lebt, erklärt die Börse und zeigt nur in Bezug auf seine eigenen Verluste Reue; Bret Easton Ellis, Autor von „Unter Null“ und „American Psycho“, und der Journalist Chris Hedges erörtern die Sachlage aus einer Position der körperlichen, seelischen und finanziellen Unversehrtheit. Die Frauen vor Greenfields Kamera hingegen tragen alle Spuren der absoluten Kommodifizierung des weiblichen Körpers im Kapitalismus davon: Da erzählt Kacey Jordan, die Pornodarstellerin, die einst für eine fünfstellige Summe (angeblich) zwei Tage lang mit Charlie Sheen feierte, von Salmonellenvergiftung durch Bukkake und gerissenem After, während sie mit der Übelkeit einer Schwangerschaft kämpft, die sie dieses Mal austragen möchte. Da ist die Busfahrerin, die sich so hoch verschuldet, dass sie schließlich im Auto lebt, um wenigstens den schönsten Körper zu haben, den sie haben kann – wenn sie schon nicht mehr vom Eigenheim träumen kann, möchte sie ihrer Tochter wenigstens diese Erfolgsstory vorleben. Und die erfolgreiche Börsenmaklerin, die mit 40 ihren Kinderwunsch auch mit Hilfe mehrerer Fertilitätsbehandlungen nicht mehr mit dem eigenen Uterus erfüllen kann und das Kind, von einer hochbezahlten Leihmutter geboren, schließlich alleine im Luxus großzieht. Dazwischen Bilder der Magersüchtigen aus Greenfields erstem Dokumentarfilm „Thin“ und Stripperinnen in Altanta aus „Magic City„, den Greenfield 2015 drehte.

„If you think that money will buy you anything and everything, you’ve never ever had money.

Florian Homm in „Generation Wealth“

Und Greenfield selbst, die sich der Tatsache stellen muss, dass sie mit ihrer Arbeitswut eine Entfremdung von ihren Kindern in Kauf genommen hat, an der auch ihre Beziehung zur eigenen Mutter krankt. An diesen Stellen gerät der Film in Gefahr, als Kritik an den Errungschaften des Feminismus verstanden werden zu können: Seht, wohin es führt, wenn die Frauen die gleichen Ziele haben wollen, die die Männer seit Jahrhunderten selbstverständlich verfolgen. Tatsächlich aber stellt der Film die Frage nach dem richtigen Leben im falschen, hier: Kann es ein gutes, erfolgreiches Leben für Frauen – oder: für alle – geben im vom Patriarchat geprägten und beherrschten kapitalistischen System? „Generation Wealth“ zeigt deutlich, wie sehr sich in der Wohlstandsgesellschaft Erfolg in sichtbaren, anfassbaren Dingen bemisst, in Besitztümern und, per Objektifizierung der Frau, in Körpermerkmalen, und wie langwierig und schmerzhaft die Besinnung darauf ist, dass dabei die nicht messbaren, nicht von außen zu beurteilenden Schätze auf der Strecke bleiben: Familie, Liebe, Vertrauen, Würde.

Mit den Bildern von zwei sehr unterschiedlichen Müttern, die die kommende Generation heranziehen und so mit ihren Erfahrungen die Gestaltung der zukünftigen Kultur beeinflussen, lässt der Film den Zuschauer zwischen Hoffnung und Skepsis zurück: Die ehemalige Schulkameradin Greenfields, die trotz ihrer wirtschaftlichen Armut dank ihres guten Aussehens in den gehobenen Zirkeln im Schatten Hollywoods akzeptiert wurde, zieht ihre Kinder gänzlich ohne Medien auf; kein schädlicher Einfluss soll auf die jungen Seelen einwirken, doch die Welt, die die Mutter gestaltet, wirkt idealisiert und realitätsfremd. Demgegenüber die alleinerziehende Mutter, die sich ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit erarbeitet hat und es sich nun leisten kann, ihre Zeit in ihr einziges Kind zu investieren – und eine Welt um das Kind herum schafft, in der, ebenso realitätsfremd, niemals etwas nicht zu haben ist. Und auch hier, dazwischen: Lauren Greenfield selbst, die nach den Sätzen ihrer Söhne, dass „der Schaden schon angerichtet“ ist und der Vater eben die Hauptrolle in ihrem Leben spielt, wieder auf die Philippinen reist, um ihre Arbeit fertigzustellen: Sie sind Produkte ihrer Genese und können nicht anders, als in dem einzigen System weiterzumachen, das sie kennen, so transformiert sie auch selbst sein mögen.

It’s kind of ironic that I’ve chosen to raise my kids in the exact same world that I grew up in. Same neighbourhood, same school, same pressures. And even though I can deconstruct the culture in my world, I’m still susceptible to its influence. It’s just who I am, it’s not that I can really stop.

Lauren Greenfield in „Generation Wealth“

Greenfields Dokumentarfilm bringt mit seiner Aussage, dass Geld und Schönheit nicht glücklich macht, dass es die Ausgewogenheit ist, in der Menschen Frieden und Zufriedenheit finden, nicht unbedingt neue oder originelle Erkenntnisse zutage, doch vermittelt der Film eine Dringlichkeit, umzudenken und zu reevaluieren, die lange nachwirkt. Indem die Regisseurin sich selbst als Objekt der Betrachtung nicht ausschließt und eine Beurteilung ihrer Protagonisten unterlässt, bleibt sie bemerkenswert authentisch; ihre „unwissenschaftliche“, menschliche Nähe zu den Menschen vor der Kamera und ihr Eingebundensein in die Kultur, die sie betrachtet, macht die Verluste und die drohenden Gefahren des „Koste-es-was-es-wolle“-Kapitalismus spürbar.

Ohne Zweifel wird „Generation Wealth“ bei jedem Zuschauer, gleich welcher Position in der Gesellschaft und mit welcher Biografie, sensible Punkte berühren; bei manchen vielleicht sogar, wie ich es persönlich für mich empfand, einen Perspektivgewinn für die eigene aktuelle Lebenslage. Was der Wert dessen ist, was wir besitzen, im Vergleich zu dem, was wir tun, wem wir es überlassen, unseren Erfolg zu bemessen und an welchen Maßstäben: Diese Fragen sollten wir uns stellen, und „Generation Wealth“ bietet gute Gelegenheit dazu.

„Generation Wealth“ kommt in Deutschland am 31. Januar in die Kinos, Termine können auf der Seite des Verleihs jip film abgerufen werden.
Die Fotoausstellung zum Film ist vom 30. März bis 23. Juni in den Deichtorhallen in Hamburg zu sehen.

04/2018

3. April 1907: Lola Álvarez Bravo
Die Fotografin, eine der ersten Mexikos, trug zur nachrevolutionären Kulturblüte des Landes bei und war unter anderem mit Frida Kahlo und dem Dichterkreis Los Contemporáneos bekannt. Zunächst unter der Ägide ihres Mannes Manuel Álvarez Bravo, entwickelte sie bald ihren eigenen Stil, inspiriert von anderen in Mexiko tätigen Fotografen wie Tina Modotti und Edward Weston. Auch privat trennte sie sich von ihrem Mann und hatte zeitweise eine Beziehung mit María Izquierdo. Mit 37 Jahren hatte sie ihre erste allein bestrittene Ausstellung im Palacio de Bellas Artes, dem wichtigsten Kulturhaus Mexikos; sieben Jahre später eröffnete sie ihre eigene Galerie, in der Frida Kahlo 18953 ihre einzige Soloausstellung erhielt. Sie unterrichtete an der Academia San Carlos und war 1955 an Edward Steichens Fotoausstellung The Family of Man beteiligt.

LolaAlvarezBravo

Lola Alvarez Bravo

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4. April 1927: Aušra Augustinavičiūtė
Die litauische Psychologin, Soziologin und Ökonomin ist die Begründerin der Sozionik, die ähnlich dem Myers-Briggs-Typenindikator die Aspekte menschlicher Persönlichkeiten in unterschiedliche Funktionen und Beziehungstypen einteilt.
Während der MBTI in den englischsprachigen Ländern verbreitet ist, ist die Sozionik das Gegenstück im russischen, slawischen und baltischen Raum. Die Sozionik erforscht, basierend auf C. G. Jungs psychologischen Typen, wie Menschen Informationen aufnehmen, verarbeiten und weitergeben. Sie teilt Eigentschaften und Neigungen des Menschen in so genannte Dichotomien, Gegensatzpaare oder Skalen, auf: Logik – Ethik, Intuition – Sensorik, Introversion – Extraversion, Rationalität – Irrationalität. Aus diesen leiten sich die acht Aspekte ab, aus deren unterscheidlichen Kombinationen in einem individuellen Charakter sich die sechszehn Typen ergeben.
Hauptkritikpunkt ist, dass ebenso wie der MBTI ein Testergebnis der Sozionik dem Barnum-Effekt unterliegt: Dass Menschen in einem ausreichend unspezifischen Text immer zutreffende Beschreibungen für sich finden.

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5. April 1970: Miho Hatori
Die japanische Musikerin arbeitete bereits in ihrer Jugend in einem Plattengeschäft in Tokyo und war an der Hiphop Crew Kimidori beteiligt. Mit 22 Jahren ging sie nach New York, um Kunst zu studieren. Zunächst sang sie in der Punkband Laito Lychee, dann traf sie Yuka Honda und gründete mit ihr das Triphop-Projekt Cibo Matto, bei dem sie unter anderem auch mit Sean Lennon kooperierte. Sie war eine (oder die erste) Sprecherin der Gorillaz-Gitarristin Noodle.

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17. April 1957: Jacqueline Moudeina
Die Menschenrechtsaktivistin musste 1979 ihre Heimat Tschad wegen des einsetzenden Bürgerkriegs verlassen. Sie beendete ihr Studium der Rechtswissenschaften in Brazzaville, Republik Kongo, wo sie sich auch der kongolesischen Sektion der Menschenrechtsorganisation ihres Heimatlandes, ATPDH, anschloss.
1995, nachdem das Terrorregime des Diktators Hissène Habré gestürzt worden war, kehrte sie in den Tscshad zurück und setzte sich seitdem für die Rechte von Frauen, Kindern und Minderheiten ein. Seit dem Jahr 2000 kämpft sie als Anwältin für die Opfer des Habré-Regimes: Der Politiker wird beschuldigt, für 40.000 politisch motivierte Morde vor allem an Minderheiten im Tschad verantwortlich zu sein. Da der Ex-Diktator im Senegal lebte, reichte sie entsprechende Klage beim Obersten Gerichtshof des Senegal ein und erstatte zeitgleich im Tschad Anzeige gegen seine Sicherheitsbeamten. Der Gerichtshof im Senegal sah sich als nicht zuständig an, weshalb Moudeina sich an ein Gericht in Belgien richtete – aufgrund des Weltrechtsprinzips, nach dem völkerstrafrechtlich relevanten Taten überall in der Welt verfolgt werden können. Ein belgischer Beamter nahm sich des Falles an, untersuchte die Vorwürfe und erließ schließlich einen internationalen Strafbefehl gegen Habré. Die Afrikanische Union hingegen verlangte die Verfolgung der Klage im Senegal, da „kein afrikanisches Staatsoberhaupt außerhalb Afrikas verurteilt werden sollte“. Nach weiterem Hin und Her, währenddessen sich der Senegal einer Strafverfolgung Habrés zunächst verweigerte und Moudeina wiederum in Belgien auf seinen Prozess drängte, musste sich Habré schließlich 2013 in der senegalesichen Hauptstadt Dakar für Kriegsverbrechen, Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten und wurde 2016 schließlich, für Vergewaltigungen, sexuelle Sklaverei und Anordnung illegaler Tötungen, zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt.
Moudeina setzt sich weiterhin, gegen den Widerstand in ihrem Heimatland, für Menschen- und Kinderrechte ein, zum Beispiel gegen den Verkauf und die Versklavung von Kindern als Rinderhirten. Sie wurde 2001 bei einer Demonstration von einer Handgranate, die gezielt vor ihr platziert wurde, am Unterleib verletzt und trägt noch immer Granatensplitter in den Beinen, die ihre Gesundheit beeinträchtigen. Sie bestand trotz Gängeleien durch die tsschadischen Behörden immer wieder darauf, von medizinisch notwendigen Aufenthalten in Frankreich in ihre Heimat zurückzukehren; erst, als sie 2008 enthüllte, dass der Präsident Idriss Déby, Kindersoldaten in den tschadisch-sudanesischen Anteil am Dafur-Konflikt gesendet hatte, wurde die Bedrohung im eigenen Land so groß, dass sie Antrag auf Asyl in Frankreich stellte.

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25. April 1956: Jaroslava Schallerová
Nennung ehrenhalber, weil die Schauspielerin die Hauptrolle im Film Valerie – Eine Woche voller Wunder spielt, einem surrealistischen Märchen um ein junges Mädchen in einer traumartigen Welt voller Ungeheuer und Sexualität.

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28. April 1926: Bhanu Athaiya
Die Kostümbildnerin wirkte ihrer 41 Jahre umfassenden Karriere an 150 Filmen mit, vor allem an indischen Produktionen. 1983 gewann sie gemeinsam mit John Mollo den Oscar für bestes Kostüm, für ihre Arbeit an Richard Attenboroughs Monumentalwerk Gandhi. Sie gewann außerdem drei indische Filmpreise, unter anderem den Filmfare Award für ihr Lebenswerk.

16/2017: Laura Gilpin, 22.4.1891

Wiki deutsch
Eine Fotografin, deren bevorzugtes Bildmotiv Personen und Kultur der amerikanischen Ureinwohner war, speziell der Navajo.
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Wiki english
A photographer whose preferred motif was persons and culture of Native Americans, specifically Navajo.
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