Anita Borg liebte schon als Kind freigeistiger Eltern die Mathematik, weil sie sie als Rätselspielerei empfand, dennoch blieb sie bei ihrem ersten Besuch eines College unentschlossen, Mathematik als Hauptfach zu wählen. Nach zwei Jahren des Herumlavierens, sie hatte inzwischen auch geheiratet, ging sie mit ihrem Mann nach New York, um zu arbeiten und mit dem Geld das Studium ihres Mannes zu finanzieren. Eine Tätigkeit, die für sie auch ohne Collegabschluss offenstand, war die Datenverarbeitung, in der die Computer gerade Einzug hielten, und so lernte sie für eine Anstellung die erste höhere Programmiersprache Fortran und für eine weitere Stelle die von Grace Hopper entwickelte Programmiersprache COBOL. Kurz darauf wurde ihre Ehe geschieden, sie kehrte zurück ans College und wusste dieses Mal, dass sie etwas studieren wollte, mit dem sie später ihren eigenen Unterhalt verdienen konnte: Das Fach Informatik bot ihr nach den Erfahrungen in der Arbeitswelt diese Sicherheit, und die Mathematik war ein integraler Bestandteil des Faches.
Sie beendete ihr Studium mit einem Doktortitel, obwohl das Stipendium, das sie auf den Pfad zum höheren Abschluss geführt hatte, auslief und sie die letzten drei Jahre neben dem Studium arbeiten musste. Sie hatte sich in ihrer Doktorarbeit mit Betriebssystemen befasst und begann anschließend, an einem fehlertoleranten Betriebssystem zu arbeiten, das schlussendlich von Nixdorf als „Targon“ auf den Markt gebracht wurde. Mit der wissenschaftlichen Arbeit, die sie über die Entwickling des Programmes schrieb, machte sie sich einen Namen in der jungen IT-Branche, wurde als Sprecherin zu Konferenzen eingeladen und bei der Digital Equipment Corporation eingestellt.
Als deren Angestellte besuchte sie 1987 ein Symposium über Betriebssysteme und stellte auch dort – wie schon zuvor im Informatikstudium – fest, wie ungleich das Geschlechterverhältnis auf dem Gebiet der IT war: Von 400 Teilnehmern waren etwa 30 weiblich. Als einige der Frauen auf der Damentoilette ins Gespräch kamen, wurde zunächst nur ein gemeinsames Essen geplant. Aus dem gemeinsamen Essen entstand Systers, eine der ersten Mailinglisten überhaupt, für Frauen, die an Betriebssystemen arbeiteten. Bald wurde die Mailingliste erweitert und war schließlich offen für alle Frauen, die technisch in der IT-Branche arbeiteten.
Die Anforderungen an Mailingsysteme vor dem Internet oder zumindest seiner frühesten Anfänge waren das, was auch Borg beruflich interessierte. Sie entwickelte mit Kollegen das Mailingsystem Mecca, in dem der Absender einer E-Mail seine Empfänger nach Bereichen filtern konnte, aber auch die Empfänger – die zum Teil nur wenig Speicherplatz hatten oder nur selten Gelegenheit, ihre E-Mails abzurufen – konnten ihre empfangenen E-Mails nach Themen und Absendern filtern. Bis dahin hatten Mailingsysteme sich auf die Mitarbeiter innerhalb eines Unternehmens konzentriert, Borg entwickelte nun eines, das für eine vielfältigere Gruppe Nutzer praktikabel sein sollte. Dabei erhielt sie von ihrem Arbeitgeber nicht so viel Unterstützung, wie ihr eigentlich zugesagt wurde, und ein Anschlussprojekt, an dem sie arbeitete, ging im Endeffekt daran zugrunde, dass ihr die Leitung nicht anvertraut wurde – weil sie eine Frau war – und der „ältere Mann“, dem die Projektleitung zugetraut wurde, kein Interesse hatte. Nach diesem Affront verließ sie DEC und begann, für die Stärkung der Frauen im IT-Bereich einzusetzen. Dabei interessierten sie nicht nur die Frauen, die Hard- und Software entwickelten, sondern auch die Perspektiven weiblicher Nutzer.
Nach verschiedenen gemeinsamen Projekten in dieser Sache gründete Borg 1997 schließlich mit Hilfe anderer erfolgreicher Frauen der IT-Branche und der finanziellen Unterstützung u.a. von Xerox und Hewlett Packard das Institute for Women and Technology (heute: AnitaB.org). Drei Jahre zuvor hatte sie mit der Grace Hopper Celebration of Women in Computing die heute noch größte Konferenz für Computerspezialistinnen weltweit ins Leben gerufen.
Anita Borg starb leider schon 2003, im Alter von 54 Jahren, an einem Hirntumor. Die lesenswerte Quelle der meisten Angaben, die ich hier mache, ist dieses Interview von 2001 (engl.).
Dank Systers gilt Borg als Vorreiterin des Cyberfeminismus. Sie selbst betonte, dass es den Frauen bei der Mailingliste um fachlichen Austausch ging; die Themen der E-Mails waren strikt auf Technik und berufliches beschränkt. Darin wird deutlich, dass das Problem der Geschlechterungleichheit in technischen Branchen nicht die Themen sind – für die sich Frauen durchaus interessieren – sondern die Form der Kommunikation. Die Frauen in Systers schufen sich einen Raum, in dem sie miteinander auf Augenhöhe waren und nicht in einem patriarchalisch geprägten Austausch entweder „männliche“ Ausdrucksformen annehmen mussten oder verdrängt würden. Mit dieser Verquickung von gebündeltem technischem Wissen einerseits und weiblich geprägter Kommunikation andererseits lieferten Borg und ihre Kolleginnen die praktische Seite des Cyberfeminismus, der im Zuge der dritten Welle des Feminismus in Kombination mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten entstand. Ich möchte hier noch auf den englischen Wikipedia-Artikel über Cyberfeminism hinweisen, der wesentlich ausführlicher ist als der deutsche und zu einer ganzen Serie über Feminismus in der englischen Wikipedia gehört.
Der Cyberfeminismus wird von den Beteiligten verstanden als postmoderne Bewegung, die die neuen Technologien dazu nutzt, die bisherigen Beschränkungen von selbst- und fremdzugeschriebenen Identitäten aufzulösen – bei der Begegnung im virtuellen Raum sind Geschlecht, Orientierung, Herkunft unbekannt und können stets neu und anders definiert werden. In der Auflösung dieser sozialen Konstrukte liege die persönliche Freiheit, somit ist der Cyberfeminismus auch der Gendertheorie verbunden. Der intersektionelle Feminismus, wie er heute im Internet formuliert wird und sich wiederum im real life in veränderten Denk- und Lebensweisen niederschlägt, ist ohne diese Vorläufer nicht denkbar.
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