Kategorie: Biologie

36/2020: Isabella Preston, 4. September 1881

(Aktualisiert am 15. September 2020)
Isabella Preston (Link Englisch) kam im englischen Lancashire als Tochter eines Silberschmieds zur Welt. Mit acht Jahren besuchte sie eine Schule in Liverpool, später wohl die Universität London, jedenfalls absolvierte sie zehn Jahre an Lehrinstituten. Ihre Eltern waren beide leidenschaftliche Gärtner:innen, Isabella wuchs mit dieser Leidenschaft auf und war nach eigener Aussage ‚mit einem grünen Daumen geboren‘.

Als ihr Vater 1902 starb, übernahm Isabella 21-jährig die Haushaltsführung der Familie und den Garten. Zum Anfang des 20. Jahrhunderts waren Pflanzen aus China und Südamerika der neueste Trend im Gartenbau, der auch Preston beeinflusste. Mit 25 Jahren besuchte sie für ein Jahr das Horticultural College in Swanley, doch eine weitere Ausbildung im Gartenbau verfolgte sie zunächst nicht.

Als sie 31 Jahre alt war, starb auch ihre Mutter. Ihre Schwester Margaret nahm daraufhin eine Stelle als Musiklehrerin in Kanada an und überzeugte Isabella, mit ihr zu kommen. So gingen die beiden 1912 gemeinsam nach Guelph, Ontario; Isabella arbeitete dort zunächst als Obstpflückerin für Pflaumen, Pfirsiche und Himbeeren. Sie fasste den Entschluss, den Gartenbau als professionelle Karriere zu verfolgen, obwohl ihr im privaten Umkreis davon abgeraten wurde, unter anderem aufgrund ihres Geschlechts. Doch bereits im Jahr ihrer Immigration begann sie als eine von wenigen Frauen das Gartenbaustudium am Ontario Agricultural College (Link Englisch). Im Studium lernte sie den Leiter des Fachbereichs Gartenbau, James W. Crow kennen, der sie bei Zuchtexperimenten mit Himbeeren hinzuzog. Sie erlernte bei ihm die Hybridisierung, die er an Zwergbirnen vornahme: Er entfernte aus den Blüten das Staubblatt, was eine erfolgreiche Selbstbestäubung der Blüte verhindert, und befruchtete sie mit Pollen anderer Arten. Zusätzlich zu diesen praktischen Erfahrungen las Isabella Preston ‚jedes Buch in der Bibliothek‘, das sie zur Pflanzenzucht finden konnte. Bereits im folgenden Jahr verschaffte Crow ihr eine Vollzeitstelle im Gewächshaus des College, für die sie ihr Studium aufgab. Sie machte niemals einen formellen Universitätsabschluss.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, an dem Kanada als Teil der Triple-Entente fast von Beginn an beteiligt war, wurde das wichtigste Ziel im Gartenbau, Obst- und Gemüsepflanzen daraufhin zu züchten, besonders oft und viel Ertrag zu erbringen, um die Versorgung der Armee zu gewährleisten. Auch Isabella Preston trug mit Züchtungen von Früchten, die schneller reiften und gegen Insekten und Krankheitserreger resistenter waren, zu den Bemühungen bei. Sie wurde so zur ersten weiblichen professionellen Pflanzenzüchterin Kanadas.

Zur gleichen Zeit verfolgte Preston jedoch auch ihre Leidenschaft für Zierpflanzen, insbesondere der Lilien. 1916 schuf sie zum ersten Mal aus zwei Lilienarten – der Königslilie Lilium regale und Lilium sargentiae – eine Zuchtkreation, die sie ‚George C. Creelman‘ nannte nach dem derzeitigen Präsidenten des Ontario Agricultural College.

Im sehr kalten Winter 1917/18 in Kanada erfroren Preston fast alle Setzlinge, doch sie perfektionierte die Creelman-Lilie bis zum Jahr 1919 und brachte eine bemerkenswerte Züchtung hervor, die bis zu 180cm hoch werden konnte, viele große und duftende Blüten trug, die später als die ihrer Elternsorten blühten, die vor allem aber winterhart für das kanadische Klima war, also in Gärten als Zierpflanze ausgebracht werden konnte. Nach den kargen und auf Effizienz ausgerichteten Zeiten des Ersten Weltkriegs stieg im Frieden die Nachfrage nach Zierpflanzen und Prestons Lilien-Kultivar kam somit genau zur richtigen Zeit auf den Markt. Sie wurde als Zuchtexpertin weltweit anerkannt, Lilienzüchter rund um die Welt kannten sie, die Creelman-Lilie erfreute sich noch bis in die 1950er Jahre großer Beliebtheit als Gartenpflanze. Aus Prestons Züchtung wurden wiederum weitere Hybride gezüchtet, die noch heute beliebt sind.

Trotz dieses kommerziellen Erfolges musste sie sich 1920, als sie zur Central Experimental Farm (CEF) in Ottawa wechselte, zunächst als Tagelöhnerin verdingen, weil die kanadische Regierung Frauen im Staatsdienst diskriminierte. 1922 beriet sie den kanadischen Premierminister William Lyon Mackenzie King bei der Gartengestaltung seiner Ländereien; in diesem Jahr wurde sie in ihrem Forschungsinstitut schließlich als Spezialistin für Ziergartenbau fest eingestellt, später wurde sie dort auch die Leitende Spezialistin. In ihrer beruflichen Karriere als Zierpflanzen-Züchterin schrieb sie zahlreiche Artikel für Fachzeitschriften, 1929 brachte sie das Buch ‚Garden Lilies‘ heraus (das übrigens immer noch zu haben ist). In den 1940er Jahren war sie als ‚Dekanin der Pflanzenzüchter‘ bekannt, während des Zweiten Weltkrieges beriet sie das kanadische Militär hinsichtlich der Tarnbepflanzung von Flugplätzen.

Sie wählte für Kultivare der gleichen Pflanzenart gerne Namen der gleichen Herkunft. So benannte sie eine Reihe von Lilienzüchtungen nach den Stenograf:innen der CEF, eine andere nach Flugzeugen der Alliierten, eine Reihe von Fliederzüchtungen nach Shakespeare-Charakteren und Apfelbaumsorten nach kanadischen Seen. Ihre mindestens 20 Rosenarten, die den kanadischen Winter überstehen können, benannte sie nach den Stämmen der kanadischen First Nations. Sie gewann im Laufe ihres Lebens mehrere Medaillen hortikultureller Vereinigungen.

1946 setzte sie sich zur Ruhe, nach einem kurzen Versuch, nach England zurückzukehren, ließ sie sich schließlich in Georgetown, Ontario, nieder und blieb bis zu ihrem Tod in beratender Funktion für die CEF. Sie starb am 31. Januar 1965 mit 84 Jahren.

2005 schuf ihre alte Wirkungsstätte CEF eine Preston Heritage Collection‚ (Link Englisch), 2007 führte die kanadische Post zwei Briefmarken, auf denen Fliederblüten von Prestons Züchtungen zu sehen waren. Dies war auch das Jahr, in dem die Suche nach einem Exemplar ihrer Creelman-Lilie begann.

Wie oben beschrieben, war ihre berühmte Züchtung gute 30 Jahre erfolgreich als Ziergartenpflanze, doch bis zu den 1960er Jahren wandelte sich die Gartenmode und die Creelman-Lilie verschwand aus dem kommerziellen Angebot und den Gärten. 2007 erhielt einer der Kuratoren des Royal Botanical Gardens (Link Englisch) in Burlington, Ontario, Alex Henderson, die Anfrage nach dieser Lilien-Art und musste feststellen, dass kein einziges Exemplar oder auch nur eine Spur davon in den Beständen des botanischen Gartens existierte. In diesem Eintrag zu Isabella Preston in der Canadian Ecyclopedia, erstellt im Mai 2008 und überarbeitet Ende Juni 2018, heißt es, seit 2007 sei Henderson auf der Suche nach Exemplaren der Creelman-Lilie.

Dieser Artikel der Guelph Mercury Tribune (Link Englisch)Kurzfassung dieses Blogbeitrags aus Prestons erster kanadischer Heimat Guelph – vom August 2018 (Blog: 20. Juli 2018) erzählt nun, dass im Juli 2017 eine Frau bei der Radiosendung ‚Ontario Today‚ des CBC/Radio-Canada anrief, um zu erfragen, wie selten diese ‚Creelman-Lilien‘ seien, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte. Ihre Großmutter habe sie von einer Nachbarin erhalten, die die Blumenzwiebeln wiederum bei einer Verkaufsaktion ihres Arbeitgebers, der University of Guelph (Link Englisch), erstanden hatte. Beim CBC wurde der Dame gesagt, jemand beim Royal Botanical Garden würde sich freuen, von ihr zu hören. Sie nahm Kontakt zu Henderson auf und Pflanzen wurden übergeben, die im botanischen Garten zum Zeitpunkt des Verfassens – Sommer 2018 – in Töpfen herangezogen wurden. Es schien möglich, dass die verschollene Creelman-Lilie wiedergefunden sei, es stand nur noch abzuwarten, wie sich diese Hoffnungsträger in der freien Natur verhielten, wie sie der Witterung standhalten und welche Wachstumsmuster sie zeigen würden.

Dort endete bisher die Spur. Während ich Ende August 2020 dies schreibe, warte ich auf eine Rückmeldung des Royal Botanical Garden auf Facebook, ob sich die Fundstücke nun als Creelman-Lilien herausgestellt haben. Ich vermute, nein, denn vermutlich hätte ich sonst einen Folgebeitrag dazu finden können; aber wer weiß, so viele andere Dinge haben uns im vergangenen Jahr beschäftigt. Ich werde das Ergebnis meiner ‚Nachforschung‘ beizeiten hier teilen.

*

Update

Auf Facebook erhielt ich leider keine Antwort. Ich kommentierte aber auch unter dem Beitrag zu Isabella Preston auf dem Blog guelphpostcards.blogspot.com, ob der Autor, Cameron Shelley, inzwischen Neuigkeiten von der Lilie habe? Shelley kommentierte sehr freundlich und hilfsbereit, dass ich mich an seinen Kontakt beim RBG wenden könne, und sendete mir eine Emailadresse. Nachdem ich mehrere Tage dem Facebook-Team Zeit gegeben hate, schrieb ich also Dr. Galbraith beim Royal Botanical Garden an, einen Abend, bevor dieser Beitrag veröffentlicht wurde.

Es entspann sich daraus eine wundervoller Email-Korrespondenz mit Dr. Galbraith und dem oben genannten Alex Henderson, der mich mehrfach zu spontanen Liebesbekundungen für Kanadier auf Twitter bewegte. Die gute Nachricht vorweg: Die Creelman-Lilie ist wohl tatsächlich wiedergefunden!

Ich darf nicht nur Teile der Emails hier wiedergeben, in der Dr. Galbraith und Henderson Details zur Geschichte erzählten, unten darf ich auch – quasi als erste Veröffentlichung überhaupt – ein Bild der wiedergefundenen Zierpflanze veröffentlichen!

Am 4. September schrieb mir Alex Henderson:

 I can confirm that RBG has been able to source Creelman lilies from three different sources in Ontario over the last four years. The thing that makes this find compelling is that the lilies from these donations all originated with a single person who then donated these plants to various family members and friends across Ontario. Even better, all of these lilies were originally sourced from Ontario Agricultural College (now the University of Guelph) at an open day when the lilies would have been grown there. We have each of the three donations verified by RBG’s taxonomist Dr. Jim Pringle as being true to type. I also know of a fourth source for these lilies which likewise came from the same original source so it looks like Lilium ‘George C. Creelman’ has been brought back into cultivation and protected for future generations of Canadians, plant heritage and lily enthusiasts globally.

In addition to the Creelman lily, RBG also has several other lilies and lilacs in the collections that were hybridized by Isabella Preston. In particular her lilac breeding was pionering in creating lilacs resilient for surviving the challenging conditions of Canadian winters. […]. In 2006 and before RBG donated lilac cultivars so that the Central Experimental Farm could acquire her back history in lilac breeding. This must be a definitive collection of her lilac hybridization.

In addition to this I should also let you know that RBG retains Isabella Preston’s archives in its non living collections which is a literal treasure trove of her notes, thoughts and hybridizing choices. It is without doubt one of the richest and most meaningful archive acquisitions I have ever been lucky enough to have access to. […]

[…] To my mind she was a strong, independent woman who was a leader in her field when horticulture and plant hybridizing was a male dominated sphere to work in. As a result, she is what I would describe as a hero of mine. I would also like to point out that two of my colleagues who are copied in on this email, Erin Aults and Nadia Cavallin are equally inspiring women for the incredible work that they do with archives and botany . Both were critical team members in the discovery of Creelman lily as was Dr. David Galbraith which goes to show that the rediscovery of the Creelman Lily crossed many disciplines and fields of expertise.

Übersetzung von mir:
Ich kann bestätigen, dass es dem RBG möglich war, in den vergangenen vier Jahren Creelman-Lilien aus drei unterschiedlichen Quellen in Ontario zu beziehen. Was diesen Fund so spannend macht, ist, dass die Lilien aus diesen Spenden alle auf eine einzige Person zurückzuführen sind, die diese Pflanzen an verschiedene Familienmitglieder und Freund:innen in ganz Ontario weitergab. Und es kommt noch besser: Alle diese Lilien kamen ursprünglich vom Ontario Agricultural College (heute die University of Guelph), von einem Tag der offenen Tür während der Zeit, als die Lilien dort gezüchtet wurden. Wir konnten alle diese drei gespendeten Pflanzen vom Taxonom des RBG, Dr. Jim Pringle, in ihrer Echtheit bestätigen lassen. Ich weiß auch noch von einer vierten Quelle für diese Lilien, die ebenfalls aus dem gleichen ursprünglichen Erwerb stammen, also sieht es so aus, als sei Lilium ‚George C. Creelman‘ wieder in die Blumenzucht zurückgekehrt und für zukünftige Generationen Kanadas, das Naturerbe und Lilienenthusiasten weltweit bewahrt.

Zusätzlich zur Creelman-Lilie führt der RBG auch noch andere Lilien- und Fliederarten in seiner Sammlung, die von Isabella Preston gezüchtet wurden. Insbesondere ihre Fliederzüchtungen waren Pionierarbeit darin, Fliedersorten zu schaffen, die winterhart für die anspruchsvollen Bedingungen kanadischer Winter waren. […] 2006 und auch davor spendete der RBG Liliencultivare, sodass die Central Experimental Farm ihre Historie der Fliederzucht erarbeiten konnte. Dies muss eine vollständige Sammlung ihrer Fliederzüchtungen sein.

Zusätzlich sollte ich dir mitteilen, dass der RBG Isabella Prestons Archiv in seiner ‚unbelebten‘ Sammlung hat, das eine wahre Fundgrube ihrer Notizen, Gedanken und Zucht-Entscheidungen ist. Es ist ohne Zweifel eine der reichhaltigsten und bedeutungsvollsten Archivanschaffungen, zu denen ich das Glück hatte, Zugang zu haben.

In meiner Vorstellung war sie eine starke, unabhängige Frau, die eine Führungsposition in ihrem Feld einnahm, zu einer Zeit, als Gartenbau und Pflanzenzucht ein männlich dominierter Arbeitsbereich war. Infolgedessen würde ich sie als eine meiner Heldinnen beschreiben. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass zwei meiner Kolleginnen, die auch im Cc dieser Email stehen, Erin Aults und Nadia CAvallin, ebenso inspirierende Frauen sind, aufgrund der unglaublichen Arbeit, die sie im Archiv und im Bereich der Botanik leisten. Beide waren unerlässliche Teammitglieder bei der Entdeckung der Creelman-Lilie, so wie es auch Dr. David Galbraith war, was aufzeigt, dass die Wiederentdeckung der Creelman-Lilie viele Disziplinen und Fachgebiete durchquerte.

Nach einer enthusiastischen Email von mir (er hatte mich nach dem Blog und interessanten Frauen gefragt…) und wenigen Tagen Wartezeit erhielt ich schleißlich eine weitere Email mit einem Bild von der Lilie. Um es noch ein wenig spannender zu machen: Er sandte mir auch eine Reihe von Links zu, mit dem Hinweis, dass auch der RBG mit dem Thema der Inklusion und Diversität in der Arbeit von Botanischen Gärten beschäftigt ist. Insbesondere das Thema der Kolonialisierung auch im Bereich der Botanik kommt natürlich in Kanada zum Tragen.

Doch jetzt ohne weitere Umstände, das erste öffentliche Bild der Welt der verloren geglaubten und wiedergefundenen Züchtung Lilium ‚Geroge C. Creelman‘:

frauenfiguren isabella preston mutmaßliche creelman-lilie
© Royal Botanical Gardens, 15. Mai 2018
Bild mit Erlaubnis des Fotografen, © Royal Botanical Gardens, 15. Mai 2018

Im Folgenden noch die Links, die mir Alex Henderson weiterleitete (leider fehlt mir die Zeit, sie alle zu lesen):
Der wissenschaftliche Leiter der Royal Botanic Gardens über die nötige De-Kolonialisierung der botanischen Sammlungen (Link Englisch)
Ein Artikel im Smithsonian Magazine weist daraufhin, dass die Wissenschaft noch heute von den Interessen des Kolonialismus geprägt ist (Link Englisch)
Ein Text über das koloniale Erbe in der Taxonomie afrikanischer Pflanzen (PDF zum Download, Englisch)
Ein Artikel der Nature Sciences Collections Association: ‚Natur in Schwarz und Weiß gelesen: Dekoloniale Annäherung an die Interpretation naturgeschichtlicher Sammlungen

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Ebenfalls diese Woche

31. August 1903: Helen Battle (Link Englisch)
Noch eine Kanadierin, diese Ichthyologin, also Fischkundlerin. Sie war die erste Frau Kanadas mit einem Universitätsabschluss in Meeresbiologie (1928). Sie blieb als Lehrende an der University of Western Ontario (Link Englisch), sie unterrichtete in mehr als 50 Jahren über 4.500 Student:innen. Sie war die erste, die die Verschmutzung der Meere und des Trinkwasser anhand von Fischeiern untersuchte.

35/2020: Flossie Wong-Staal, 27. August 1946

Flossie Wong-Staal kam als Wong Yee-ching in Guangzhou, China, zur Welt. Nachdem 1949 die Kommunistische Partei Chinas den Bürgerkrieg gewonnen hatte, flohen viele Chinesen nach Hongkong, so auch Wongs Familie im Jahr 1952. Dort besuchte Yee-ching eine römisch-katholische Eliteschule, an der sie besonderes Interesse an und hervorragende Leistungen in den Naturwissenschaften zeigte. Ihre Lehrer empfahlen ihr, nach dem Abschluss für ein Studium in die USA zu gehen und sich dafür einen englischen Namen zuzulegen. Sie wollte keinen gewöhnlichen Namen, also wählte ihr Vater den Namen Flossie für sie nach einem Typhoon (oder mehreren), der China getroffen hatte.

Als Flossie Wong begann die 18-jährige 1964 ihr Studium an der University of California, Los Angeles, in dem sie vier Jahre später ihren Bachelor of Science in Bakteriologie machte, weitere vier Jahre arbeitete sie anschließend auf ihren Doktortitel in Molekularbiologie hin. Sie heiratete in dieser Zeit ihren Kommilitonen Stephen P. Staal und promovierte als Flossie Wong-Staal 1972 mit einer Dissertation über die Unterschiede im Ergbut von mutierten und wildlebenden Tabakpflanzen.

Im folgenden Jahr schloss sie sich in Bethesda, Maryland, dem Virologen Robert Gallo am National Cancer Institute an, um an Retroviren zu forschen, die zu diesem Zeitpunkt noch eine Theorie waren. Insbesondere die Vorstellung, dass Krebs von Viren ausgelöst werden könnte, wurde von der Wissenschaft größtenteils abgelehnt. Das Team um Gallo entdeckte jedoch 1980 die Viren HTLV-1 und HTLV-2 (Humanes T-lymphotropes Virus 1 und 2) als Auslöser von Krebsformen; Wong-Staal war nach der Isolation des Virus für die Sequenzierung seines genetischen Aufbaus verantwortlich. Diese Viren hatten Eigenschaften mit einem neuen Virus gemein, das sich zu dieser Zeit in den USA ausbreitete, nämlich die sexuelle Übertragbarkeit und den Befall der T-Lymphozyten, dem sich das Team folgerichtig als mögliches HTLV-3 widmete. Wong-Staal übernahm 1982 die Leitung der Abteilung für Molekulargenetik der Hämatopoetischen Stammzellen am NCI, ein Jahr später gelang es ihr und Gallo, das HTLV-3 als HI-Virus und Auslöser von AIDS zu identifizieren. Zur gleichen Zeit wurde in Frankreich das Virus als LAV identifiziert, von Luc Montagnier und Françoise Barré-Sinoussi (die ich in der KW 31/2020 kurz erwähnte). Die genauen Abläufe, wer welche Erkenntnisse zu welchem Zeitpunkt eigenständig hatte oder eventuell Ergebnisse gestohlen oder sich angeeignet hatte, wurden zum langwierigen Rechtsstreit zwischen den Wissenschaftlern.

Einen weiteren entscheidenden Schritt in der Erforschung des HI-Virus machte Wong-Staal bereits im nächsten Jahr, 1984, als sie die Molekularstruktur des Virus analysierte und es klonte. Sie trug damit bei zu einem besseren Verständnis seiner langen Latenzzeit, warum also nach einer HIV-Infektion so lange Zeit vergeht, bis die Erkrankung AIDS ausbricht. Ebenso war die Kenntnis seiner Struktur eine wichtige Grundlage für die Entwicklung eines ersten Tests, der eine Infektion im Blut nachweisen konnte.

Im Jahr 1990 war Flossie Wong-Staal die am vierthäufigsten zitierte Wissenschaftlerin unter 45 Jahren. Sie kehrte nach Kalifornien zurück, um an der University of California San Diego den ‚Florence-Seeley-Riford-Lehrstuhl für AIDS-Forschung zu übernehmen. Hier konzentrierte sie sich auf die Erforschung der Gene des HI-Virus, die für die Reproduktion und Aktivität verantwortlich sind; diese Erkenntnisse sollen zur Entwicklung eines Impfstoffes beitragen. Im Zusammenhang mit dieser Arbeit war sie 1992 Mitbegründerin des Pharmazeutikunternehmens Immusol.

Als 1994 das Center for AIDS Research (CFAR, Link Englisch) der Universität in San Diego gegründet wurde, übernahm Wong-Staal die Leitung der Institution. Auch hier war die endgültige Heilung einer HIV-Infektion das Ziel der Forschung; am CFAR zielte Wong-Staal auf eine mögliche Gentherapie ab, bei der Ribozyme (RNA-Moleküle, die sich wie Enzyme verhalten, also andere Moleküle spalten) als ‚molekulares Messer‘ auf die genetische Strutur des HI-Virus angesetzt werden, um das Virus in Stammzellen zu unterdrücken.

Erklärung der Funktionsweise von Gentherapie (Swiss Academy of Sciences SCNAT)

Außerdem war sie mit ihrem Team beteiligt an der Erforschung des Tat-Proteins (Link Englisch), einem Protein spezifisch für HIV-1, und welche Wirkung es auf das Wachstum in Zellen des Kaposi-Sarkoms (CN Bilder) hat, einer Form des Hautkrebs, die besonders AIDS-Patienten befällt. Ihre Erkenntnisse führten zur Entwicklung von Behandlungen gegen dieses Symptom.

Mit 56 Jahren setzte sich Flossie Wong-Staal 2002 von ihrer Lehrtätigkeit an der Universität zur Ruhe, sie behielt jedoch ihre Position als Forschungsprofessorin bis zu ihrem Tod inne. In diesem Jahr wurde sie vom Discover Magazin als eine der ’50 Most Important Women in Science‘ (Link Englisch)*) gelistet. Sie wurde Chief Scientific Officer in ihrem Unternehmen Immusol, als sich der Schwerpunkt des Unternehmens auf Medikamente und Impfstoffe gegen Hepatitis C verlagerte, veranlasste sie eine Umfirmierung als iTHerX Pharmaceuticals.

2007 nannte der Daily Telegraph sie als 32. der ‚Top 100 of Living Geniuses‘, 2019 wurde sie in die National Women’s Hall of Fame aufgenommen. Sie verstarb erst vor kurzem, am 8. Juli 2020, im Alter von 73 Jahren – an einer Lungenentzündung, die nicht im Zusammenhang mit dem Corona-Virus SARS-CoV-2 stand. Die New York Times schrieb einen Nachruf, in dem ihr Kollege (und zeitweise auch privater Partner) Robert Gallo einige Einblicke in ihre Persönlichkeit gewährt.

In diesem sehr ausführlichen Interview von 1997 für das Oral History Archiv der National Institutes of Health (NIH) geht es zwar teilweise in sehr anspruchsvollem Fachenglisch um wissenschaftliche Aspekte ihrer Forschung und einige innerbehördliche Faktoren, Wong-Staal erzählt jedoch auch von ihrer Perspektive auf den Konflikt um die Erstentdeckung des HI-Virus, außerdem erwähnt sie Anthony Fauci und seine wichtigen Erkenntnisse bezüglich der Behandlung von AIDS und betont, wie wichtig der wissenschaftliche Austausch zwischen allgemeiner Medizinforschung und der spezifischen Erforschung einzelner Erreger ist. So dienen auch gerade jetzt viele der Erkenntnisse der Virologin zum HI-Virus als Grundlage der Erforschung von SARS-CoV-2 und der Entwicklung eines möglichen Impfstoffes.

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Ebenfalls diese Woche

24. August 1862: Zonia Baber (Link Englisch)
Die US-amerikanische Geowissenschaftlerin entwickelte moderne Lehrmethoden für Geografie und Geologie.

24. August 1890: Margaret Levyns (Link Englisch)
Vegetationsgeografie, Botanik und Taxonomie waren die Gebiete dieser Südafrikanerin, die als erste Frau einen Doktortitel an der Universität Kapstadt verliehen bekam.

24. August 1942: Karen Uhlenbeck
Im vergangenen Jahr (2019) wurde dieser US-amerikanischen Mathematikerin als erster Frau der Abelpreis verliehen.

26. August 1862: Marion Bidder (Link Englisch)
Als erste Frau hielt diese britische Physiologin 1895 einen Vortrag vor einer Royal Society.

26. August 1881: Alice Wilson
Sie arbeitete als erste Frau in Kanada auf dem Gebiet der Geologie; zeit ihres Lebens hatte sie mit sexistischer Benachteiligung zu kämpfen.

26. August 1918: Katherine Johnson
Auf ihrer Geschichte – neben der ihrer Kolleginnen Dorothy Vaughan und Mary Jackson – beruht der Film Hidden Figures (auch bei Filmlöwin rezensiert). Die Mathematikerin trug mit ihren Berechnungen zum erfolgreichen Ablauf des Mercury-Programms und der Apollo-11-Mission bei.

29. August 1863: Margaret Clay Ferguson (Link Englisch)
Die US-amerikanische Botanikerin war 1929 die erste weibliche Präsidentin der Botanical Society of America (Link Englisch).

*) 6 von den Frauen (mit Flossie Wong-Staal: 7) habe ich hier auf frauenfiguren auch bereits besprochen:
Shirley Ann Jackson
Barbara Liskov
Shannon Lucid
Vera Rubin
Emmy Noether
Cecilia Payne-Gaposchkin

34/2020: Ellen Willmott, 19. August 1858

Ellen Willmott (Link Englisch) kam als älteste von drei Töchtern eines Anwalts mit seiner Frau zur Welt; sie und ihre Schwestern besuchten ein katholisches Elite-Konvent in London. Als Ellen 17 Jahre alt war, zog die ganze Familie Willmott nach Warley Place (Link Englisch). Das Haus mit einem Grundstück von 130.000qm blieb für den Rest ihres Lebens Ellens Wohnort.

Die Eltern gaben ihre Liebe zum Gärtnern an ihre Töchter weiter, die ganze Familie beteiligte sich an der Gestaltung des Grundstücks. Zu ihrem 21. Geburtstag schenkte der Vater Ellen die Erlaubnis, auf dem Grundstück eine künstliche Schlucht und einen Steingarten anzulegen. Kurz darauf starb ihre Patentante und hinterließ ihr eine ansehnliche Summe Geld, von dem sich Willmott ein erstes eigenes Stück Land kauft, bei Aix-les-Baines in Frankreich.

Später erbte Ellen Willmott auch das Land und Vermögen ihrer Eltern. Sie betrieb im Garten von Warley Place ausführlichen und variantenreichen Gartenbau, im Laufe ihres Lebens hat sie dort vermutlich mehr als 100.000 verschiedene Pflanzenarten kultiviert. Für die Hortikultur gab sie ihr Vermögen mit vollen Händen aus, zeitweise beschäftigte sie bis zu 104 Gärtner auf ihrem Grundstück – allerdings nur Männer, da sie der Meinung war, Frauen seien im Gelände „eine Katastrophe“ (Quelle: Wiki). Sie wurde 1894 als Mitglied in die Royal Horticultural Society aufgenommen; sie überzeugte Sir Thomas Hanbury, das Grundstück in Wisley zu kaufen, aus dem der RHS Garden Wisley wurde. Willmott wurde 1903 Treuhänderin für das Gelände, 1905 kaufte sie ein benachbartes Grundstück von seinem Botanischer Garten Giardini Botanici Hanbury in Ventimiglia.

Für ihre Leistungen im Gartenbau erhielt sie 1897 die jüngst zu Königin Victorias Diamantem Thronjubiläum ins Leben gerufene Victoria Medal of Honour, die einzige andere weibliche Empfängerin der Medaille war Gertrude Jekyll. Außerdem finanzierte sie diverse botanische Expeditionen in den Mittleren Osten und nach China, wie etwa die von Ernest Henry Wilson. Zum Dank für ihre Unterstützung benannte der Botaniker mehrere Pflanzenarten, die er in China entdeckte, nach ihr, so den Chinesischen Bleiwurz (Ceratostigma willmottianum), die Willmotts Scheinhasel (Corylopsis willmottiae) und eine Rosenart (Rosa willmottiae).













Ellen Willmott gehörte zu den 15 ersten Frauen, die als Mitglieder der Linnean Society of London aufgenommen wurde – anders als Marian Farquharson, der die Frauen diesen Zugang überhaupt erst verdankten. Sie erhielt noch einge andere Medaillen und veröffentlichte zwei Bücher, von denen The Genus Rosa das bekanntere ist. Sie arbeitete von 1910 bis 1914 an diesem Buch, das 132 Aquarellabbildungen von Rosen enthält, gemalt von Alfred Parsons (Link Englisch). Die englischen Königinnen Mary und Alexandra sowie die Prinzessin Victoria besuchten Ellen Willmott zu unterschiedlichen Gelegenheiten auf ihrem Landsitz.

Ein Hobby, das Ellen Willmott neben dem Gartenbau betrieb, war das Kunstdrechseln – zwei Jahre vor ihrem Tod übergab sie ihre HoltzapffelDrehbank und einige ihrer Arbeiten dem History of Science Museum (Link Englisch) in Oxford; dazu einige Fotografien ‚von hortikulturellem Interesse‘. Weil es so schön ist, unten ein Video von einer Kunstdrechselarbeit, die in keinem Zusammenhang mit Ellen Willmott steht, es ist einfach schön anzuschauen.

Kunstdrechseln (Ornamental turning)
frauenfiguren ellen willmott elfenbein-mannstreu
Elfenbein-Mannstreu (Miss Willmott’s ghost)
Von Dominicus Johannes Bergsma – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

Gegen Ende ihres Lebens ging Ellen Willmott wenig überraschend das Geld aus. Sie musste ihre Grundstücke in Frankreich und Italien verkaufen, später sogar andere persönliche Wertgegenstände. Außerdem wurde sie wunderlich: Sie stellte in ihrem Haus, von dem sie zum Zeitpunkt ihres Todes nur noch drei Zimmer bewohnte, Fallen auf, um Diebe abzuschrecken und trug zu allen Zeiten einen Revolver in ihrer Handtasche. Genauso zuverlässig enthielt ihre Handtasche Samen des Elfenbein-Mannstreu, die sie heimlich in fremden Gärten aussäte. Aus diesem Grund heißt diese Pflanze, bei uns auch Elfenbeindistel genannt, im Englischen Miss Willmott’s Ghost.

Mit 76 Jahren starb Ellen Willmott verarmt und verwirrt auf Warley Place an Koronarembolie, einer Verstopfung der Herzkranzgefäße, die auf eine Atherosklerose (im Volksmund Arterienverkalkung) zurückzuführen ist. Ihr Landsitz war gänzlich heruntergekommen und musste verkauft werden, um ihre Schulden abzubezahlen. Das Haus wurde 1939 abgerissen, doch statt des Baus einer Wohnanlage, wie zwischendurch geplant war, ist der alte Garten nun Teil des Grünen Gürtels um London (Link Englisch) und ein Naturreservat.

Die englische Webseite Parks & Gardens führt ihre Biografie (Link Englisch) mit einer Liste der Orte in England, die mit ihr in Zusammenhang stehen, sowie eine markierte Karte. Die deutsche Webseite Garten-Literatur.de widmet ihr ebenso einen Eintrag in der Leselaube und listet die nach ihr benannten Pflanzen ausführlich. Das Blog Rosenbücher hat hilfreiche Informationen zu ihrem Buch The Genus Rose.

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Ebenfalls diese Woche

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Emma Hutchinson

* 1820 • † 1906

Emma Hutchinson (Link Englisch) lebte mit ihrem Mann, einem Vikar, in Herefordshire; über ihren Sohn entdeckte sie die Lepidopterologie oder Schmetterlingskunde für sich, als dieser einen Holunderspanner fing. Hutchinson widmete den Rest ihres Lebens den Lepidoptera und wurde berühmt für ihre Fähigkeit, Schmetterlinge und Motten zu züchten. So führte sie 31 Jahre lang erfolgreich eine Zucht von Obsthain-Blütenspannern.

In der Viktorianischen Zeit war Entomologie oder Insektenkunde in Mode, und so verkaufte sich Hutchinsons Buch Entomology and Botany as Pursuits for Ladies (Entomologie und Botanik als Beschäftigung für Damen) von 1879 recht gut. Sie hielt ihre Leserinnen darin dazu an, Schmetterlinge nicht nur zu sammeln, sondern auch zu untersuchen und zu erforschen.

1881 erschien in The Entomologist’s Record and Journal of Variation (Link Englisch) (Des Entemologen Archiv und Zeitschrift der Variation) ein Brief von ihr, indem sie die Vermutung aufstellte, das Verschwinden des C-Falters in der Gegend um Kent sei darauf zurückzuführen, dass nach der Hopfen-Ernte die Pflanzen verbrannt wurden – wobei die Larven und Puppen dieses Schmetterlings mit vernichtet würden. Sie beteiligte sich an Versuchen, den Falter in anderen Gegenden einzuführen, indem sie um Herefordshire Larven und Puppen einsammelte und sie an anderen Orten aussetzte. Diese Bemühungen wurden ihrer Meinung nach jedoch zunichte gemacht durch Hobby-Lepideptorologen, die die Falter fingen und in ihre Sammlung aufnahmen.

33/2020: Gerty Cori, 15. August 1896

frauenfiguren gerty cori
By National Library of Medicine, Images from the History of Medicine, B05353, Public Domain

Gerty Cori kam in Prag als Gerty Radnitz zur Welt; ihr Vater, Otto Radnitz, war ein Chemiker, der eine Methode zur Raffination von Zucker erfunden hatte und nun eine eigene Zuckerfabrik leitete, ihre Mutter, Martha geborene Neustadt, war eine kulturell interessierte Frau, die mit Franz Kafka befreundet war. Gerty und ihre beiden jüngeren Schwestern erhielten zunächst Privatunterricht, bevor sie mit zehn Jahren auf das Lyzeum gingen.

Mit 16 Jahren wusste Gerty, dass sie Medizin studieren wollte, ihr fehlten bis dahin jedoch noch einige schulische Kenntnisse. Um diese einzuholen, lernte sie innerhalb eines Jahres die Inhalte von acht Schuljahren Latein und fünf Schuljahren Physik, Chemie und Mathematik. So bestand sie mit 18 Jahren die Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium an der Deutschen Karl-Ferdinands-Universität Prag.

Im Studium lernte sie Carl Cori kennen. Die beiden verliebten sich und schlossen 1920 gemeinsam – nachdem Carl zwischenzeitlich im Ersten Weltkrieg eingezogen worden war – ihr Medizinstudium ab. Im gleichen Jahr heirateten sie, wofür Gerty vom Judentum zum Katholizismus konvertierte, und zogen nach Wien. Dort arbeitete Gerty als Assistenzärztin im Karolinen-Kinderspital und erforschte die Funktion der Schilddrüse bei der Regulation der Körpertemperatur. Außerdem schrieb sie mehrere Aufsätze zu Blutkrankheiten. Die Lebensumstände nach dem Krieg waren schwierig, oftmals fehlte es an Lebensmitteln, sodass Gerty sogar Augenprobleme entwickelte, die auf einen Vitamin-A-Mangel zurückzuführen waren. Zur gleichen Zeit wurde der Antisemitismus im Land immer offensichtlicher, sodass das Ehepaar Cori 1922 in die USA auswanderte.

Carl fand eine Anstellung beim State Institute for the Study of Malignant Diseases (heute Roswell Park Cancer Institute, Link Englisch), während Gerty zunächst weitere sechs Monate in Wien blieb, weil sie keine Anstellung fand. Sie zog jedoch schließlich nach und arbeitete mit ihrem Mann im Labor, obwohl der Leiter des Insituts sogar drohte, Carl Cori zu entlassen, wenn Gerty nicht aufhörte. Die beiden ließen sich nicht beirren und erforschten gemeinsam, wie Glucose mit Hilfe von Hormonen im menschlichen Körper verstoffwechselt wird. Das Ehepaar veröffentlichte in der Zeit in Roswell insgesamt 50 Aufsätze gemeinsam – wobei die- oder derjenige zuerst als Autor:in genannt wurde, der oder die die meiste Arbeit geleistet hatte – und Gerty Cori veröffentlichte noch elf weitere Schriften als alleinige Autorin.

1928 nahmen die Coris die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Im Folgejahr stellten sie ihre Theorie vor, die ihnen schließlich den Nobelpreis einbringen sollte: den Cori-Zyklus. Dieser beschreibt den biochemischen Kreislauf im menschlichen Körper, mit dem Glucose in den Muskeln zu Lactat umgewandelt wird – Glykolyse genannt – , während gleichzeitig Lactat kurzzeitig in der Leber zu Glucose zurückgebildet wird – Gluconeogenese genannt. Diese Erkenntnis, wie die Verwertung von Zucker in den Muskeln funktioniert, sowie der Rolle der Leber dabei war eine wichtige Grundlage für das Verständnis und somit der Behandlung von Diabetes mellitus.

https://youtu.be/SuDGlSFD-oI
Diese junge Frau erklärt auf dem Kanal FitfürBiochemie den Cori-Zyklus für halbwegs in die Chemie Eingeweihte

Zwei Jahre, nachdem sie diese Theorie veröffentlicht hatten, verließen sie das Insitut in Roswell. Carl wurden mehrere Stellen ohne Gerty angeboten, eine Position in Buffalo lehnte er ab, weil sie ihm durchaus nicht erlauben wollten, mit seiner Frau zu arbeiten. Gerty wurde sogar ausdrücklich vorgeworfen, sie schade der Karriere ihres Mannes, wenn sie weiter mit ihm arbeite. Schließlich ging das Ehepaar Cori gemeinsam an die Washington University in St. Louis, Missouri, wo ihnen beiden Stellungen angeboten worden waren, allerdings in Gertys Fall in einer niedrigeren Position, mit folgerichtig schlechterer Bezahlung: Sie verdiente als Forschungsassistentin nur ein Zehntel von Carls Gehalt. Arthur Compton, zu dieser Zeit Rektor der Universität, machte für die Coris eine Ausnahme von der Nepotismus-Regel, mit der auch Maria Goeppert-Mayer Schwierigkeiten hatte. Bei ihrer gemeinsamen Arbeit an der Washington University entdeckten Gerty und Carl Cori das Glucose-1-phosphat, eine Form von Glucose, das in vielen Stoffwechselvorgängen eine Rolle spielt und auch nach ihnen Cori-Ester heißt. Sie beschrieben seine Struktur, identifizierten das Enzym, das den Cori-Ester katalysiert und bewiesen, dass Glucose-1-phosphat der erste Schritt in der Umwandlung des Kohlehydrats Glykogen zu Glucose ist, welche im Körper als Energie verwertet werden kann.

Gerty Cori erforschte zur gleichen Zeit auch Glykogenspeicherkrankheiten und identifzierte mindestens vier davon, die jeweils mit individuellen Enyzymdefekten zusammenhängen; die verhältnismäßig harmlose Typ III-Glykogen-Speicherkrankheit heißt nach ihr auch Cori-Krankheit. Sie war die erste Person, die nachwies, dass eine vererbte Krankheit mit einem Enzymdefekt zusammenhängen kann.

Nach 13 Jahren an der Washington University wurde Gerty Cori endlich außerordentliche Professorin und vier Jahre später, 1947, auch volle Professorin. Im gleichen Jahr erfuhr sie, dass sie an Myelosklerose litt, und wenige Monate später wurde ihr gemeinsam mit ihrem Mann und dem argentinischen Physiologen Bernardo Alberto Houssay der Nobelpreis für für Physiologie oder Medizin verliehen. Sie war insgesamt erst die dritte Frau mit einem Nobelpreis – Marie Curie und deren Tochter Irène Joliot-Curie waren die ersten beiden, die diesen Preis für Physik respektive Chemie erhalten hatten. Gerty Cori hingegen war nun die erste Frau, die in der Kategorie Physiologie und Medizin ausgezeichnet wurde.

Im Anschluss an diesen Erfolg wurde sie Fellow der American Academy of Arts and Sciences, als viertes weibliches Mitglied in die National Academy of Sciences gewählt sowie von mehreren anderen Societies aufgenommen, von Harry S. Truman wurde sie zum Ratsmitglied der National Science Foundation ernannt. Nachdem sie jahrzentelang gegen den Widerstand von Entscheidern unbeirrt mit ihrem Mann zusammengearbeitet hatte, wurde ihr nun zwischen 1948 und 1955 die Ehrendoktorwürde an fünf Universitäten verliehen – an der Boston University, am Smith College, an der Yale University, an der Columbia University und an der University of Rochester. Insgesamt gewann sie, zum Teil gemeinsam mit ihrem Mann, sechs hochdotierte wissenschaftliche Preise. Sie arbeitete noch weitere zehn mit immer schlechterer Gesundheit, bis sie am 26. Oktober 1957 an der Myelosklerose verstarb.

1998 wurde Gerty Cori in die National Women’s Hall of Fame aufgenommen. Das Labor an der Washington University, in dem sie gearbeitet hatte, wurde 2004 von der American Chemical Society (deren Mitglied sie war) zur Historic Landmark erklärt. Vier Jahre später brachte der US Postal Service eine 41-cent-Briefmarke ihr zu Ehren heraus. Krater auf dem Mond und der Venus sind nach ihr benannt und noch 2015 taufte das US Department of Energy den Hochleistungrechner im Berkeley Lab nach ihr, der als fünfter in der Liste der 500 leistungsfähigsten Computer rangiert.

Die Website des Nobelpreises führt selbstverständlich ihre Biografie (Link Englisch).

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Ebenfalls diese Woche

12. August 1898: Maria Klenova (Link Englisch)
Als Begründerin der russischen Meeresgeologie erforschte sie beinahe dreißig Jahre lang die Polarregionen und war die erste Frau, die vor Ort in der Antarktis arbeitete.

12. August 1919: Margaret Burbidge
Diese amerikanische Astronomin tauchte bereits im Beitrag über Vera Rubin auf; die erste weibliche Direktorin des Royal Greenwich Observatory forschte zu Quasaren und wie Rubin zur Rotation von Galaxien.

15. August 1892: Kathleen Curtis (Link Englisch)
Die neuseeländische Mykologin begründete die Pflanzenpathologie in ihrer Heimat; ihre Doktorarbeit schrieb sie über Kartoffelkrebs und sie beschrieb 1926 erstmalig einen Bovisten, der endemisch in Tasmanien und Neuseeland auftritt und heute vom Aussterben bedroht ist, den Claustula fischeri (Link Englisch).

Mary Anne Whitby

* 1783 • † 1850

Mary Anne Whitby (Link Englisch) war die Tochter eines Offiziers der Royal Navy und auch ihr Ehemann John Whitby, den sie mit 17 heiratete, war Captain der Marine. Er diente unter Admiral Sir William Cornwallis, als dieser Anfang 1806 aus dem Dienst entlassen wurde, ludt er die Familie Whitby zu sich auf seinen Landsitz in Milford-on-Sea in Hampshire ein. John Whitby starb bereits wenige Monate später, doch Mary Anne und ihre kleine Tochter durften weiterhin bei Conrwallis leben. Sie leisteten dem an Depressionen leidenden und einsamen Mann Gesellschaft, bis er 1819 starb; er hinterließ ihr den größten Teil seines Besitzes, einen kleinen Teil ihrem Bruder. Whitby konnte später noch mehr Land erwerben und verbrachte den Rest ihres Lebens dort.

Bei einer Italienreise mit 52 Jahren kam sie auf die Idee, Serikultur (Seidenbau) wieder in England einzuführen. Jakob I. von England hatte dies im frühen 17. Jahrhundert bereits versucht, war jedoch gescheitert. Whitby traf 1835 in Italien auf einen englischen Geschäftsmann, der in der Nähe von Mailand eine Maulbeerplantage mit erfolgreicher Seidenspinnerzucht angelegt hatte. Sie hoffte nicht nur, für sich selbst einen Gewinn zu erzielen, sondern wollte auch den Frauen in ihrer Heimatregion Arbeitsplätze verschaffen.

frauenfiguren mary anne whitby
Rohseide in der Suzhou No.1 Silk Mill in Suzhou (Jiangsu), China
Von Kuebi = Armin Kübelbeck – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

In den kommenden Jahren widmete Whitby sich dieser Aufgabe, wobei sich die Pflege und Erhaltung der Maulbeerbäume sowie die Zucht der Seidenraupen als das geringere Problem herausstellten. Als schwierigster Teil der Seidenproduktion entpuppte sich das Spinnen (oder Haspeln? engl. silk throwing) der Rohseide, doch Whitby ließ sich nicht entmutigen und konnte 1844 der Königin Victoria einen Ballen mit etwas über 18 Meter britischen Damast schenken.

1846 durfte sie vor der British Association for the Advancement of Science einen Vortrag über ihre Erfahrungen mit der Seidenspinnerzucht halten. Dort lernte sie auf Charles Darwin kennen, der zu dieser Zeit bereits an seiner Theorie über die Anpassung der Arten an ihren Lebensraum arbeitete, aber noch nichts veröffentlicht hatte. Er bat sie, an ihren Seidenspinnern eine Serie von Experiment zur Vererbung vorzunehmen, ob etwa die Eigenschaft, keine Seide herzustellen, von einigen Individuen von einer Generation auf die nächste übertrage. Er brauchte diese Erkenntnisse für eine Arbeit über Variation, in der sonst kaum Tatsachen über Insekten zu finden sein werden. Er befragte Whitby auch zu Flugeigenschaften von Motten und dem Verhalten unterschiedlicher Raupenarten. Whitby stellte ihm einige Motten zur Verfügung und wies ihn dabei auf deren Sexualdimorphismus hin, also auf die Tatsache, dass unterschiedliche Geschlechter dieser Arten sich in ihrem Aussehen unterscheiden. Sie führte die gewünschten Experimente durch und lieferte Darwin damit Grundlagen für seine Veröffentlichung von 1868, The Variation of Animals and Plants under Domestication („Das Variieren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication“).

28/2020: Nettie Stevens, 7. Juli 1861

frauenfiguren nettie stevens
Nettie Stevens at work at the Naples Zoological Station in 1909.
By Bryn Mawr College Special Collections – source, Public Domain

Der Vater von Nettie Stevens war Zimmermann, der nach dem frühen Tod seiner Ehefrau – sie starb, als Nettie drei Jahre alt war, kurz nach der Geburt der jüngeren Schwester – sein zwei überlebenden Kinder alleine versorgen musste. Nach einem Umzug von Vermont nach Massachusetts wurde er allerdings mit seinem Handwerksunternehmen so erfolgreich, dass er beiden Töchtern zumindest die High School finanzieren konnte. 1880 machte Nettie dort ihren Abschluss, dann arbeitete sie in New Hampshire als Lehrerin für Zoologie, Physiologie, Mathematik, Englisch und Latein. Nach drei Jahren in diesem Beruf hatte sie geng Geld gespart, um an die Universität zurückzukehren. An der Westfield Normal School (heute Westfield State University) absolvierte sie ein Studienprogramm, das eigentlich auf vier Jahre ausgelegt war, innerhalb von zwei Jahren; im Anschluss daran arbeitete sie wieder als Lehrerin.

Erst ein gutes Jahrzehnt später konnte Nette Stevens sich von gespartem Geld ein tiefergehendes Studium leisten. 1896 schrieb sie sich an der Stanford University ein und erreichte 1899 einen Bachelor-, ein Jahr später einen Master-Abschluss in Biologie. Im Laufe ihrer Studien hatte sie begonnen, sich mit Histologie zu befassen, für ihr Doktorandenstudium in diesem Fach wechselte sie 1900 an das Bryn Mawr College, denn dort war Edmund Beecher Wilson Leiter der biologischen Fakultät gewesen, den Stevens bewunderte, und auch zu seinem Nachfolger Thomas Hunt Morgan schaute sie auf. Sie konnte dank eines Stipendiums im Rahmen ihres Studiums in Neapel und Würzburg Forschung betreiben, bevor sie mit Morgan als Doktorvater ihre Dissertation einreichte. Das Thema ihrer Arbeit war die Zellregeneration in einfachen Mehrzellern, die Entwicklung von Spermien und Eiern, Urkeimzellen von Insekten und die Zellteilung in Seeigeln und Würmern, sie erlangte damit 1903 ihren Doktortitel. Bryn Mawr bleib für ihr weiteres restliches Leben ihre Wirkungsstätte – ihr Ziel war es, an ihre Alma Mater als Professorin fest angestellt zu werden. Zunächst blieb sie als Lehrkraft für experimentelle Morphologie, 1904 begann sie einjähriges ihr Postdoc am Carnegie Institute of Science in Washington, Edmund B. Wilson und Thomas H. Morgan schrieben ihr für diese Position die benötigten Empfehlungen. Stevens erhielt ein Stipendium für ihre Erforschung der Vererbung, insbesondere wollte sie die Mendelschen Regeln (damals noch ‚Gesetze‘) überprüfen hinsichtlich ihrer Gültigkeit für die Geschlechtsdetermination.

Das erste Tier, das sich Stevens für ihre Untersuchungen vornahm, war der Mehlkäfer (von dem die Mehlwürmer gelegt werden) Tenebrio molitor. In den Zellen dieser Insekt entdeckte Stevens zum ersten Mal das Chromosom, das sich nach ihren Beobachtungen auf die unterschiedlichen Geschlechter der erwachsenen Tiere auswirkte (sie nannte es jedoch damals noch nicht das Y-Chromosom). Sie weitete ihre Forschung auf andere Insekten aus, unter anderem auf die Taufliege Drosphila melanogaster, die sie fortan in ihren Labors züchtete. Nettie Stevens war es, die erkannte, wie gut diese Art aufgrund der kurzen Lebenszyklen, einem kleinen Chromosomensatz und einer großen Anzahl Nachkommen pro Befruchtung für genetische Untersuchungen geeignet war, und tatsächlich war sie es auch, die Thomas H. Morgan ebenfalls davon überzeugte. Noch heute gilt Drosophila als ideales Forschungsobjekt und Morgan wird zumeist als Begründer dieser Praxis geführt.

Zur Zeit von Stevens‘ Forschungen herrschte noch die Ansicht, dass das Geschlecht eines Kindes im Mutterleib von der Umwelt oder dem Verhalten der Mutter beeinflusst wurde – in jedem Fall lag es in der „Verantwortung“ der Mutter, mit welchem Geschlecht ein Kind auf die Welt käme. Clarence Erwin McClung hatte kurze Zeit vor Nettie Stevens die Vermutung geäußert, dass das Geschlecht eines Lebewesens durch das X-Chromosom in den Keimzellen bestimmte würde, doch Thomas H. Morgan und auch Edmund B. Wilson bestritten dies zunächst. Während Stevens bei ihrer Erforschung der Entstehung des chromosomalen Geschlechtes die Keimzellen beider Geschlechter untersuchte, erforschte Wilson allein an Spermien die Spermatogenese; er sollte das damit begründen, dass Eizellen zu fetthaltig für den Färbeprozess seien und deswegen nicht untersucht werden könnten. Nettie Stevens fand hingegen in den Zellen ihrer Taufliegen Paare mit einem großen und einem kleinen Chromosom, Paare mit zwei großen Chromosomen und einzelne große Chromosomen (XO), dass jedoch nur die Individuen mit einem Groß-Klein-Paar den männlichen Phänotyp aufwiesen. Sie schloss daraus, dass es das heute so genannte Y-Chromosom war, dass den geschlechtlichen Phänotyp bestimmte (was Stevens noch nicht wissen konnte: dass dieser Phänotyp dann auch noch anderen genetischen Einflüssen unterliegt, siehe Intergeschlechtlichkeit). Der Artikel, den sie darüber schrieb, brachte ihr einen Preis von $1.000,- ein für den „besten wissenschaftlichen Artikel von einer Frau geschrieben“, und das Carnegie Institute veröffentlichte ihre Arbeit in den „Studien zur Spermatogenese“. Doch weder von ihren männlichen Vorbilden noch von der wissenschaftlichen Gemeinschaft wurde sie als Forscherin und Entdeckerin anerkannt, noch weniger gewürdigt. Edmund B. Wilson überarbeitete, nachdem er Stevens Forschungsergebnisse gelesen hatte, seine eigene Arbeit dahingehend, dass sie zu Stevens Ergebnissen passen, und kam ihr dann mit der Veröffentlichung seiner Ergebnisse zuvor – er dankte ihr für ihre Entdeckung in einer Fußnote. 1906 wurden Wilson und Thomas H. Morgan eine Einladung, auf einer Konferenz über ihre Entdeckungen der Geschlechtsdetermination zu sprechen, doch Nettie Stevens wurde übersehen.

1908 erhielt Stevens noch ein Stipendium von der American Association of University Women und 1912 wurde ihr von Bryn Mawr nach einer Dekade als außerordentliche Professorin endlich eine Stelle als festangestellte Professorin ohne Lehrverpflichtung angeboten. In ihrer kurzen Zeit als Wissenschaftlerin hatte sie bis dahin 38 Publikationen veröffentlicht, doch sie konnte die lang ersehnte Stelle nicht mehr antreten: Am 4. Mai 1912 starb sie mit nur 51 Jahren an Brustkrebs.

Noch in seinem Nachruf rückte Thomas H. Morgan die eigentliche Vorreiterin seiner wissenschaftlichen Erfolge auf die Seitenlinie. In seinem Nachruf schrieb er, sie habe „Anteil an einer Entdeckung von Bedeutung“ gehabt, behauptete allerdings, sie habe McClungs Fehlannahme bestätigt, dass X-Chromosom sei für den geschlechtlichen Phänotyp verantwortlich – wohingegen sie gerade festgestellt hatte, dass es das kleinere Y-Chromosom sein musste. Edmund B. Wilson unvollständige Forschungsergebnisse seien „eine gemeinsame Entdeckung“ mit Stevens gewesen, eine Aussage, die Wilson später, wiederum in einer Fußnote, korrigierte. Auch habe es ihr „zeitweise an Inspiration gefehlt, die die reine Tatsache einer Entdeckung für eine breitere Sichtweise nutzt“ – es war ihm womöglich tatsächlich nicht bewusst, dass dieser Mangel an Inspiration darin begründet lag, dass sie vom anregenden Austausch mit Kollegen, etwa auf Konferenzen, ausgeschlossen war.

Thomas H. Morgan gewann 1933 den Nobelpreis für Medizin für Erkenntnisse zur Vererbung, die zu großen Teilen auf den intensiven Forschungen von Nettie Stevens basierte.

1994 wurde sie in die National Women’s Hall of Fame aufgenommen. 2017 benannte die Westfield State University einen Gebäudekomplex nach ihr, in dem einige MINT-Fachbereiche untergebracht sind.

FemBio und Vox sind auch verärgert über den Matilda-Effekt.

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Ebenfalls diese Woche

7. Juli 1860: Alice Johnson (Link Englisch)
1884 wurde eine Arbeit dieser britischen Zoologin als erstes Schriftstück einer Frau im Protokoll der Royal Society erwähnt. Sie beschäftigte sich auch mit Telepathie.

10. Juli 1724: Eva Ekeblad
Weil sie sich mit den Möglichkeiten des Kartoffelanbaus in Europa beschäftigte, gilt die schwedische Adlige als Agrarwissenschaftlerin. Sie entwickelte Methoden zur Gewinnung von Stärke und Alkohol aus Kartoffeln, unabhängig davon auch ein Verfahren zum Bleichen von Textilien. Sie war 1748 die erste Frau, die in der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde, und blieb die einzige bis 1910, als Marie Curie ebenfalls aufgenommen wurde.

12. Juli 1913: Mildred Cohn
Diese amerikanische Biochemikerin und Biophysikerin entwickelte Methoden und Anwendungen in der Kernspinresonanzspektroskopie, die es ermöglichten, metabolische Prozesse auf molekulaler Ebene sichtbar zu machen.

24/2020: Emma Turner, 9. Juni 1867

Emma Turner (Link Englisch) nahm erst mit 33 Jahren die Fotografie auf, nach einer Begegnung mit dem Naturfotografen Richard Kearton (Link Englisch). Von ihrem Leben davor ist nicht viel bekannt.

Sie lebte und arbeitete 20 Jahre lang als ornithologische Fotografin im Naturschutzgebiet Hickling Board (Link Englisch) in Norfolk; große Teile des Jahres verbrachte sie dort, den Rest der Zeit lebte sie in Cambridgeshire. In Hickling Board hatte sie Hausboot, das sie selbst entworfen hatte, die Water Rail (zu Deutsch Wasserralle), nach dem ersten Tier, das sie in dem Naturschutzgebiet fotografiert hatte. Außerdem hatte sie eine Hütte auf einer Insel, die schließlich als Turner’s Island bekannt wurde. Schon 1905 war sie eine der ersten zehn Frauen, die zur Fellow der Linnean Society of London gewählt wurden.

1911 machte sie in Hickling Board das Bild von einem Rohrdommel-Küken, das den Beweis erbrachte, dass Rohrdommeln wieder im Vereinigten Königreich heimisch wurden. Diese Art war Ende des 19. Jahrhunderts lokal ausgestorben. Für ihr Foto gewann Turner die Goldmedaille der Royal Photographic Society.

1924 bis 1925 war sie 18 Monate lang die erste „Beobachterin“ (oder „Hüterin“) auf der Insel Scolt Head (Link Englisch). Sie veröffentlichte zwei Bücher über die Vögel ihrer Heimat und ihre Erlebnisse in den Naturschutzgebieten, wurde erstes weibliches Mitglied der British Ornithologists‘ Union und Ehrenmitglied der British Federation of University Women (Link Englisch), ohne je einen universitären Abschluss gemacht zu haben.

Eine Kollegin beschrieb sie wie folgt: „Als Frau sah sie, was zu tun war, und tat es.“ (Quelle: National Trust) 1938 verlor sie ihr Augenlicht, am 13. August 1940 starb sie mit 73 Jahren.

Ebenfalls diese Woche

11. Juni 1860: Mary J. Rathbun
Die amerikanische Meeresbiologin beschrieb über 1.000 neue Arten von Krebstieren.

14. Juni 1877: Ida Maclean
Sie wurde als erste Frau Mitglied der Chemical Society; außerdem war die Biochemikerin in der Frauenrechtsbewegung tätig und unter anderem Gründungsmitglied der British Federation of University Women.

Eleanor Glanville

* ca. 1654 • † 1. Januar 1709

Lady Eleanor Glanville (Link Englisch) war die Ehefrau eines Landbesitzers in Lincolnshire und Hobby-Entemologin.

Sie stammte mütterlicherseits aus der Poyntz-Familie, ihren Vorfahren Nicholas Poyntz hatte Hans Holbein der Jüngere portraitiert. Auf dem Gut ihres Ehemannes sammelte sie zahlreiche Schmetterlingsexemplare, einige davon machen den ältesten Bestand der Sammlung des Natural History Museum in London aus. Der in Großbritannien heimische Wegerich-Scheckenfalter ist mit englischem Namen nach ihr benannt.

An der University of Lincoln gibt es ein nach ihr benanntes Studienzentrum, das sich für Inklusion, Diversität und Chancengleichheit bei der höheren Bildung einsetzt.

17/2020: Margaret Newton, 20. April 1887

Margaret Newton kam in Montreal zur Welt, ihre Schullaufbahn begann in einer Ein-Raum-Schule in der Kleinstadt, in der sie mit ihren Eltern und drei jüngeren Geschwistern lebte. Ihre Familie zog mehrfach um, sodass Margaret verschiedene weiterführende Schulen besuchte, bis sie schließlich eine Ausbildung zur Lehrerin in Toronto abschloss. Sie unterrichtete für drei Jahre und sparte ihr Einkommen für eine weiteres Studium.

Nachdem sie ein Jahr lang ein Kunststudium in Hamilton verfolgt hatte, kehrte sie nach Montreal zurück und nahm dort das Studium der Agrarwissenschaft am Macdonald College (Link Englisch) auf. Sie war hier die einzige Frau in einem Jahrgang von 50 Personen und wurde das erste weibliche Mitglied der Quebec Society for the Protection of Plants.

Ihr Beratungslehrer trat 1917 eine Reise in den Westen Kanadas an, um den Getreideschwarzrost zu untersuchen, einen Pilz, der 1916 in einer Epidemie Getreide im Wert von $200 Millionen in Kanada zerstört hatte. Seine Studentin Newton beauftragte er, die eingesandten Proben im Labor zu untersuchen. Sie musste erst bei der Universitätsleistung einfordern, dass die Beschrönkungen aufgehoben wurden, die weiblichen Forschenden die nächtliche Nutzung der Labore untersagte. Diese Regelung wurde aufgehoben, doch Newton musste sich weiterhin an die Sperrstunde um 22:00 ihres Wohnheimes halten. Mit den Ergebnissen dieser Untersuchungen konnte zwei Jahre später ihren Master of Science abschließen – ihren Bachelor of Science hatte sie bereits 1918 als erste Frau am College abgelegt. In ihrer Abschlussarbeit für den M. Sc. ging sie auf die unterschiedliche Widerstandsfähigkeit verschiedener Weizenarten gegen den Pilz ein.

Im Jahr nach ihrem Abschluss, 1920, erhielt sie das Angebot, eine Forschungsstelle an der University of Saskatchewan in Saskatoon anzutreten. Sie folgte diesem Angebot und erhielt schließlich 1922 eine Assistenzprofessur im Fachbereich Biologie, die sie drei Jahre innehatte. Ebenfalls 1922 promovierte sie an der University of Minnesota in Agrarwissenschaft, mit einer Dissertation über den Getreideschwarzrost. Sie erreichte den Doktortitel in Minnesota zur gleichen Zeit wie die Assistenzprofessur in Saskatoon, indem sie ihre Zeit zu gleichen Teilen auf beide Universitäten verteilte: Sechs Monate arbeitete sie in Minnesota, sechs Monate in Saskatoon.

Weitere Getreideschwarzrost-Epidemien nach 1916, in den Jahren 1919 und 1921, hatten zur Gründung eines Dominion Rust Research Lab (Link Englisch) an der University of Manitoba in Winnipeg geführt. 1925 trat Margaret Newton dort die Stelle als leitende Phytopathologin an und blieb in dieser Postion bis zu ihrer Pensionierung. Sie richtete eine jährliche Untersuchung der kanadischen Weizenbestände auf Getreideschwarzrost in West-Kanada ein und machte dabei die entscheidende Entdeckung, dass der Pilz in verschiedenen „Rassen“ auftrat. Diese Erkenntnis ermöglichte es ihr, die Weizen- und andere Getreidearten zu finden, die gegen die jeweiligen Pilzrassen resistent waren. Sie untersuchte weitere Rostpilze und die Umwelteinflüsse, die bei deren Verbreitung eine Rolle spielten. Insgesamt veröffentlichte Newton 45 Schriften zum Getreideschwarzrost und 11 Forschungsarbeiten. 1929 war sie an der Gründung der Canadian Phytopathological Society beteiligt und begann als Herausgeberin der Zeitschrift Phytopathology dieser Gesellschaft zu arbeiten.

Margaret Newtons Forschung war nicht nur in Kanada, sondern weltweit entscheidend bei der Bekämpfung des Pilzes, denn mit ihren Erkenntnissen konnten weitere wirtschaftliche Schäden weitgehend verhindert werden. In Kanada reduzierte sie die Verluste der Landwirtschaft durch Getreideschwarzrost im Laufe der Zeit auf Null. Aufgrund ihrer internationalen Bekanntheit drängte der russische Botaniker Nikolai Iwanowitsch Wawilow die Regierung der UdSSR dazu, Newton einzuladen, um von ihren Erkenntnissen zu profitieren. Sie verweilte drei Monate in Leningrad, um dort 50 ausgewählte Studenten in der Erforschung der Rostpilze zu unterstützen; in dieser Zeit wurde ihr Einblick gewährt in sämtliche Untersuchungen der Sowjetischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften. Wawilow hatte schon seit 1930 versucht, Newton für eine langfristige Arbeit in Leningrad zu gewinnen, unter anderem mit dem Angebot eines großzügigen Gehalts, jedweder technischer Ausrüstung und einer Kamelkarawane für ihre Reisen.

Die Arbeit mit Pilzen wirkte sich leider nachteilig auf Newtons Gesundheit aus: Sie litt an einer chronischen Atemwegserkrankung, die sich durch ihre Tätigkeit verschlechterte. Bereits 1945 setzte sich die Forscherin zur Ruhe und zog nach Victoria. Kanadische Landwirte forderten daraufhin von der Regierung, ihr dennoch die volle Summe ihrer Pension auszuzahlen, weil sie mit ihren Forschungen dem Staat Millionen an Dollar an Schadensausgleichen erspart hätte. Auch im Ruhestand blieb Newton allerdings aktiv, besuchte weiterhin internationale Konferenzen zu Rostpilzen und deren Bekämpfung. Gleichermaßen beteiligte sie sich an Frauenorganisationen und pflegte ihren Garten.

Vor ihrer Pensionierung wurde sie 1942 noch die zweite weibliche Fellow der Royal Society of Canada, 1948 wurde ihr von dieser Insitution die Flavell Medaille verliehen. Ihre Alma Mater in Minnesota ehrte sie mit einem Outstanding Achievements Award, die in Saskatoon verlieh ihr den Ehrendoktortitel in Jura. An der University of Victoria wurde 1964 ein Studentenwohnheim nach ihr benannt (ein anderer nach Emily Carr).

Newton starb 1971 mit 84 Jahren. 20 Jahre später wurde sie in der Canadian Science and Engineering Hall of Fame aufgenommen, 1997 erhielt sie einen Platz auf der Liste der Personen von nationaler historischer Bedeutung der kanadischen Regierung.

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Ebenfalls diese Woche

22. April 1909: Rita Levi-Montalcini
Über diese Neurobiologin habe ich vergangenes Jahr geschrieben, als sie 110 Jahre alt geworden wäre.

26. April 1836: Erminnie A. Smith (Link Englisch)
Die amerikanische Ethnologin gilt als erste Wissenschaftlerin in ihrem Gebiet. Sie befasste sich mit den Mythen der Irokesen oder Haudenosaunee, wie sie sich selbst bezeichnen.

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