Schlagwort: grenzgängerinnen

KW 26/2013: Aloise Corbaz, 28. Juni 1886

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Aloise Corbaz ist eine Künstlerin der Art Brut oder Outsider Art. In dem Großteil ihres Lebens, den sie wegen Schizophrenie in Psychiatrischen Anstalten verbrachte, zeichnete und malte sie ihre kruden, üppigen und überfüllten Bilder, die durch den Künstler Jean Dubuffet gesammelt und als Werke der Art Brut ausgestellt wurden.

Während schon „gesunde“ Künstler einen ästhetisch-analytischen Blick auf die Gesellschaft haben, in der sie leben, ist es der fast außerirdische Blick auf die Gesellschaft – und die ab-normen (= abweichend von dem, was wir gewohnt sind) Einblicke ins Innenleben – der Art Brut Künstler, der an den Bildern so faszinierend ist. Das Leid, unfreiwillig aus dem Rahmen zu fallen, und die obsessive Notwendigkeit, diesem Leid Ausdruck zu verleihen, ist in diesen Bildern offenbar.

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KW 25/2013: Clara Immerwahr, 21. Juni 1870

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Eine junge Frau macht entgegen dem Zeitgeist und den universitären Traditionen im Jahr 1900 ihren Doktor magna cum laude im Fach Chemie. Dann heiratet sie einen anderen Chemie-Doktoranden, weil sie hofft, in der Ehe mit einem Wissenschaftler den Raum und die Unterstützung zu finden, ihre Forschungen fortzusetzen. Doch stattdessen wird sie in die Rolle der Hausfrau und Mutter gedrängt, darf nur noch für die Karriere ihres Mannes tätig sein, beginnt, an Depressionen zu leiden. Gleichzeitig macht ihr Mann Karriere, weil er im kriegslüsternen Deutschen Reich als Chemiker am Einsatz von Giftgasen forscht. Die junge Frau sieht nicht nur ihr eigenes Leben verschwendet, sie erkennt auch das Erodieren der Moral in der bedingungslosen Forschung an Vernichtungsmethoden. Sie muss feststellen, dass sie als Ehefrau eines zynischen Wissenschaftlers keine eigene Stimme hat, die ernsthaft gehört würde, und gleichzeitig gegen ihren Willen Unterstützung liefert an der massenhaften Tötung von Menschen. Nachdem dank der Forschung ihres Mannes erstmals 5.000 Menschen den Tod gefunden haben und ihr Mann dafür befördert wird, nimmt sie nach einer Feier zu diesem Anlass seine Dienstwaffe, geht in den Garten hinaus, feuert einen Probeschuss in die Luft und setzt schließlich ihrem eigenen Leben mit einem Herzschuss ein Ende. Ihr politischer Protest bleibt ungehört, ihr Selbstmord wird einer depressiven Hysterie zugeschrieben, ihr Name wird fast völlig vergessen. Ihr Ehemann ist mit seinen Forschungen an Tötung und Verletzung mehrerer Tausend Menschen im ersten Weltkrieg beteiligt. Er erhält 1919 trotz Haftbefehls wegen Kriegsverbrechen und Verstoß gegen die Haager Konvention den Nobelpreis, für seine Erkenntnisse über die Gewinnung von Ammoniak aus der Luft, nutzbar als Düngemittel. Er legt, als jüdischer Forscher, auch den Grundstein für die Entwicklung – und steht zeitweise der Gesellschaft als Leiter vor, die daraus in späteren Jahren ein Geschäft macht – von Zyklon B. Mit welchem bald darauf in KZs Millionen von Juden wie Ungeziefer vergast werden.

Clara Immerwahrs Freitod ist ein starkes Symbol für die intellektuelle Unterdrückung der Frau und die Notwendigkeit moralischer Integrität in der Wissenschaft. Ob sie denselben Tod zum gleichen Zeitpunkt gewählt hätte, wenn einer der beiden Aspekte ihrer Motivation nicht gegeben wäre, wer weiß. So jedenfalls wurde sie Jahrzehnte später als Wissenschaftlerin und Humanistin wiederentdeckt.

Im Archiv von Zeit Online findet man eine Rezension zu Gerit von Leitners Buch „Der Fall Clara Immerwahr – Leben für eine humane Wissenschaft“, in der Immerwahrs leben in blumigen Worten beschrieben wird (während die Formulierung „ohne den Furor feministischer Entrüstung“  dem Text leider ein Geschmäckle gibt). Die IPPNW verleiht (jährlich?) die Clara-Immerwahr-Auszeichnung, mit der Menschen gewürdigt werden, die sich entgegen daraus erwachsener persönlicher Nachteile für den Frieden einsetzen.

Bild: By Unknown – S. 127, Public Domain

KW 24/2013: Marion Yorck von Wartenburg, 14. Juni 1904

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Marion Yorck von Wartenburg war als „aktive Mithörerin“ am Attentatversuch gegen Hitler beteiligt und saß dafür in Sippenhaft, während ihr Mann für seine aktive Rolle daran zum Tode verurteilt wurde. Die Juristin war Teil der Opposition im Dritten Reich, eine „gute“ Deutsche.
Und nach dem Krieg machte sie sich als Richterin dafür stark, dass Homosexuellen keine Entschädigung für die unter den Nazis erlittene Verfolgung zugestanden wurde. Sie setzte das Verbot von Homosexualität nach Paragraf 175 (der auch Verkehr mit Tieren umfasste) hart in Urteile gegen Angeklagte um. Sie wurde in der Schwulenszene Berlins bekannt als „Richterin Gnadenlos“ – ließ also andere nicht auf ein Nachlassen faschistischer Diskriminierung hoffen.

Nicht alle waren in der Opposition im Dritten Reich, weil sie mit Hitlers Rassentheorie und seiner Minderheitenverfolgung nicht einverstanden gewesen wären. Manche fürchteten auch nur (zu Recht), dass er das geliebte Vaterland in einen Krieg verwickelte, der nicht gewonnen werden konnte. Kein Freund Hitlers (gewesen) zu sein heißt also mitnichten, kein Nazi zu sein.

KW 23/2013: Ruth "Dr. Ruth" Westheimer, 4. Juni 1928

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Holocaust-Überlebende, Haganah-Scharfschützin, Pychologie-Dozentin, Sexualtherapeutin im amerikanischen Fernsehen. Und dabei sprudelnde Lebensfreude mit hessischem Akzent. Eine noch sympathischere Kombination kann ich mir kaum vorstellen.
Inzwischen hat sie – natürlich – auch ihren eigenen YouTube-Kanal, auf dem sie kurz und knackig eingesendete Zuschauerfragen beantwortet, ganz in der Tradition ihrer Radio- und Fernsehsendung. Ich wünschte fast, ich hätte ein Problem in meinem Sexleben, zu dem ich sie befragen könnte.

Bild: Von Harald Bischoff – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

KW 22/2013: Rachel Carson, 27. Mai 1907

Rachel Carson

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Rachel Carsons Buch The Silent Spring (Der stumme Frühling) gilt als Anfangspunkt für die (amerikanische) Umweltbewegung, da sie sich als Erste mit den damals noch nur vermuteten Folgen der aggressiven Schädlingsbekämpfung mit DDT auseinandersetzte.

Rachel Carson legte sich dabei mit der Chemie-Branche an, die natürlich großes Interesse am weitreichenden und häufigen Einsatz ihrer Pestizide hatte. Als Frau schlug ihr dabei wie üblich noch viel stärkere Skepsis entgegen als es bei einem Mann der Fall gewesen wäre – Hysterie war dabei der Hauptvorwurf, der zum Teil sogar mit ihrem fehlenden Ehemann begründet wurde. Those were the days.

Am Ende ihres Lebens hatte Rachel Carson zwar die Aufmerksamkeit und Anerkennung erreicht, die ihr und ihrem Thema zukam, doch leider standen die meisten Auszeichnungen und Vorträge bereits im Schatten ihrer Krebserkrankung. Es ist ein Glück, dass sie eine so unermüdliche und souveräne Wissenschaftlerin war, dass es ihr vor ihrem Tode gelang, das öffentliche Bewusstsein dafür zu wecken, dass der unbedachte Einsatz chemischer Mittel in der Natur nicht nur unwiderrufliche Schäden in Flora und Faune hinterlässt, sondern auch den Menschen sterbenskrank macht. Das heutige Umweltbewusstsein wäre noch weniger weit ohne sie.

Selbstverständlich gibt es eine eigene Website über sie. Das Silent Spring Institute fragt, ob Carsons Krebs ebenfalls von den kritisierten Chemikalien ausgelöst worden war und erforscht die Zusammenhänge von Umwelt- bzw. Chemie-Einflüssen auf Brustkrebs im Speziellen.

Bild: By The original uploader was Cornischong at Luxembourgish Wikipedia. – Transferred from lb.wikipedia to Commons., Public Domain

KW 21/2013: Lina Ben Mhenni, 22. Mai 1983

Lina Ben Mhenni

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Wenn unsereiner in ihrer aufgeklärten, demokratischen abendländischen Welt ein Blog eröffnet, dann ist der Kampf, den man antreten kann, höchstens der gegen diskriminierende Weltanschauungen, gegen die Medien oder gegen Konzerne im Namen der Nachhaltigkeit, Natürlichkeit oder globalen Fairness. Lina Ben Mhenni eröffnete ihr Blog zunächst aus rein privaten Interessen, im Zuge des arabischen Frühlings wurde es allerdings zu einem wichtigen Instrument im Kampf gegen das Regime.
Das kann ich mir persönlich kaum vorstellen: Wie es sein muss, mit seinem Schreiben bewusst einen Kampf gegen ein festgeschriebenes, reguliertes System anzutreten. Mit seinem Schreiben die Exekutive auf mich aufmerksam zu machen, mich in Gefahr zu schreiben – um Freiheit und Leben. Umso mehr muss ich einer jungen Frau, die entgegen allen Bedrohungen dahin geht, wo die Unterdrückung manifest wird, in die Kampf- und Krisengebiete, Respekt zollen.

Update 2020: Am 27. Januar 2020 starb Ben Mhenni an den Folgen einer Nierenerkrankung, die 2007 eine Transplantation nötig gemacht hatte. Sie wurde nur 36 Jahre alt.

Bild: By Gawaahi.org https://www.youtube.com/user/Gawaahi The interview was conducted by Naveen Naqvi in Bonn, Germany on the sidelines of the DW Global Media Forum 2011. The video was shot by Amina Agha. It was produced and edited by Naveen Naqvi. – CC BY 3.0

KW 20/2013: Marie Smith Jones, 14. Mai 1918

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Mit Marie Smith Jones starb die Sprache der Eyak aus.

Die Geschichte ihres Stammes und ihrer Sprache ist beispielhaft dafür, wie der Kolonialismus Diversität ausgerottet hat, wofür wir bis zum heutigen Tag die Konsequenzen tragen. Nicht, dass ich nicht dafür bin, dass sich die Völker der Erde über „große“ Sprachen auch miteinander verständigen können. Dass allerdings die Sprachen der Minderheiten, das Urtümliche, als minderwertig oder zurückgeblieben verdrängt und unterdrückt werden, ist keine Notwendigkeit, aber leider noch heute allzu oft der Fall.
Dies steht übrigens nicht im Gegensatz zu meiner Überzeugung, dass Sprache sich verändert und mithin nicht „rein“ gehalten werden kann. Wachsen und sich verändern ist der Sprache eigen – das Ausgerottet werden leider eine Bedrohung für Sprachen, der wir nicht viel entgegenzusetzen haben.

Vom Artikel über die Eyak kommt man zu dem interessanten Ritual des Potlatch, das ich aus Northern Exposure kenne – ein extrem anti-kapitalistisches Geschenkefest, in dem zu besonderen Anlässen hemmungslos und überbordend geschenkt wird. Ursprünglich beruhte die Tradition auf dem festen Vertrauen in die Reziprozität, das heißt Verluste des einen beim Potlatch wurden ausgeglichen durch das Potlatch eines anderen. Erst durch den Einzug kaukasischer Siedler und der christlichen Religion, und mit ihr paradoxerweise der kapitalistische Weltanschauung, wurde das Potlatch zu einer Karikatur seiner selbst: Abgesehen davon, dass mit den Siedlern neue Krankheiten kamen und die Anlässe sich häuften, zu denen ein Potlatch veranstaltet wurde (nämlich unter anderem zum Tode eines Häuptlings), begann die jüngere Generation in der Gier nach weltlichem Ruhm, sich okönomisch zu übernehmen, um mit besonders großartigen Potlatches besonders viel Ehre anzuhäufen. Die Reziprozität ging jedoch dabei verloren und die Eyak wurden zum traurigen Beispiel dafür, dass Schenken arm macht.

Seit den 1950er Jahren gibt es Bemühungen, das bis dahin verbotene Ritual wieder im Geiste der Vorfahren zu etablieren.

KW 19/2013: Harriet Quimby, 11. Mai 1875

Harriet QuimbyHarriet Quimby war die erste Frau in Amerika, die einen Flugschein erhielt, und sie war die erste Pilotin, die über den Ärmelkanal flog. Dieser Flug blieb allerdings weitgehend unbeachtet, weil zwei Tage zuvor die Titanic gesunken war.

Warum nach der Autofahrerin nicht auch mal wieder eine Pilotin – die nebenher auch als Journalistin tätig war und mehrere Drehbücher schrieb, die von David W. Griffith verfilmt wurden.

Als Frau, die Amelia Earhart inspirierte und generell den Zeitgeist des beginnenden 20. Jahrhunderts repräsentierte, geht Harriet Quimby noch immer gut als Vorbild für Frauen von heute durch: Einfach machen und nicht nach den Steinen kucken, die einem in den Weg gelegt werden. Bzw. seinen Weg einfach drüber oder drumrum machen.

Women’s History bei about.com widmet ihr eine Biographie. Außerdem ist sie vertreten bei Famous Scientists und Eyewitness to History.

Bild: By George Grantham Bain Collection – Library of CongressCatalog; Image download, Original url, Public Domain

KW 18/2013: Bertha Benz, 3. Mai 1849

Bertha Benz

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Die entzückende junge Dame rechts ist die erste Person, die sich traute, eine Fernfahrt mit dem so genannten Automobil zu machen.

Nachdem ihr Mann Carl Benz das Auto erfunden hatte, fand es nicht so reißenden Absatz wie erhofft – die Menschen trauten dem Gefährt nicht. Also setzte sich Bertha mit ihren zwei Söhnen, ohne das Wissen ihres Mannes, in den Wagen und legte die Strecke zwischen Mannheim und Pforzheim zurück. Sie bewies damit nicht nur die Sicherheit und Bequemlichkeit der Erfindung ihres Mannes – was den Erfolg des Produktes maßgeblich beeinflußte –, sondern vor allem Pioniergeist und Entschlossenheit.

Das sollten wir im Hinterkopf behalten, wenn wir das nächste Mal „Frau am Steuer“ hören (oder sagen…) – Frauen waren das erste Geschlecht am Steuer, und die Fahrt ging ohne Unfälle und Beulen ab. Außerdem bedeutet es, dass das Interesse daran, dass Autos umweltfreundlich fährt und einwandfrei funktionieren, ebenfalls genderunspezifisch sein sollte. Wenigstens den Reifen sollte jeder Mensch, der ein Auto hat, wechseln können. Und es schadet auch Männern nicht, eine Nylonstrumpfhose bei sich zu haben…

Es gibt eine eigene Webseite für die Bertha Benz Memorial Route – von touristischem Interesse. Demgegenüber gibt es auch eine Bertha-Benz-Challenge für nachhaltiges Autofahren. Und schließlich gibt es noch den Bertha-Benz-Preis der Daimler und Benz Stiftung, der jährlich einer jungen Ingenieurin zukommt.

Bild: By Unidentified photographer – Daimler.com, Public Domain

KW 17/2013: Johanna Mestorf, 25. April 1828

Johanna Mestorf

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Johanna Mestorf war die erste (deutsche) Professorin Preußens. Außerdem nahm sie sich der Konservierung und Untersuchung des Danewerks an. Das macht sie gleich in zweifacher Hinsicht zur Grenzgängerin.
Sie prägte unter anderem auch den Begriff Moorleiche, was mich einerseits in meine Jugend entfführt, in der ich panische Angst vor dem Bild des Tollundmannes hatte, das im Wohnzimmer meiner Großtante Oma Tante Käthe hing, und vor dem Grauballe-Mann, der mich in einem Sommerurlaub in Dänemark verfolgte (sogar die verfluchten Brötchen waren nach den ledrig-schwarzen Überresten benannt!). Es bringt mich andererseits aber auch in die Klickschleife, mich über alle verzeichneten Moorleichen schlau zu machen, denn heutzutage pflege ich meine Faszination an konservierten Toten.
Johanna Mestorf ist ein Eintrag auf der Seite der Stadt Kiel und einer auf der Seite der Uni Kiel gewidmet.

Bild: By Unknown – H. Schmidt: Johanna Mestorf. In: Prähistorische Zeitschrift. 1909, Public Domain

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