Tag: 30. April 2012

les lèvres rouges

harry kümel, belgien 1971
die weibliche sexualität ist etwas bedrohliches. soviel ist sicher.
die geschlechterverhältnisse in diesem film sind vielsagend und spannungsreich. beziehungen bestehen zwischen drei frauen und zwei männern, in den unterschiedlichen paarungen von mann und frau, frau und frau, mann und mann werden verschiedene möglichkeiten der sexualität und des gender gezeigt und gegenübergestellt. (ausnahmsweise, weil es in diesem kontext nicht nur anders unmöglich wäre, sondern auch interessant und relevant ist, betrachte ich die männliche hauptfigur mal ebenso genau.)
beginnen wir, chronologisch, mit valerie – eine blonde schönheit, frisch verheiratet mit stefan und spürbar sehnsüchtig nach anerkennung und liebe, ein musterbeispiel für weibliche weichheit. nicht nur von ihm will sie geliebt werden, auch von der schwiegermutter, die er ihr als strenge, repressive übermutter vorgaukelt. noch dazu hat sie  „vergangenheit“, wie es einmal angedeutet wird, ein ebenso schamvolles manko als ehefrau und schwiegertochter wie hinweis auf das potential, für den mann sexuell überwältigend zu sein. stefan hat sie wohl geheiratet, ohne ihn zu lange zu kennen, abgesehen von der körperlichen intimität scheinen die beiden sich noch völlig fremd zu sein. so erfährt sie erst durch die morde an jungen frauen in brügge – in den schlagzeilen der zeitung und bei einer begegnung in brügge an einem neuen tatort – von stefans faszination mit dem tod. was sie nicht weiß, wir aber erfahren: stefans „mutter“ ist sein erfahrener freund, ein älterer mann, mit dem er eigentlich in england zusammenlebt und der aus ersichtlichen, wenn auch auch ganz anderen gründen als eine echte mutter, von der neuigkeit nicht begeistert ist, dass stefan derzeit mit seiner frisch angetrauten in oostende weilt. während stefan also in der beziehung zu valerie seine harte „männliche“ seite auslebt, ist seine existenz in der heimat wohl eher von unterordnung geprägt. sicher nicht zuletzt aus diesem grund kommen im laufe der zeit immer dunklere, aggressivere züge an ihm zum vorschein. stefans wachsende spannung zwischen der geschnupperten morgenluft als macho und der erwarteten demütigung zuhause, ebenso wie die ungeklärte frage, wie er beide seiten, beide leben miteinander vereinen will und kann, bricht sich schließlich in der physischen attacke gegen valerie bahn.
stefan gegenübergestellt haben wir die grande dame des films, elisabeth bathory. eine herbe, fast androgyne frau und – natürlich – als vampirin metaphorischer scheitelpunkt bedrohlicher weiblicher sexualität. zu ihr gehört die stille ilona, die in ihrer fügsamkeit das schwächste glied in dieser erotischen kette darstellt und dementsprechend den starken trieben der beiden dominanten persönlichkeiten unterworfen und zum opfer gemacht wird. in elisabeth bathory und ilona spiegelt sich stefan mithin im extrem, die beiden frauen repräsentieren überdeutlich die persönlichkeiten, die unvereint in ihm schlummern. stilistisch ist dieses wechselspiel wunderschön zu sehen in den roten kleidungsstücken. stefan trägt rot, wenn er mit valerie allein ist – roter bademantel, rote lederjacke -, dies zeichnet ihn als sexuellen aggressor aus. doch in der szene, in der stefan und valerie mit elisabeth im hotel zusammensitzen und elisabeth aktiv beginnt, einfluss auf ihre beziehung zu nehmen, trägt er weiß – elisabeth hingegen ein flammend rotes kleid. sie ist der stärkere aggressor und sie nutzt stefans zwiespältigkeit aus, um ihn und valerie seelisch voneinander zu entfernen: sie zieht in auf ihre seite, schlägt ihn geradezu in bann mit ihren schilderungen der folter, die ihre vorfahrin (oder sie) den jungen mädchen der legende nach hat angedeihen lassen – eine ungemütliche szene für valerie, die bereits von stefans verhalten verunsichert ist. und sie führt ihm ilona gerdazu vor, die für ihn als submissives extrem höchst attraktiv ist, was wiederum seine beziehung zu valerie stört. sie schickt ilona zu ihm, während sie valerie an der abreise hindert, wirft ihm quasi den köder aus, vielleicht sogar berechnend, dass dies ilona das leben kosten kann (die möglichkeit, dass er sich als frauenmörder entpuppen wird, besteht schließlich durchaus). sie ergreift die initiative und dirigiert schließlich sowohl valerie wie auch stefan wie puppen, nachdem ihre beziehung an seinem ausbruch, seinem fremdgehen und seinem „mord“ offensichtlich zerbrochen ist. bereits wenige stunden, nachdem stefan ilona getötet hat, nimmt valerie ganz und gar ihren platz in elisabeths leben ein. stefan ist bereits als das nun schwächste glied dem untergang geweiht, ja, er ist im grunde bereits tot – elisabeth macht daraus keinen hehl, als sie ihn zu ilonas leiche ins grab stößt. seine letzten versuche, an valeries vorherige unterwürfigkeit zu appellieren, helfen ihm nichts, er wird von den beiden frauen verschlungen.
während stefan also noch immer mitten in der selbstfindung steckt und dabei recht planlos agiert, verfolgt elisabeth bathory ihr ziel, valerie zu gefährtin zu machen und stefan auszubluten, mit unerbittlicher genauigkeit. ins allgemein-geschlechtliche übertragen, könnte man sagen: der mann ist selbst in seiner physischen aggressivität noch nicht so stark wie die frau, die ihre sexualität kennt, lebt und einsetzt.
und es ist diese gelebte sexualität, die alle geschicke bestimmt und die vor allem unendlich ist und sich beständig perpetuiert. die schwachen: männer und unterwürfige frauen fallen ihr zum opfer, und wenn die stärkste der starken frauen abtritt, steht bereits die nächste bereit, ihren platz einzunehmen. phallische durchbohrung hin oder her.
wenn man bedenkt, dass ich den film ursprünglich nicht sehen wollte – „erotischer vampirfilm“ reizt mich nicht so sehr, da mein interesse an brüsten sich auf meine eigenen beschränkt – ist es erfreulich, wie anders sich der film tatsächlich darstellt. ein fast eher feministischer vampirfilm.
PS: mein mann hat natürlich auch darüber geschrieben.
PPS: obwohl wir 3 frauen als hauptfigur sehen und nur einen mann, kann auch dieser film den bechdel-test nur mit einem humpeln bestehen. zu großen teilen drehen sich die gespräche der frauen um den einen mann, oder doch zumindest um potentielle geschlechtspartner. ich habe nicht mitnotiert und würde daher das urteil nicht fällen wollen.

KW 18/2012: Martha "Calamity" Jane Cannary Burke, 1. Mai 1852

Martha "Calamity" Jane Cannary Burke

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Martha Jane Cannary übernahm mit 15 die Verantwortung für ihre fünf jüngeren Geschwister, nachdem die Mutter beim Treck nach Westen an Lungenentzündung und der Vater ein Jahr später auf der neu erworbenen Farm ebenfalls verstarb. Um ihre Familie zu unterhalten, nahm sie jede Tätigkeit auf, die sie ergreifen konnte, und setzte sich damit – die Not muss laufen, wenn der Teufel sie antreibt – frühzeitig und ohne Reue über Geschlechterrollen hinweg. Einmal auf die Spur gebracht, war sie dann nicht mehr aufzuhalten.

Dass es für Calamity Jane möglich war, ihren Weg so ganz abseits der gängigen damaligen Frauenbiografien zu gehen, hängt natürlich direkt mit dem Zustand des Landes zusammen, in dem sie lebte. Während in „zivilisierten“ Zonen von Frauen Häuslichkeit und Sittsamkeit erwartet wurden, war es das raue Leben in den noch zu erobernden Gebieten, das neben Gewalt und Ausbeutung auch die Befreiung der Frau aus dem engen Korsett der Geschlechterrollen ermöglichte – wenn auch nur temporär. In einer Gegend, in der es vornehmlich ums Überleben geht, versus die Natur und feindlich gesinnte Ureinwohner, kann eine Gesellschaft es sich nicht leisten, wertvolle Mitglieder aufgrund ihres Geschlechtes am Mitaufbau der Zivilisation zu hindern. Dass sie schlussendlich neben Annie Oakley in Buffalo Bill’s Wild West Show als Kuriosum auftrat, zeigt, wie weit die Erschließung des Wilden Westens bereits fortgeschritten war: eine reitende, schießende und trinkende Frau, die Geschichten vom Eisenbahnbau und ‚I****nerjagd‘ erzählte, das war zwar auch zuvor schon eher die Ausnahme, nun jedoch war sie lebendes Fossil und Symbol einer vergangenen, primitiven Epoche.

Wieviel von ihrem bewegten Leben ihre eigene Erfindung war und wieviel sie tatsächlich erlebt hat, wird wohl nicht mehr zu klären sein. Sicher ist, dass sie in ihrer Jugend schön war und unter anderem auch als Prostituierte gearbeitet hat, später tatsächlich am Eisenbahnbau und an verschiedenen Scharmützeln mit den amerikanischen Ureinwohnern beteiligt war und als alkoholkranke Schaustellerin in Buffalo Bills Wildwest Show ihr Leben beschloss. Ebenso, dass sie eine tragische, wahrscheinlich unerwiderte Liebe zu Pokerspieler und Legende Wild Bill Hickock pflegte. Dies und die Briefe an ihre Tochter, die sie Pflegeeltern überließ, zeigen die weiche, verletzliche, *ähem* „weibliche“ Seite von Calamity Jane. Ihr Lebensweg führt vor Augen, wozu Frauen fähig sein können, wenn die Umstände es zulassen, jedoch auch, welcher Preis dafür bezahlt wird.
Wer sich ein Bild vom Innenleben des Flintenweibs und ihren Lebensumständen machen will, dem sei „Briefe an meine Tochter“ ans Herz gelegt. Ansonsten gibt es im Netz mehrere ebenso lückenhafte wie widersprüchliche Biografien, die alle nicht mehr oder verlässlichere Informationen enthalten als der Wikipedia-Artikel. Um nur eine zu verlinken, hier die bei about.com’s Women History, mit ein paar weiterführenden Links.

Bild: By Unknown – apreslapub.fr – nationalparksociety.com, Public Domain

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