Mila Turajlić (Serbien/Frankreich/Qatar, 2017)
Full Disclosure: Der deutsche Verleih JIP Film und Verleih ist an mich herangetreten und hat mir den Film für diese Rezension zugänglich gemacht; kein weiteres Honorar wurde vereinbart. Der Text spiegelt meine unbeeinflusste Meinung wieder.
Belgrad, 1947: Eine Tür wird abgeschlossen, die Wohnung der bürgerlichen Familie Turajlić in zwei Hälften aufgeteilt, auf Befehl der regierenden Kommunistischen Partei. Die Familie Turajlić lebt von nun an in der einen Hälfte, eine Familie aus dem Proletariat in der anderen. In diesen geteilten Räumen wächst Srbijanka Turajlić auf und auch ihre Tochter Mila, die Regisseurin des Dokumentarfilms. Auf ihrer Seite der Tür durchleben sie die Krisen, Kriege und Bürgerkriege, die Belgrad und Serbien unter seinen unterschiedlichen Namen und Staatsformen nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute nicht zur Ruhe kommen lassen.
Mila Turajlić erzählt sehr persönlich und intim davon, wie Politik ins Private dringt und wie Menschen sich dazu verhalten. Vom dreimaligen Klingeln der alten Freunde, mit dem sie sich noch immer zu erkennen geben, obwohl es den Geheimdienst, der nur einmal klingelte, inzwischen nicht mehr gibt. Vom Blick aus der Wohnung auf brennende Botschaften und Polizeiaufgebote. Und von Volkszählungen, in denen Srbijanka die Antwort auf ihre Nationalität und ihre Religion noch immer verweigert, während die alte Nachbarin, die Proletarierin, sich frei heraus als Serbin und Atheistin vermerken lässt.
In den Bildern, die abgesehen von Nachrichtenbildern sich fast vollständig im Haus der Familie Turajlić oder um es herum bewegen, vollzieht die 37-jährige Regisseurin die Geschichte ihres Landes und ihrer Familie nach. Schon ihr Urgroßvater war bei der Gründung des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen anwesend, wie ein Gemälde beweist, das verschwunden ist und wieder auftaucht. Die Mutter Srbijanka war als Professorin an der Belgrader Universität eine treibende Kraft bei den Demonstrationen gegen Milošević und aktiv in der Organisation Otpor!, die diesen schließlich zu Fall brachte. In Gesprächen, die Mutter und Tochter über mehrere Jahre miteinander und mit Besuchern in der geteilten Wohnung führen, stellen sie sich schwere Fragen: Ist es die Verantwortung der Eltern, in einem repressiven System, überhaupt am Leben zu bleiben, um für die Kinder zu sorgen – oder ist es ihre Verantwortung, gegen das System zu rebellieren und sich selbst zu gefährden? Ist es wichtiger zu bleiben und zu kämpfen oder zu gehen und arbeiten zu können?
Wir können hier in Deutschland vom Glück sprechen, seit dem Zweiten Weltkrieg eine politisch (verhältnismäßig) ruhige und wirtschaftlich (verhältnismäßig) sichere Zeit erlebt zu haben. Erschütternd im Gegensatz dazu, wie Srbijanka erzählt, dass sie 1996 aufgrund der Inflation nicht mehr genug Geld hatte, um ihre Familie für die nächste Woche zu ernähren – und in den Supermärkten auch gar nichts mehr vorhanden war, was sie hätte kaufen können. Dass in einem jetzt europäischen Land zu dem Zeitpunkt, als ich Abitur machte, Eltern entscheiden mussten, nichts zu essen, damit ihre Kinder (Mila Turajlić ist zwei Jahre jünger als ich) nicht hungern müssen. Doch trotz dieser entscheidenden Unterschiede, die die geografische Nähe der unserer Länder Lügen strafen, hat Mila Turajlićs Film auch für das deutsche Publikum höchste Relevanz. Auch in unseren Familien sind die Folgen eines totalitären Regimes noch spürbar, liegt es doch für einige nur zwei, höchstens drei Generationen zurück – für andere noch weniger. Und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit oder deren Verweigerung bestimmt auch in unserem Land noch immer, wohin sich Politik und Gesellschaft entwickeln.
Die Frage, ob wir auf die Straße gehen, um uns für das einzusetzen, was wir für richtig halten, müssen wir uns leider heute auch wieder wieder stellen. Srbijanka Turajlić hat in ihrem Leben reichlich gekämpft und ist müde, resigniert; sie fragt ihre Tochter, ob diese es in sich spürt, den Kampf fortzusetzen. Doch die Räume sind schon so lange getrennt, dass niemand so recht weiß, wie sie noch wieder betreten werden können, selbst, wenn die Türen geöffnet werden.
Der Film hinterlässt diese Unsicherheit, zwischen Hoffnung und Resignation; er bindet die beiden Frauen, Mutter und Tochter, ein in die Geschichte, die vor ihnen begann und nach ihnen weitergeht, ohne zu einem Schluss zu kommen, wie sehr sie den Lauf der Dinge beeinflussen können. Er lässt mich berührt zurück, ein wenig beschämt darüber, wie wenig ich über all das wusste, bewegt vom Mut und Entschlossenheit der Hauptfigur und ihrer Familie.
„Die andere Seite von Allem“ erhielt bereits zahlreiche internationale Filmpreise und läuft ab heute in ausgewählten Kinos. Die Termine können auf der Seite des Verleihs abgerufen werden.